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Ukraine-Krieg | Europa erfindet sich neu: Die Sternstunde dieses Sommers


Tagesanbruch
Die Sternstunde dieses Sommers

MeinungVon Tim Kummert

Aktualisiert am 28.07.2022Lesedauer: 6 Min.
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Allein vor den Fahnen: Kanzler Olaf Scholz beim Europäischen Rat in Brüssel.Vergrößern des Bildes
Allein vor den Fahnen: Kanzler Olaf Scholz beim Europäischen Rat in Brüssel. (Quelle: Belga/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

mein Name ist Tim Kummert, ich bin Politischer Reporter im Hauptstadtbüro von t-online. Heute kommentiere ich stellvertretend für Florian Harms für Sie die Themen des Tages.

Man darf sich Wladimir Putin in diesen Tagen als zufriedenen Menschen vorstellen. Kaum entscheidet der Kremlherrscher, weniger Gas durch die Pipeline Nord Stream 1 strömen zu lassen, wackeln die Gewissheiten in der Bundesrepublik: Und wenn wir uns das noch mal überlegen mit der Atomkraft? Wie wird unser Land eigentlich künftig versorgt?

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Aus Frankreich heißt es schon: Von uns kommt eher nichts, unseren Atomstrom brauchen wir selbst. Österreich stimmt ein: Das Gas, das wir bislang aus einem Speicher nach Bayern geliefert haben, bleibt bei uns. Immerhin: Der frisch beschlossene Gas-Notfallplan der EU sieht vor, dass ein Sparzwang verhängt werden kann (für den es diverse Ausnahmeregelungen gibt). Diese Einigung ist zwar nicht selbstverständlich. Ein Plan über eine konkrete gegenseitige Unterstützung ist sie aber auch nicht.

Europa döst. Es begegnet der aktuellen Krise wie den bisherigen auch, die Länder denken an sich selbst. Der Plan scheint zu sein: Ob Gas, ob Strom – jeder friert für sich allein. Man kann fast bis nach Berlin hören, wie sich der russische Herrscher ins Fäustchen kichert.

Dabei dürfte der Herbst dramatisch werden: Corona könnte mit Macht zurückkommen. Die Heizkosten werden explodieren. Das Leben wird wohl noch teurer. Und niemand weiß, was Putin als Nächstes tut. Die Bundesregierung schnürt derweil ein Entlastungspaket nach dem anderen. Das reicht nicht. So rennen wir mit Anlauf ins Messer.

Gleichzeitig öffnet sich in diesem Sommer ein Fenster. Es ist das Fenster für eine Neuerfindung des Kontinents im Angesicht der Bedrohung. Die Stunde Null für Europa.

Dabei geht es nicht um pathetische Reden zur Reform der EU, sondern um pragmatische Bündnisse unabhängig vom Staatenbund. Um Abkommen, mit denen man sich auf mehreren Ebenen gegenseitig schützt. Deutschland könnte dabei seiner Verantwortung endlich gerecht werden. Es wäre an der Bundesregierung und an Olaf Scholz, eine Allianz zu schmieden, die Wladimir Putin die Stirn bieten kann.

Dafür käme zunächst unser direkter westlicher Nachbar infrage. Die Franzosen wollen ihren Atomstrom zwar im Moment behalten. Doch in Paris sitzt glücklicherweise einer, der nur auf mehr Zusammenarbeit wartet. Emmanuel Macron wollte schon 2017 die EU neu erfinden, mehr Solidarität etablieren. Die Antwort von Angela Merkel damals lautete sinngemäß: "Was, Emmanuel? Solidarität? Hm. Joa, wir schauen mal und entscheiden dann."

Merkel war mit ihrer Zurückhaltung nicht allein. In der Bundesrepublik ist die "Joa, wir schauen mal und entscheiden dann"-Haltung populär. Jüngstes Beispiel: die Corona-Maßnahmen der vergangenen Jahre. Mit dieser Wurschtigkeit muss es vorbei sein. Olaf Scholz rennt, wenn er denn will, eine offene Tür im Élysée-Palast ein.

Dann ist da Italien. Die Regierung von Premierminister Mario Draghi ist in den vergangenen Tagen zerbrochen, das Land steht vor einer Neuaufstellung. Zwar werden die Populisten im Süden bei der Parlamentswahl Ende September versuchen, das Land nach rechts zu rücken. Ob ihnen das gelingt oder doch die Sozialdemokraten siegen, ist noch offen. Etwa 40 Prozent der Italiener wissen noch gar nicht, wen sie wählen wollen. Vor allem aber ist die entstehende Lücke auch eine Chance, eine neue Regierung von vornherein bei der Allianz des Kontinents einzubinden.

Mit diesen zwei Ländern, von denen sich eines neu ausrichtet und eines ohnehin proeuropäisch geführt ist, ließe sich ein Anfang machen. Andere Staaten auf dem Kontinent könnten dann sukzessive folgen. Wann, wenn nicht jetzt in dieser Krise? Und: Wer kann das anstoßen, wenn nicht Olaf Scholz?

Die Bundesrepublik ist das mächtigste und bevölkerungsreichste Land auf dem europäischen Kontinent. Da darf es keine Hasenfüßigkeit geben. Friedrich Merz führt gerade in Polen vor, wie man sich international besser vernetzt. Olaf Scholz könnte endlich selbst handeln.

Möglichkeiten für die Kooperation gibt es viele. Wer hilft eigentlich wem in wenigen Wochen, wenn es knapp wird? Unterstützt Deutschland dann Frankreich mit Energie? Und hilft Frankreich dafür wiederum vielleicht Italien mit Strom? Am Mittwochabend geisterten Meldungen durch die Nachrichten, dass Frankreich eventuell Deutschland mit Gas unterstützen könnte im Winter. All das lässt sich jetzt mit klaren Verträgen regeln. Wer einen Anfang macht, dem folgen schnell weitere Partner.

Wie steht es um eine europäische Armee? Die Bundesregierung pumpt einerseits 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr. Warum baut sie andererseits nicht gemeinsam mit den anderen Staaten an einer europäischen Streitmacht? Diese Idee ist so alt wie die EU, jetzt ist sie aktueller denn je. Jedes einzelne Land würde das nur einen Bruchteil des eigenen Wehretats kosten. Aber die Schlagkräftigkeit des Staatenbündnisses merklich erhöhen.

Zudem braucht es Absprachen beim Geld: Schon jetzt fürchten manche Ökonomen eine weitere Vergemeinschaftung von europäischen Schulden. Es gibt bislang keinen klaren Plan, wie das im Herbst und Winter werden soll, wenn auch weniger solvente Länder als Deutschland mit Hilfspaketen ihre Bevölkerungen unterstützen wollen. Wer zahlt wann wem wie viel?

Und dann gibt es ja noch Großbritannien: Aus der EU sind die Briten zwar ausgeschieden, doch angesichts von Putins Bedrohung könnten sie wieder zum Partner werden, auf andere Art als Italien und Frankreich. Mit beiden Favoriten für die Nachfolge von Boris Johnson, Ex-Finanzminister Rishi Sunak und Außenministerin Liz Truss lässt sich wohl nachhaltiger verhandeln als mit dem blonden Populisten. Dass es keine allzu gute Idee ist, sich vollständig von der europäischen Staatengemeinschaft abzunabeln, dürfte beiden gedämmert haben.

Großbritannien ist wirtschaftlich immer noch eine Macht. Mit dem Land könnten fernab der Europäischen Union pragmatische Abkommen für die Energieversorgung geschlossen werden. Infrage käme dafür ein Gipfel mit den anderen willigen Staats- und Regierungschefs. Es wäre ein Anfang, konkrete Ergebnisse ließen sich bei Arbeitstreffen der Staatssekretäre erzielen. Organisiert von der Bundesrepublik. Wichtig ist nur, dass es schnell geht. Die Zeit des Abwartens ist vorbei.

Wer sich noch in Sicherheit wiegt, dürfte falschliegen: Das Bündnis der Nato reicht nicht aus. Wladimir Putin muss gar kein Nato-Gebiet angreifen, um den Kontinent weiter zu destabilisieren. Es reicht schon, wenn im Herbst und Winter jeder weiter vor sich hin wurschtelt, die Unzufriedenheit steigt – und die Populisten Zulauf bekommen. Europa würde weiter auseinanderdriften. Irgendwann könnte Putin sich dann den Kontinent stückweise einverleiben. Und ein zufriedener Autokrat bleiben.

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Mit Material von dpa.

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