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Manipulation: Wie politisches Framing in der Krise die Gesellschaft vergiftet


Tagesanbruch
Das Schlimmste, was uns droht

MeinungVon Miriam Hollstein

Aktualisiert am 09.08.2022Lesedauer: 6 Min.
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Etwa 5000 Querdenker, Coronaleugner und Pegida-Anhänger demonstrierten am Montag, den 01.08.2022 u.a. Unter den Linden uVergrößern des Bildes
Schild auf einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin: Laut einer Umfrage findet die Mehrheit der Deutschen die derzeitigen Regeln aber angemessen. (Quelle: Volker Hohlfeld/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

wissen Sie, was Framing ist? Der Begriff kommt aus dem Englischen und heißt übersetzt "Rahmen". Es bedeutet, dass man Ereignisse in ein Erzählmuster packt, um ihnen eine gewünschte Deutung zu geben. Ein einfaches Beispiel: Ein Glas ist zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Person A sagt: "Das Glas ist halb leer." Person B: "Das Glas ist halb voll." Beide benutzen also ein unterschiedliches Framing für dieselbe Tatsache. Im ersten Fall entsteht der Eindruck eines Mangels. Im zweiten eher der von Fülle.

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Framing ist eigentlich eine olle Kamelle im politischen Tagesgeschäft. Doch in einer Zeit, in der wir von einer Krise in die nächste stürzen, löst diese Technik eine gefährliche Dynamik aus. Nehmen wir die geplanten neuen Regeln zum Infektionsschutz. Am Freitag stellten Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) sie vor. Beide versuchten bei der Vorstellung, ihr eigenes Framing durchzusetzen. Lauterbach sprach schwammig vom "bundesweiten Einsatz von Masken", um seine Strategie der Vorsicht zu untermauern. Buschmann betonte, dass man im Namen der Freiheit Einschränkungen weitgehend verhindert habe. Diese doppelte Botschaft sorgte für ein Schlagzeilen-Wirrwarr, bei dem mal Lauterbach, mal Buschmann zum Verlierer der Verhandlungen über die künftigen Corona-Regeln erklärt wurde.

In den sozialen Netzwerken war das der Startschuss für große Aufgeregtheit. Die einen sehen in den geplanten Regeln das Ende der Freiheit in Deutschland, das nur noch mit einem Volksaufstand verhindert werden kann. Die anderen werfen der Regierung vor, ihre Bürger nicht mehr vor dem Virus zu schützen und kündigen ebenfalls Protest an.

Wenn man sich den Entwurf für die neuen Regeln ansieht, kann man sich angesichts dieser Reaktionen nur die Augen reiben. Es ist ein klassisches Kompromisspapier. Die einzig wirklich verpflichtenden Maßnahmen sind eine Maskenpflicht im Fernverkehr und bei Flügen sowie eine Masken- und Testpflicht für den Zutritt zu Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Darüber hinaus sollen die Länder die Möglichkeit haben, mit weiteren Maßnahmen auf steigende Inzidenzen und Engpässe auf den Intensivstationen zu reagieren, zum Beispiel mit einer Maskenpflicht in öffentlichen Räumen und im Nahverkehr. Davon sollen aber jene ausgenommen sein, die einen Test, eine Impfung oder einen Genesenenstatus nachweisen können, wobei die beiden letzteren nicht älter als drei Monate sein dürfen. Wer das nicht will, müsste Maske tragen. Das "Schlimmste", was uns in diesem Herbst und Winter maßnahmentechnisch droht, ist also, dass wir noch eine Zeit lang mit einem Fetzen vor Mund und Nase ins Theater, ins Restaurant, in die Schule oder in Bus und Bahn gehen müssen.

Natürlich ist einiges unausgegoren in diesem Entwurf, wie die seltsame Ausnahmeregel von der maximal drei Monate alten Impfung (erkennbar ein Zugeständnis an Lauterbach). Doch statt gezielt Kritik daran zu üben, wird so getan, als ob von diesem Papier die Freiheit oder der Untergang unserer Gesellschaft abhinge. Nun wird es spannend, ob die Politik nur gezielt verbessert oder unter dem Druck der Öffentlichkeit das ganze Papier zurückzieht. Das Problem ist: Wir müssen uns auf einen Herbst vorbereiten, von dem wir nicht wissen, was er uns mit Blick auf das Virus bringt.

Es sind solche "gefühlten Fakten", die durch Framing entstehen. Sie verstellen den Blick auf die Realität und fressen sich wie Gift in unsere Gesellschaft. Auch hinterlässt die Debatte wieder einmal den Eindruck, dass unser Land in unversöhnliche Lager gespalten ist. Aber stimmt das auch?

Auch hier hilft ein Blick auf echte Fakten. Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap für die ARD halten 53 Prozent der Befragten die derzeitigen Corona-Regeln für angemessen. 22 Prozent gehen sie nicht weit genug, weiteren 22 Prozent gehen sie zu weit. Möglich, dass sich das im Herbst ändert, aber für den Moment stellen wir fest: Die Mehrheit steht hinter der aktuellen Corona-Politik. Und bei den anderen halten sich die beiden gegensätzlichen Lager die Waage. Dass das kein Grund für die Regierung ist, sich entspannt zurückzulehnen, zeigt eine andere Zahl aus derselben Umfrage: Nur jeder Dritte ist zufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung. 34 Prozent weniger, 29 Prozent sogar gar nicht – Tendenz steigend.

Was bei der Debatte um die neuen Corona-Regeln auffällt: die Abwesenheit von Gemeinsinn. Für viele scheint nur noch das eigene Wohlbefinden wichtig zu sein. Von Rücksicht und Verständnis für andere keine Spur mehr. Dabei konnten wir auch mal anders. Zu Beginn der Flüchtlingskrise wie auch am Anfang der Pandemie und nach der Flutkatastrophe im Ahrtal und anderswo wurde das Land von einer Welle der Hilfsbereitschaft erfasst. Mit unglaublicher Kreativität und hohem Einsatz bemühten sich zahlreiche Bürger und Bürgerinnen, aus der schwierigen Situation das Beste zu machen, die Not zu lindern, einander beizustehen. Es war ein wunderbares Gefühl von Zusammenhalt, das auch den Helfern und Helferinnen selbst Kraft gab.

Davon ist kaum mehr etwas übrig. Dabei ist es doch genau das, was uns durch Krisen tragen kann: das Gefühl, nicht allein zu sein.


Der peinliche Onkel der SPD

Gerhard Schröder darf Genosse bleiben. Das hat am Montag das SPD-Schiedsgericht in Hannover entschieden. Der Altkanzler habe nicht gegen die Parteiordnung verstoßen, so die Begründung. Der Fall zeigt, wie schwer es ist, in Deutschland jemanden aus einer Partei auszuschließen. Für die SPD ist das keine ganz neue Erfahrung: Den früheren Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin, der nach seiner Karriere Bücher mit teils rassistischen Thesen schrieb, wurde sie erst nach über zehn Jahren Verfahren los. Möglicherweise ist auch bei Schröder das letzte Wort noch nicht gesprochen. Vermutlich wird er auch künftig auf seine Partei pfeifen, was zu neuen Verfahren führen dürfte. Bis dahin bleibt er so etwas wie der unangenehme Onkel auf der Familienfeier: Alle finden ihn peinlich, keiner mag ihn, aber irgendwie muss man eben doch mit ihm leben.

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Termine des Tages

In Magdeburg kommen die Gesundheitsminister der Länder zu einer Sondersitzung zusammen, um über das geplante Infektionsschutzgesetz (siehe oben) zu beraten.


In Hamburg tagt heute der Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft zur Cum-Ex-Steuergeld-Affäre. Thema dabei dürfte auch der Fund von über 200.000 Euro Bargeld in einem Bankschließfach des früheren Hamburger SPD-Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs sein. Das ist auch für Bundeskanzler Olaf Scholz heikel. Denn im Raum steht der Vorwurf, dass er als Erster Bürgermeister in eine steuerliche Bevorteilung der in die Cum-Ex-Vorgänge involvierten Warburg Bank verwickelt sein könnte. Noch ist freilich völlig unklar, ob das bei Kahrs gefundene Bargeld mit Cum-Ex in Zusammenhang steht. Olaf Scholz ist in der kommenden Woche erneut als Zeuge vor den Untersuchungsausschuss geladen.


Heute ist der Internationale Tag der indigenen Völker. Klingt nach Folklore, ist aber ein Versuch der Vereinten Nationen, auf die Situation der Ureinwohner aufmerksam zu machen. In vielen Ländern werden sie vertrieben oder wird ihnen die Lebensgrundlage entzogen, weil Regierungen skrupellos Bodenschätze ausbeuten oder Wälder abholzen wollen. In diesem Jahr soll aber die Gewalt gegen indigene Frauen im Mittelpunkt stehen. Diese werden oft dreifach diskriminiert: wegen ihres Geschlechts, ihrer Herkunft und ihres sozialen Status.


Was lesen?

Wie Hetze im Netz einem Kommunalpolitiker das Leben schwer macht, hat mein Kollege Stefan Simon aufgeschrieben. Aber auch, was ihm in dieser schwierigen Situation hilft.


Nach ihrem Rückzug vom Amt der ARD-Vorsitzenden ist Patricia Schlesinger nun auch als Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg zurückgetreten. Bei den Vorwürfen gegen sie geht es unter anderem um ein im Dienstbüro ohne Ausschreibung verlegtes teures Parkett sowie um Abendessen in Schlesingers Haus, beides vom RBB finanziert. Schlesinger ist sich keiner Schuld bewusst und spricht von "Diffamierungen". Die Affäre wird der Debatte um die Abschaffung der Rundfunkbeiträge neuen Auftrieb geben. Zumal sich Frankreich gerade zu diesem Schritt entschlossen hat. Dort soll der öffentlich-rechtliche Rundfunk künftig aus Steuereinnahmen finanziert werden.


Was mich amüsiert

Die französische Journalistin Doan Bui hat sich auf eine Reise in die schillernde Welt der Fake News begeben. Sie hat Vertreter verschiedener Verschwörungserzählungen getroffen, eine Trollfabrik in Mazedonien besucht und mit Opfern der erfundenen Geschichten gesprochen. Die wunderbare Illustratorin Leslie Plée hat dies in Bilder umgesetzt. Das Ergebnis ("Glauben Sie an die Wahrheit?", Carlsen Verlag, 22 Euro) ist unterhaltsam, informativ und oft sehr lustig. Manchmal vergeht einem aber auch das Lachen: Etwa, wenn Bui von ihrer Begegnung mit einem Vater erzählt, dessen Sohn 2012 beim Amoklauf an der Sandy-Hook-Grundschule in der amerikanischen Kleinstadt Newton ermordet wurde, und der von den "Truthers" (wie die Schwurbler sich selbst nennen) bezichtigt wird, ein bezahlter Schauspieler zu sein.

Ich wünsche Ihnen eine Woche voller (angenehmer) Wahrheiten.

Morgen schreibt an dieser Stelle mein Kollege Steven Sowa für Sie.

Ihre

Miriam Hollstein
Chefreporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @HollsteinM

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Mit Material von dpa.

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