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Horrende Gaskosten: So krass kann es werden


Tagesanbruch
Dann ist's aus

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 24.08.2022Lesedauer: 6 Min.
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Liz Truss will die Briten aus der Krise führen – oder macht sie alles noch schlimmer?Vergrößern des Bildes
Liz Truss will die Briten aus der Krise führen – oder macht sie alles noch schlimmer? (Quelle: Phil Noble/Reuters-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

man wusste ja schon, dass Herbst und Winter nicht einfach werden, aber jetzt das! Die erwartete Inflation: wurde noch weiter nach oben korrigiert, auf unfassbare 18,6 Prozent. Die Heizkosten- und Stromrechnung: verdreifacht oder vervierfacht. Die sozialen Folgen: schlimm. Mindestens die Hälfte aller Haushalte werden von energiekostenbedingter Armut betroffen sein, vielleicht sogar zwei Drittel. Manche kleine und mittlere Unternehmen müssen sich mit Strompreiserhöhungen um das Siebenfache auseinandersetzen, und dann ist aus die Maus: Die Krise wird Firmen niedermähen wie die Sense das Korn.

Vielleicht sagen Sie jetzt: Moment mal! Irgendwas ist seltsam an all diesen Weltuntergangszahlen. Aber sie stimmen tatsächlich, nur müssen wir dafür eine kurze Reise machen. Also rein in den Zug in Köln, rasch in Brüssel umsteigen, durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal rauschen, und schon schlendern wir mitten in London auf den Big Ben zu und fragen uns, was die Stunde geschlagen hat. Eigentlich sieht alles aus wie immer, ein Gewusel und Geschiebe, die Menschen strömen zur Arbeit und in die Geschäfte. Dennoch ist die Krise, die wir in Deutschland erst befürchten, bei den Briten schon längst angekommen. Was ihnen für den Winter prophezeit wird, lässt unsere eigenen Katastrophenszenarien im Vergleich wie eine milde Unpässlichkeit aussehen. Die explodierenden Lebenshaltungskosten treffen die Briten deutlich härter als andere Europäer. Aber warum? Und welche Erkenntnisse können wir in Deutschland daraus ziehen?

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Klar, die Regierung in London ist ein Totalausfall, weshalb man sie eigentlich in Anführungszeichen setzen muss. Der "Regierungschef" Boris Johnson hat erzwungenermaßen den Weg für seine Nachfolge frei gemacht und ist – Krise hin, Krise her – kaum noch in seinem Amtssitz in der Downing Street, dafür aber dauerurlaubend mit Kind und Kegel am Mittelmeer zu sehen. Die beiden Bewerber, die nun gerne auf seinem Sessel Platz nehmen würden, sind mit dem parteiinternen Wahlkampf beschäftigt. Liz Truss, die Favoritin, hat sich dabei als würdige Nachfolgerin des windigen Wuschelkopfs positioniert: als eine Führungsgestalt, die kompromisslos nur am eigenen Aufstieg bastelt. Fakten sind egal, Populismus okay, Standpunkte von der Windrichtung abhängig, Skrupel überflüssiger Ballast. In der Boris-Partei kommt das an. Frau Truss gilt praktisch als sichere Gewinnerin des Rennens.

Britische Publikationen schauen deshalb mitunter neidvoll über den Kanal und sind des Lobes voll. So bescheinigte gerade der renommierte "Economist" den Deutschen und ihrer Regierung erfreuliche Perspektiven, während wir uns hierzulande über Zoff in der Koalition, Energiekrise, bürokratisches Missmanagement, das Digitalisierungsdebakel und so weiter und so fort die Haare raufen. Das freundliche Urteil der Kollegen an der Themse hat seinen Grund: Auch eine stotternde und quietschende deutsche Regierungsmaschinerie muss als Meisterwerk der Präzision erscheinen, wenn die eigene nur noch aus einem Haufen verkeilter Teile besteht. Der beweinenswerte Zustand in der Downing Street lässt für die Krisenbewältigung nicht hoffen. Aber tatsächlich geht die besonders miserable Lage auf der Insel nicht allein auf das Konto des aktuellen Teams an der Spitze. Die Briten werden von ihrer Geschichte eingeholt, und das gleich doppelt: Erst haben sie alles richtig gemacht – und dann ganz, ganz viel falsch.

Eigentlich muss man es vorbildlich nennen, wie konsequent Großbritannien auf das relativ umweltverträgliche Erdgas als Hauptenergieträger umgestellt hat. Beim Heizen zu Hause spielt es eine viel größere Rolle als in Deutschland, auch Strom wird zu 40 Prozent aus Gas erzeugt. Entsprechend heftig schlägt jetzt allerdings der massiv gestiegene Preis für Gas auf dem Weltmarkt zu. Es ist immer dieselbe Lektion, die man daraus lernen kann: Lege nicht alle Eier in denselben Korb, würden die Briten sagen. Wir Deutschen setzen lieber nicht alles auf eine Karte. Egal ob Gas, Wasserstoff oder Windkraft: Wenn es nur eine Sorte ist, dann ist es Mist. Und wenn es nur einen einzigen dominanten Lieferanten gibt, dann sowieso. Der Problemversorger in Moskau, Sie wissen schon.

Das vorbildliche britische Verhalten ist also leider nach hinten losgegangen, aber mit der Vorbildlichkeit ist es nun sowieso vorbei. "Den ganzen grünen Scheiß" solle man gefälligst aus der Energie-Gesetzgebung rauswerfen, hatte vor knapp einem Jahrzehnt der damalige Premier David Cameron befohlen, dem das Umweltgedöhns zu teuer und irgendwie industriefeindlich erschien (ja, das ist derselbe, der auch die Idee mit dem Brexit-Referendum hatte). Die vielen Hundert Pfund, die jeder einzelne Haushalt deswegen in die Landschaft hinausheizt, werden dank explodierender Preise nun laufend weiter nach oben korrigiert.

Kurzsichtigkeit rächt sich also, Visionen und Verblendung aber auch. Dass die Briten nun schlechter dran sind als der Rest Europas, hat natürlich kräftig mit dem Brexit zu tun. Wenn man dem Klub seiner besten Buddies in Handel und Wirtschaft den Rücken kehrt, ist das nun mal schlecht fürs Geschäft. Kostspielige Grenzkontrollen treiben die Preise hoch, Arbeitnehmermangel lässt die Löhne steigen, und bei mieser Geschäftslage reicht die Staatskasse nicht, um die sozialen Folgen der steigenden Preise abzufedern.

Die Moral von der Geschicht ist wieder mal ganz einfach: Gemeinsam ist man eben doch stärker. Zum Beispiel mit einem gemeinsamen europäischen Binnenmarkt. Natürlich hätten die Briten das wissen müssen, doch jetzt ist es leider zu spät. Wie können wir sie trösten? Vielleicht mit einem kleinen Lied.


Was steht an?

Heute vor sechs Monaten überfiel Russland die Ukraine: Die Zäsur überschattet den ukrainischen Unabhängigkeitstag – und ruft auch hierzulande viel Anteilnahme hervor, motiviert auch deutsche Medien zu eindeutigen Kommentaren. EU-Politiker werden wieder Solidaritätsadressen an die Angegriffenen schicken, in Berlin gibt es eine Freiheitsparade, die ARD sendet ihre "Tagesthemen" live aus Kiew. Bei aller begrüßenswerten Unterstützung für die bedrängte Nation sollten sowohl Politiker als auch Journalisten jedoch nicht den nüchternen Blick verlieren: Die Ukraine hat vollen Beistand verdient, aber von einem gut funktionierenden Rechtsstaat ist sie noch meilenweit entfernt.


Eigentlich will das Bundeskabinett heute die neuen Regeln des Infektionsschutzgesetzes beschließen – prompt brandet die Debatte wieder auf: Weil Politiker, Wirtschaftsbosse und Journalisten in der Kanzlermaschine auf dem Flug nach Kanada keine Masken trugen, sind viele Leute empört. Die FDP macht sich das Thema flugs zu eigen und will nun nachträglich die Maskenpflicht in sämtlichen Fliegern lockern. Von Einigkeit ist die Ampelkoalition also wieder einmal weit entfernt. Wie SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach und FDP-Justizminister Marco Buschmann das auf ihrer anschließenden Pressekonferenz wohl schönreden, pardon, erklären?

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Christian Lindner will Geldwäsche und Finanzkriminalität effektiver bekämpfen. Dafür plant er, eine neue Bundesbehörde aufzubauen: das Bundesfinanzkriminalamt, dessen Mitarbeiter eigene Ermittlungsbefugnisse bekommen sollen. Heute stellt der Finanzminister seinen Plan vor. Hoffen wir, dass dieser mehr Geld einbringt als kostet.


Luanda ist eine Stadt, die alle Sinne maximal fordert. Als ich vor zweieinhalb Jahren durch die Hauptstadt Angolas lief, war es drückend schwül, in der Luft dröhnte eine Kakofonie aus Stimmen, Musik, Autobrausen und Sirenen, es gab Slums, und ja, mir kam es so vor, als würde ich jeden Passanten riechen. Es war kein allzu guter Eindruck, aber er wurde wenig später relativiert: Da lernte ich adrette Geschäftsfrauen und belesene Akademiker kennen, die gewissenhaft die brutale Kolonialgeschichte Westafrikas erforschen. Ich sah den schillernden Reichtum der oberen Zehntausend, und ich schaute aus einer lässigen Strandbar auf den tosenden Atlantik. Damals dachte ich: Mit diesem Land müsste man sich viel intensiver beschäftigen. Heute sind die Bürger des 30-Millionen-Einwohner-Staates zu Präsidentschafts- und Parlamentswahlen aufgerufen. Reformen können sie dringend brauchen.


Werner Herzog als Filmregisseur zu bezeichnen, wäre untertrieben. Passender wäre Kinoderwisch, Traumerfinder, Grenzensprenger, Bildberserker. Seine Filme mit Klaus Kinski zählen zu den Höhepunkten des deutschen Kinos, in Hollywood ist er ein Star. Mit fast 80 Jahren hat er nun seine Autobiografie geschrieben. Zeitgleich widmet ihm die Berliner Kinemathek eine große Ausstellung mit sagenhaften Bildern.


Was lesen?

Schlägt der Ärger über Energiemangel und steigende Preise bald in gewalttätige Proteste um? Der Thüringer Verfassungsschutzchef Stephan Kramer warnt im Interview mit meiner Kollegin Lisa Becke: "Da braut sich was zusammen."


Um der Energiekrise zu begegnen, hat Deutschland in der Nacht ein Wasserstoffabkommen mit Kanada festgezurrt. Erste Wasserstofflieferungen von Kanada nach Deutschland sind ab 2025 vorgesehen.

Bis dahin dauert es noch und der kommende Winter könnte Deutschland spalten, meint auch unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld: in Wohlhabende und Arme, in West und Ost. Hier erklärt sie, warum freiwilliger Verzicht vor allem für viele Ostdeutsche keine Option ist.


Deutschland hat zu wenig Gas – in Russland dagegen wird überschüssiges Gas abgefackelt. Meine Kollegin Nele Behrens erklärt Ihnen, was da los ist.


Der russische Geheimdienst will den Anschlag auf die Tochter eines Putin-Ideologen ruckzuck aufgeklärt und eine Mörderin identifiziert haben. Mein Kollege Carl Lando Derouaux erläutert, warum das unglaubwürdig ist.


Was amüsiert mich?

Sollte man lieber auf Abstand zu ARD-Anstalten gehen?

Ich wünsche Ihnen einen gut informierten Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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