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Zensur made in Germany: Was darf man eigentlich noch sagen?


Tagesanbruch
Zensur made in Germany

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 07.07.2022Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Demonstration gegen den Vortrag einer Biologin an der Humboldt-Universität Berlin.Vergrößern des Bildes
Demonstration gegen den Vortrag einer Biologin an der Humboldt-Universität Berlin. (Quelle: Christophe Gateau/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

kommen wir heute zu etwas völlig anderem: der Frage nämlich, ob man Dinge beim Namen nennen darf oder nicht. Anders ausgedrückt: ob eine Birne eine Birne ist oder vielleicht doch eher ein Apfel. Und ob man das heutzutage noch laut sagen darf. Oh, Sie finden, das ist zu kompliziert am frühen Morgen? Dann folgen Sie mir bitte für einen Augenblick in den famosen Film "Pappa ante Portas" des famosen Komikers Loriot, denn dort gibt es die vielsagende Szene eines Paares am Esstisch:

Er: "Was is'n das?"

Sie: "Birne Helene."

Er: "Das is' aber 'n Apfel..."

Sie: "Mit Schokoladensoße."

Er: "Dann ist es keine Birne Helene, sondern ein Apfel Helene."

Sie: "Das gibt‘s überhaupt nicht."

Er: "Ein Apfel ist ein Apfel und eine Birne ist eine Birne!"

Sie: "Lass es stehen, wenn's dir nicht schmeckt."

Er: "Es schmeckt mir ja."

Sie: "Dann iss es doch!"

Er: "Ich esse es ja, aber nicht unter falschem Namen!"

Nur Klamauk aus einer harmlosen Filmkomödie, meinen Sie? Mitnichten, entgegne ich. Der große Humorist Loriot hält uns mit dieser kleinen Szene den Spiegel vor – und elf Jahre nach seinem Ableben können wir mehr daraus lernen als aus jeder Uni-Vorlesung.

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Moment, Uni-Vorlesung? Genau, da war doch was: Der Fall an der Berliner Humboldt-Universität hat bundesweit Wellen geschlagen. Eine Handvoll linker Aktivisten hat dort gegen eine Wissenschaftlerin agitiert, die darüber referieren wollte, dass es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt. Der Universitätspräsident knickte ein und ließ den Vortrag absagen. Als es deshalb Kritik aus Politik und Medien hagelte, kündigte die Universitätsleitung hastig an, den Vortrag nachzuholen. Vordergründig ein kleiner Vorgang, beim genaueren Hinsehen jedoch Ausdruck einer bedenklichen Tendenz in akademischen Kreisen deutscher Großstädte.

Schenkt man den Aktivisten Gehör, was meine Kollegin Antje Hildebrandt in einem Interview getan hat, erfährt man, wie unerbittlich diese Leute ihre Agenda durchsetzen und Andersdenkende ausgrenzen wollen. In Amerika nennt man das Phänomen "Cancel culture", dort vergiftet es die gesellschaftlichen Debatten und befeuert den Kulturkampf zwischen Linken und Rechten: Bestimmte Positionen werden als diskriminierend gebrandmarkt, weshalb man versucht, ihre Vertreter zu diskreditieren und sozial auszugrenzen.

Dabei kennt der Furor der Eiferer keine Grenzen. Auch ein Fall in der süddeutschen Kleinstadt Tübingen sorgt gegenwärtig für Schlagzeilen: Dort verlangt ein Häufchen linker Aktivisten die Umbenennung der Universität, weil deren Namensgeber Graf Eberhard im Bart – wohlgemerkt: der Mann lebte im 15. Jahrhundert – ein Antisemit gewesen sei (was sich bei näherem Hinsehen als zweifelhaft erweist). Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, selbst ein Freund scharfer Polemik, wettert gegen die "woke Cancel Culture". Mittlerweile befassen sich sogar Wissenschaftler mit dem Phänomen der "Cancel Culture" und untersuchen, in welchem Ausmaß diese die Meinungsfreiheit bedroht.

Denn darum geht es im Kern: um die Unfähigkeit, einander zuzuhören und andere Sichtweisen zu tolerieren. Das ursprüngliche vernünftige Anliegen, Rassismus und Diskriminierung in der Sprache zu unterbinden (indem man beispielsweise dunkelhäutige Menschen nicht mit Schimpfworten tituliert), ist in einen absurden Zensurwahn ausgeartet. Paradox dabei: Einerseits fordern die Aktivisten möglichst große Diversität in Lebensstilen, Weltanschauungen und sexuellen Orientierungen. Andererseits grenzen sie andere Haltungen als ihre eigenen kategorisch aus. So wird der Hörsaal zum Verhörraum und das Internet zur Echokammer der Extremisten.

In Zeiten zunehmender Erregung über die allgegenwärtigen Krisen ist diese Entwicklung besorgniserregend. Wenn wir beginnen, einander den Mund zu verbieten, statt respektvoll miteinander zu streiten, bröckelt der gesellschaftliche Konsens. Jeder lebt in seiner eigenen Wirklichkeit, das ist schon klar. Aber jeder sollte bereit sein, die Wirklichkeiten der Mitmenschen zu akzeptieren, über sie zu diskutieren und Kompromisse auszuloten. Und wo kein Kompromiss möglich ist, muss man unterschiedliche Ansichten halt einfach mal aushalten. Selbst wenn eine Birne dann manchmal als Apfel daherkommt.


Was steht an?

Die Ampelkoalition will im Bundestag wichtige Gesetze beschließen: den schnelleren Ausbau von Windkraftanlagen und Solaranlagen, zugleich aber auch längere Laufzeiten für klimaschädliche Kohlekraftwerke, außerdem die Möglichkeit virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und einfachere Bestellprozesse für die Bundeswehr. Zum chaotischen Abzug aus Afghanistan soll ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden. Anschließend debattiert das Parlament über den Antisemitismus-Skandal auf der Kunstausstellung "documenta". Am Abend stellt sich Bundeskanzler Olaf Scholz in der ZDF-Talkshow von Maybrit Illner einigen Bürgerfragen.


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In Genf stellen die Experten des UN-Entwicklungsprogramms einen Plan vor, wie die Hungersnot in Ostafrika und Teilen Asiens gelindert werden könnte. Hoffentlich hören viele Regierungschefs zu.


Die Präsidenten Polens und Litauens bereisen die polnische und litauische Grenzregion zur russischen Exklave Kaliningrad. Sie besichtigen einen mobilen Gefechtsstand der Multinationalen Division Nord-Ost im polnischen Szypliszki und anschließend eine militärische Einrichtung im litauischen Marijampole. Putin hat den beiden Nato-Ländern wiederholt gedroht.


In Berlin stellt der ehemalige DDR-Staatschef Egon Krenz den ersten Teil seiner Autobiografie ... ach nein, das ist kein wichtiges Thema.


Das dagegen schon: In München wird der erste Teil des neuen Deutschen Museums eröffnet. Mit 20 Schauen auf 20.000 Quadratmetern ist es die größte Ausstellungseröffnung des Museums seit 1925.


Was lesen?

Früher war Hawaii ein Königreich und seine letzte Königin war …


Ein Drittel aller Bürger fühlt sich von der Politik missachtet. Was diese Menschen denken, dokumentiert eine Studie, über die die "Zeit" berichtet.


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Was amüsiert mich?

Boris Johnson geht unbeirrt seinen Weg.

Ich wünsche Ihnen einen unfallfreien Tag. Morgen schreibt Camilla Kohrs für Sie, der Tagesanbruch am Wochenende muss leider entfallen. Am Montag meldet sich unser Washington-Korrespondent Bastian Brauns bei Ihnen, am Dienstag bin ich dann wieder da.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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