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Regierungskrise in Großbritannien: Ein Königreich in Scherben


Tagesanbruch
Ein Königreich in Scherben

MeinungVon Camilla Kohrs

Aktualisiert am 08.07.2022Lesedauer: 6 Min.
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Boris Johnson (Archivbild): Kurz und schmerzlos ist sein Abschied nicht.Vergrößern des Bildes
Boris Johnson (Archivbild): Kurz und schmerzlos ist sein Abschied nicht. (Quelle: Leon Neal/WPA Pool/getty-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wem vertrauen Sie? Ich gebe zu, das ist eine sehr persönliche Frage, zumal so früh am Tag. Doch lohnt es, sich das ab und an selbst zu fragen. Vertraue ich meinem Partner? Meinen Kindern? Meinem Finanzberater? Denn Vertrauen, so abstrakt und subjektiv es als Gefühl sein mag, ist in unserem Alltag entscheidend. Auf dieser Basis treffen wir Entscheidungen, oder lassen gar Entscheidungen für uns treffen.

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Vor allem Politiker leben von diesem Vertrauen. Sie werden mit einem Vorschuss ins Amt gewählt, müssen dann beweisen, dass sie diesen auch verdient haben – sonst strafen sie sinkende Umfragewerte ab. Vertrauen ist eine wichtige Währung, das weiß jeder Politiker. Möchte man zumindest meinen.

Denn was sich in diesen Tagen und auch in den letzten Monaten in Großbritannien abgespielt hat, lässt an dieser Gewissheit zweifeln. Da hangelte sich Premierminister Boris Johnson von Skandal zu Skandal: Mal waren es goldene Tapeten in seiner Dienstwohnung, die er sich von einem Parteispender bezahlen lassen wollte und die nach kurzer Zeit wieder von den Wänden fielen. Mal waren es Partys, die er feierte, während sich sein Land in einem Corona-Lockdown befand. Und zuletzt war es nun die Beförderung eines Tory-Politikers, der andere Männer sexuell belästigte – und dem Johnson, obwohl er davon wusste, ein wichtiges Parteiamt anvertraute. Zu allem Überfluss versuchte er sich aus jedem dieser Vorfälle mit Lügen herauszuwinden, bis die Beweislast übermächtig wurde. Wenn Sie die Einzelheiten interessieren: Meine Kollegin Sonja Eichert hat diese und weitere Skandale für Sie aufgeschrieben.

Anders als bei politischen Entscheidungen, die die einen für richtig und die anderen für falsch halten, sollte es doch in dieser Frage Konsens geben: Wer sich so offensichtlich über geltendes Recht hinwegsetzt, sich über den Dingen schweben sieht, der ist nicht geeignet, ein Land zu regieren.

Doch diese Einsicht kam bei Johnson nicht einmal, nachdem er in einer Art politischer Treibjagd von seiner Partei zu einer Rücktrittsankündigung gezwungen wurde. Über Stunden setzten ihn seine Regierungsmitglieder mit zahlreichen Rücktritten unter Druck, eine Gruppe verbleibender Minister stellte ihm schließlich das finale Ultimatum: Entweder du gehst oder wir.

Video | Boris Johnson verkündet Rückzug
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Quelle: t-online

Gestern Mittag dann also trat Johnson vor seinen Amtssitz: "Ich möchte, dass Sie wissen, wie traurig ich bin, den besten Job der Welt aufzugeben", sagte er begleitet vom Klatschen seiner Angestellten und Buhrufen von Demonstranten. Worte der Reue fand er nicht. Dass er nun seinen Rücktritt verkünde, sei der exzentrische Wille seiner Partei. Und die empfindet er als undankbar: Schließlich holte er bei der Wahl Ende 2019 eine deutliche Mehrheit für die Konservativen. Wer von euch, soll er seine Parteikollegen gefragt haben, soll das denn schaffen?

Das ist eine interessante Aussage, weil Johnson sowohl recht als auch unrecht hat. Recht, weil Beobachter keinem seiner möglichen Nachfolger das nötige Format zurechnen. Unrecht, weil auch Johnson das Vertrauen der Wähler verspielt hat. Rund 70 Prozent der Briten werten seine Arbeit als schlecht, fast genauso viele wünschten sich in einer Umfrage dieser Woche, der Premier möge endlich seinen Hut nehmen. Doch womöglich ist Johnson auch das egal: "Er regierte ohne Rücksicht auf Verluste, immer auf den eigenen Vorteil bedacht, aber nie im Sinne der britischen Bevölkerung", schrieb mein Kollege David Schafbuch gestern nach seiner Rücktrittsankündigung.

Zurück lässt er ein Königreich, das einem Scherbenhaufen gleicht. Denn während in London die goldene Tapete von den Wänden fällt, explodiert im Land die Armut. In einer Umfrage der Organisation "Action for Children" unter arbeitenden Eltern gaben kürzlich 30 Prozent an, auf manche Mahlzeiten zu verzichten. Andere ersetzen warmes Essen häufiger mal durch Frühstücksflocken. 2,4 Millionen Menschen essen teilweise über einen ganzen Tag nichts. Ökonomen warnen davor, dass sich aus dieser sozialen Krise auch eine Gesundheitskrise entwickeln wird. Allein Johnsons Schuld ist das nicht, bereits vor seinem Amtsantritt lag die Armut auf einem hohen Niveau. Die Tendenz aber ist steigend. Das ist einerseits eine Folge der Pandemie, des Brexits und der aktuellen Preisanstiege. Doch waren Johnson und seine Regierung auch nicht willens, dieses Problem anzugehen.

Als Symbol seines Desinteresses gelten die Lebensmittelpakete für Familien während des Corona-Lockdowns. Normalerweise erhalten besonders bedürftige Kinder einen Essensgutschein im Wert von 30 Pfund, den sie in ihren Schulen einlösen können. Da aber die Schulen geschlossen waren, beschloss die Regierung, Pakete an besonders arme Familien zu schicken. Die Inhalte unterschieden sich zwar leicht, aber hier ein Beispiel, über das die BBC damals berichtete: ein Brot mit Käsescheiben, eine Dose Bohnen, Nudeln, drei Äpfel, zwei Bananen, zwei Karotten, zwei Kartoffeln und fünf Süßigkeitenriegel. Das sollte reichen, damit eine behinderte Mutter ihr Kind eine Woche gesund ernähren kann. Der Wert: unter zehn Pfund.

Für die jetzige Krise hatte Johnson eine andere Antwort gefunden: Wirtschaftswachstum. Hunderttausende "neue, hoch bezahlte, hoch qualifizierte Jobs" sollen in Großbritannien entstehen. Woher die in der aktuellen Krise kommen sollen, weiß wohl der Premier selbst nicht. Zwar ist die Arbeitslosenquote auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten und es gibt viele offene Jobangebote, wodurch wiederum die Löhne steigen. Mit den Preissteigerungen jedoch halten sie nicht Schritt. Zudem krankt die Wirtschaft – und wird es wohl noch länger tun, folgt man der Bank of England. Großbritannien werde vom Abschwung der Weltwirtschaft stärker und länger betroffen sein als andere Industrienationen, teilte die Zentralbank des Vereinigten Königreichs gestern mit.

Wie sehr sich die Regierung von der Bevölkerung entkoppelt hat, zeigt eine Umfrage des Instituts Yougov von vor einigen Monaten: Mehr als 60 Prozent denken, dass Politiker vorrangig für sich selbst handeln, etwas weniger als 20 Prozent glauben, sie handelten vor allem für ihre Partei. Und nur fünf Prozent sind der Meinung, dass die britischen Politiker dem Land die höchste Priorität einräumen.

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Nicht nur in der Bevölkerung, auch bei den Regierungen der Landesteile hat die britische Regierung schon längst an Vertrauen eingebüßt. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon betonte nach Johnsons Rücktrittsankündigung ihre Forderung nach einem Unabhängigkeitsreferendum. Und auch in Nordirland werden die Fliehkräfte stärker. Im Mai wurde dort erstmals die irisch-nationalistische Partei Sinn Féin stärkste Kraft. Ihr Ziel: Ein Referendum über die Wiedervereinigung mit dem EU-Staat Irland, am besten in den nächsten fünf Jahren. Dafür gibt es zwar keine Mehrheit. In Belfast aber kalkuliert man offenbar damit, dass das Unvermögen der britischen Regierung und die Brexit-Folgen dafür sorgen werden.

Sturgeon nutzte gestern die Chance für eine Generalabrechnung. Schottland brauche eine Alternative zum "kaputten Westminster-System", unabhängig davon, wer auf Johnson folge, betonte sie und – als wäre das noch nicht deutlich genug – fügte hinzu: "Schottland würde niemanden dieser Leute als Premier wollen."

"Diese Leute" – das sind nicht nur ungewöhnlich abwertende Worte für eine Regierungschefin. Es zeigt auch, wie nachhaltig das Vertrauen im einstmals stolzen Königreich erodiert ist.


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Camilla Kohrs
Redakteurin Politik/Panorama
Twitter: @cckohrs

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Mit Material von dpa.

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