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Erdgas-Lieferung als Waffe: Putins perfider Schachzug


Tagesanbruch
Putins perfider Schachzug

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 21.07.2022Lesedauer: 5 Min.
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Wladimir Putin kann den Westen weiter erpressen.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin kann den Westen weiter erpressen. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

kommt alles nur halb so schlimm? Kein Szenario war in den vergangenen Tagen zu wild, um es genüsslich an die Wand zu malen: Politiker und Journalisten überboten sich mit apokalyptischen Prophezeiungen, was den Menschen hierzulande alles drohe, wenn Wladimir Putin an diesem Donnerstag den Gashahn nicht wieder aufdrehe. Von einem "Hungerwinter" wurde geraunt, mindestens aber von kalten Wohnzimmern und einem beispiellosen Wohlstandsverlust.

Im Vergleich zur Größe der Schreckensbotschaften kam die Meldung gestern ziemlich klein daher: Nach dem Ende der Routinewartung soll ab heute wieder Erdgas durch die Pipeline Nord Stream 1 fließen – womöglich nur ein Drittel der maximal möglichen Menge, aber immerhin. Heute Morgen kam dann auch schon die Bestätigung: Die Gaslieferungen sind wieder angelaufen.

Nun kann man sagen: Geschickt eingefädelt von Putin, in perfider Geheimdienstmanier lässt er uns zappeln. Indem er uns ein bisschen Gas liefert, behält er das wichtigste Druckmittel zur Erpressung des Westens in der Hand – so kann er den Hahn je nach Kriegslage mal weiter auf- oder wieder zudrehen. Und der Winter kommt ja erst noch; wenn die "Gaswaffe" am effektivsten wirkt. Ja, so kann man das sehen und läge damit sicher nicht falsch.

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Zugleich lässt sich aber feststellen: Die schrille Aufregung, mit der hierzulande Horrorszenarien gezeichnet wurden, hat niemandem geholfen – außer Putin. Der russische Diktator muss uns gar nicht mehr Angst einjagen. Das machen wir schon selbst. Und spielen so genau das Spiel mit, das Putin mit uns spielen will. Verunsicherung, Selbstbezichtigung und Zwietracht sind die giftigen Früchte der Samen, die Putin im Westen sät. Er hält uns das Stöckchen hin, und wir springen drüber, hopp, hopp, bis wir irgendwann auf die Nase fallen und im Schlamassel landen.

So weit sollten wir es nicht kommen lassen. Sicher, es kann noch bitter werden. Der Krieg in der Ukraine ist grauenhaft für die Ukrainer. Im Vergleich zum dortigen Leid erscheinen die Folgen für die Menschen in Deutschland verkraftbar – aber manche treffen sie auch hierzulande hart. Wer schon jetzt jeden Euro zweimal umdreht, mag vor der nächsten Gasrechnung zittern. Dennoch ist es heute an der Zeit, jenen Entscheidern Anerkennung zu zollen, die in Krisenzeiten einen kühlen Kopf bewahren und eben nicht über jedes Stöckchen springen.

Olaf Scholz ist so einer. Der Kanzler musste in den vergangenen Wochen viel Kritik einstecken, auch von t-online. Seine oftmals hölzerne Kommunikation und seine bisweilen demonstrative Überheblichkeit wirken fehl am Platz. Man kann ihm aber zugutehalten, dass er seine Entscheidungen in riskanten Situationen abwägt, während andere lauthals die nächstbeste Lösung einfordern. Dass er versucht, die Dinge vom Ende her zu denken, während andere Politiker und auch viele Journalisten immer nur das Heute sehen. Und dass er sich vor allem nicht vom Geschrei der Weltuntergangsrufer seine Besonnenheit nehmen lässt.

Auch Mario Draghi ist so einer. Der gestrige Auftritt des italienischen Ministerpräsidenten im Römer Parlament war eine Sternstunde kluger Machtpolitik. "Es war eine typische Draghi-Rede: verbindlich bis freundlich im Ton, in der Sache glasklar und beinhart", schreibt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". 38 Minuten reichten ihm, um überzeugend zu erläutern, warum das Land jetzt Stabilität braucht und warum er sie garantieren kann. Nach einer verlorenen Vertrauensabstimmung steht seine Regierung zwar vor dem Aus – doch bei Neuwahlen dürfte ihm großer Zuspruch sicher sein. Sieht man sich das Theater um den Clown Boris Johnson in Großbritannien, den mit brachialen Mitteln um seine Macht kämpfenden Autokraten Viktor Orbán in Ungarn oder den eitlen, aber seines Einflusses beraubten französischen Präsidenten Emmanuel Macron an, wünscht man sich, dass es in Europa mehr Chefs vom Schlage eines Scholz und eines Draghi gäbe. Es ist ein offenes Geheimnis, dass in Krisenzeiten Standfestigkeit und Berechenbarkeit mehr zählen als fesche Auftritte und große Visionen.

"Scholz fliegt nicht im Privatjet und hat sicherlich weniger glamourös geheiratet als Christian Lindner", schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl. "Vorschlag: Seien wir mit unserem Bundeskanzler zufrieden. Deutschland hat ihm eine Chance gegeben, und er meistert sie unter schwierigsten historischen Umständen. Hoffentlich bleibt ihm Mario Draghi erhalten, und vielleicht trifft er demnächst auf einen britischen Premierminister, der weniger Faxen macht als Boris Johnson. Europa hätte was davon."

Ja, so kann man das sehen.


Was steht an?

Die Europäische Zentralbank hat großen Einfluss auf das Krisenmanagement. Auf ihrer heutigen Sitzung wird sie wohl den Leitzins im Euroraum anheben – zum ersten Mal seit elf Jahren. Angesichts der galoppierenden Inflation ist es höchste Zeit.


In Brasilien wird der linke Ex-Präsident Lula zum Präsidentschaftskandidaten der Arbeiterpartei für die Wahl am 2. Oktober ernannt. Er will den Hunger bekämpfen und versuchen, den Rechtsextremisten Jair Bolsonaro aus dem Amt zu vertreiben.


Im krisengeschüttelten Sri Lanka wird Ranil Wickremesinghe als neuer Präsident vereidigt. Sein Vorgänger war nach Massenprotesten gegen seine chaotische Regierungsführung ins Ausland geflohen. "Folgt Sri Lankas Niedergang dem Bankrott des Libanon und Haitis, gilt schon als ausgemacht, dass viele Länder des globalen Südens ähnlichen Zusammenbrüchen entgegengehen", schreibt die Hilfsorganisation Medico.


US-Präsident Joe Biden hält in Wilkes-Barre in Pennsylvania eine Ansprache zur Waffengewalt. In dem Ort hatte 1982 ein Schütze das Feuer eröffnet und 13 Menschen getötet. Nach den jüngsten Amokläufen im Land hat Biden ein neues Gesetz gegen Schusswaffengewalt in Kraft gesetzt. Beobachter halten es für zu lasch.


In Genf berät der Notfallausschuss der Weltgesundheitsorganisation über die Häufung der weltweiten Affenpockenfälle. Er kann empfehlen, eine "gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite" zu erklären – die höchste Alarmstufe der WHO. In Berlin gibt es besonders viele Fälle.


Und doch noch eine gute Nachricht: Nach der Hitzewelle kühlt es heute vielerorts in Deutschland ab. Hier erfahren Sie das Wetter an Ihrem Wohnort.

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Noch versuchen SPD und Grüne, ein Comeback der Atomkraft zu verhindern. Halten sie das durch? Unsere Reporter Johannes Bebermeier und Tim Kummert haben den neuesten Stand.


Europa ächzt unter der Hitzewelle. Doch dass überall Wälder brennen, liegt an einem anderen Phänomen, berichtet meine Kollegin Camilla Kohrs.


Was amüsiert mich?

Die Corona-Politik ist mal wieder super nachvollziehbar.

Ich wünsche Ihnen einen gut informierten Tag. Morgen schreibt Johannes Bebermeier den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Samstag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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