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WM-Fiasko in Katar: Wie viel Schaden wird Fifa-Boss Infantino noch anrichten?


Tagesanbruch
Ist das der Anfang vom Ende?

  • David Digili
MeinungVon David Digili

Aktualisiert am 26.11.2022Lesedauer: 7 Min.
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Fifa-Boss Infantino trägt die Hauptschuld am Fiasko dieser Fußball-WM – und wird noch weiteren Schaden anrichten.Vergrößern des Bildes
Fifa-Boss Infantino trägt die Hauptschuld am Fiasko dieser Fußball-WM – und wird noch weiteren Schaden anrichten. (Quelle: IMAGO/José Mendez)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

zum ersten Mal habe ich das Vergnügen, den Tagesanbruch für Sie zu schreiben – und muss Ihnen leider gleich zum Start in den Freitag schwer Verdauliches kredenzen (nicht nur mein missglücktes Autorenfoto). Denn wie t-online exklusiv erfahren hat, wird die Fifa an diesem sechsten Tag der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar, die sich so gar nicht wie eine richtige WM anfühlt (anfühlen kann, darf und muss), noch einmal richtig durchgreifen. Was an diesem Vormittag bekannt gegeben werden soll – das muss man dem Fußball-Weltverband lassen –, stößt noch einmal in eine ganz neue Dimension von Irrsinn vor:

  • Bereits ab dem zweiten Gruppenspiel an diesem Sonntag gegen Spanien wird die deutsche Nationalmannschaft die Nationalhymne nicht mehr mitsingen dürfen. Besonders "Einigkeit und Recht und Freiheit" vertrage sich weder mit den Grundsätzen der Fifa noch zeuge diese Passage von Respekt für die Gepflogenheiten des Gastgeberlands. Zaghaftes Mitsummen bleibe aber erlaubt, solange es sowohl für die Zuschauer im Stadion als auch an den Bildschirmen nicht hörbar ist.
  • Senegals Spieler Idrissa Gueye wird für den weiteren Turnierverlauf auf seinen Nachnamen verzichten müssen: Die Fifa sieht vor allem phonetisch eine zu große Nähe zum englischen Begriff "gay" und will möglichen Missverständnissen aufseiten der katarischen Sicherheitskräfte vorbeugen. Senegals Ausstatter sei bereits darüber informiert worden, dem Mittelfeldspieler neue Trikots mit seinem Vor- statt Nachnamen auf dem Rücken ausstellen zu müssen.
  • Potenziell kontroverse Tattoos – die Hand von USA-Stürmer Tim Weah beispielsweise ziert das Friedenssymbol, auf der linken Wade des argentinischen Weltstars Lionel Messi prangt ein Herz mit dem Männernamen "Thiago" (sein zehnjähriger Sohn) – müssen ab sofort bis zum Ende des Turniers unkenntlich gemacht werden. Die Fifa rate zum Überkleben des bunten Körperschmucks mit Aufklebern wahlweise mit der katarischen Fahne oder dem Slogan "I love Fifa" und stelle diese gegen eine geringe Gebühr bereit.

Und? Haben Sie alles geglaubt, was Sie gerade gelesen haben? Dann kann ich Sie beruhigen: Natürlich stimmt nichts davon. Manuel Neuer und seine Teamkollegen dürfen weiterhin inbrünstig versuchen, Fallerslebens Hymne textsicher und synchron zu intonieren, Senegals Zeugwart muss keine Überstunden schieben, um hastig neue Trikots mit "Idrissa" zu beflocken, und Klebeband findet sich an den Körpern der Spieler weiterhin nur über nicht abgelegten Preziosen.

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Erlauben Sie mir aber die Vermutung: Sie haben es tatsächlich für möglich gehalten, dass die Fifa in einer neuerlichen Volte derart verquere Beschlüsse auf den Weg gebracht hat. Richtig?

Tatsächlich hat der Fußball-Weltverband dieser Tage – ausgerechnet während seines Prunkstücks Fußball-WM – einen moralischen Offenbarungseid abgelegt. Die Erkenntnis ist nicht neu, der Eindruck dafür umso nachhaltiger: Der Fifa, die immer mehr zur Ein-Mann-Veranstaltung ihres gewieften Präsidenten Gianni Infantino mutiert, ist alles zuzutrauen. Mehr noch: Infantino scheint zu allem fähig zu sein. Mit beispielloser Rotzigkeit tritt er moralische Werte mit Füßen – während er die Fifa als Entwicklungshelferin, gar als Wohltäterin inszeniert. Sein selbstgerechter Auftritt auf einer skurrilen Pressekonferenz am Tag vor Beginn des Turniers war der Tiefpunkt dieser fortlaufenden Eigendemontage.

Mit schwer erträglicher Dreistigkeit drückt Infantino schon seit seinem Amtsantritt 2016 Entscheidungen durch, mit denen er sich in einem ewigen Geben und Nehmen die offenkundig korrupten, meist älteren Chefs nationaler Fußballverbände und Fifa-Delegierten gefügig macht. Gleichzeitig sieht er die Fifa als Wegbereiterin der Globalisierung. Das illustriert folgende Beispielrechnung: Mehr WM-Teilnehmer – ab dem kommenden Turnier wird das Championat auf 48 Teilnehmer aufgebläht – gleich mehr Geld für die Fifa, gleich mehr Geld für die Verbände, gleich dankbare Stimmen bei der nächsten Fifa-Chefwahl. Ein unaufhörliches Quidproquo, das im Fußball – im richtigen Fußball, wohlgemerkt, dem Fußball mit Bier, Bratwurst und Begeisterung, dem Fußball mit echten Fans, echten Emotionen, echter Kultur, dem Fußball, mit dem Sie, ich, wir aufgewachsen sind – mindestens für Kopfschütteln, wenn nicht gar zu einem anhaltenden Brechreiz führt, im schlimmsten Fall sogar zur Abwendung von diesem schönen Sport.

Auf Infantinos Geheiß entschied die Fifa dieser Tage: Das Tragen der "One Love"-Armbinde, mit der die Kapitäne mehrerer Länder, darunter auch Deutschland, auflaufen wollten, um ein Zeichen für Menschenrechte und Gleichberechtigung zu setzen, wurde untersagt – obwohl das etwas aseptisch daherkommende Stück Stoff doch eigentlich dafür erdacht wurde, um die in bestimmten Kulturkreisen verpönte Regenbogenbinde zu ersetzen. Eine dem Vernehmen nach vage Drohung mit "Konsequenzen" reichte aus, um den DFB als größten Einzelsportverband der Welt und sechs weitere Großverbände bis ins Mark vor möglichen Strafen erzittern und flugs vom noblen Ansinnen absehen zu lassen. Mein Kollege Andreas Becker fand in seinem Kommentar zum schnellen Einknicken das richtige Wort: jämmerlich. So sehr sich die DFB-Kicker dann mit ihrer ungelenken "Protestaktion" vor dem WM-Auftakt gegen Japan auch verstiegen haben mögen, sollte auch nicht vergessen werden, wer diese für alle missliche Lage überhaupt erst verursacht hat: Infantino.

Ist dieser Mann im wichtigsten Amt des Weltfußballs noch tragbar? Die Antwort kann nur "nein" lauten. Kann sich also innerhalb des Sports ein vielleicht nicht zahlenmäßiger, zumindest aber namhafter Widerstand formieren? DFB-Präsident Bernd Neuendorf kündigte bereits an, die als sicher geltende Wiederwahl Infantinos im kommenden März nicht zu unterstützen. Ebenso sein dänischer Amtskollege Jesper Möller, der sogar noch einen Schritt weiter ging und mit dem Austritt aus der Fifa drohte. Zuvor hatte sich bereits Norwegen – das in Katar nicht dabei ist – mit seiner wortgewaltigen Verbandspräsidentin Lise Klaveness als scharfer Kritiker des Turniers profiliert.

Ob er jetzt in Gang kommt, der Strudel, der Infantino und seine verschworene Clique windiger Geschäftemacher in den Abgrund reißt? Waren die letzten Aufreger die ein, zwei, drei Aufreger zu viel? Ist das der Anfang vom Ende für Infantino? Für den Fußball abseits der Fifa-Zentrale in Zürich steht weit mehr auf dem Spiel als nur dieser eine Funktionär. Es geht um das letzte bisschen Glaubwürdigkeit, die sich die protestierenden Verbände noch bewahrt haben. Wenn sie jetzt nicht handeln, droht ein irreparabler Schaden. Noch ist er abwendbar: mit einer geschlossenen Reaktion der europäischen Fußballgrößen. Sie sollten dem Fifa-Chef ein Ultimatum stellen: Entweder er tritt nach dieser WM ab oder die Uefa-Verbände treten alle aus der Fifa aus.


Die große Angst

Was aber tun, wenn es auch sportlich nicht läuft? Spiel eins bei dieser WM geriet für die Mannschaft von Bundestrainer Hansi Flick zum Debakel: 1:2 hieß es am Ende gegen Japan. Gegen einen Gegner, der zeitweise klar unterlegen schien, trotzdem aber stets im Spiel zu bleiben vermochte, dank geschlossener Teamleistung, einem besonders in der letzten halben Stunde überragenden Torwart – und am Ende abgebrühter Angreifer. Erinnerungen an die verkorkste WM 2018 werden wach ob der allen Torchancen zum Trotz merkwürdig blutleeren deutschen Vorstellung. Mein Kollege Noah Platschko, in Doha vor Ort, schreibt von der "großen Angst", die nun im deutschen Team umgeht.

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Deutschland und die DFB-Elf fremdeln weiter mit dieser WM. Und nun wartet am Sonntag auch noch Spanien, das bei seinem 7:0-Auftaktspektakel gegen Costa Rica ein spielerisches Feuerwerk abbrannte und genau das zeigte, was der deutschen Mannschaft gegen die Japaner zu fehlen schien: Spaß am Spiel. Kaum vorstellbar, dass die "rote Furie" bis Sonntag plötzlich von einem Mangel an Spielfreude, Esprit und Selbstvertrauen übermannt wird, dass es keine einseitige Partie wird – die vermutlich das vorzeitige deutsche Vorrundenaus bedeuten würde. Der viermalige Weltmeister fliegt schon nach der Vorrunde nach Hause: Ehrlich, auf dieses Zeichen könnten wir verzichten.


Termine des Tages

Bundestag und Bundesrat werden heute wohl den Bürgergeld-Kompromiss durchwinken. Anschließend kann die SPD endlich Hartz IV an den Nagel hängen, CDU und CSU können sich damit brüsten, die Ampelkoalition zu Zugeständnissen gezwungen zu haben. Die meisten Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt bleiben jedoch ungelöst.

Immer mehr Flüchtlinge drängen in die EU, nicht nur aus der Ukraine, sondern auch aus den Krisengebieten im Nahen Osten und Nordafrika. Die neue italienische Regierung lässt jedoch Rettungsschiffe mit Bootsflüchtlingen nicht mehr in die Häfen. Auf einem Sondertreffen suchen die EU-Innenminister Auswege.

In den kurdischen Gebieten des Iran gehen die Revolutionsgarden des Regimes brutal gegen Demonstranten vor. Weil sie das Internet unterbrochen haben, dringen kaum Informationen nach außen. Das lässt Schlimmes erahnen.

Anlässlich des internationalen Tages gegen die Gewalt an Frauen sind vor allem in der Türkei viele Demonstrationen geplant. Die Regierung geht regelmäßig gegen feministische Proteste vor.


Was lesen?

Klimaaktivisten sind gestern Abend auf das Rollfeld des Berliner Hauptstadtflughafens vorgedrungen, der Flugbetrieb musste gestoppt werden. Unser Reporter Julian Seiferth hat mit betroffenen Passagieren gesprochen.

Unsere Politik-Chefreporterin Miriam Hollstein hat eine klare Meinung zur Aktion der "Letzten Generation": "Es reicht!"


Wie lange kann Putin den Abnutzungskrieg in der Ukraine noch durchhalten? Unser Außenpolitikredakteur Patrick Diekmann analysiert die Lage.



Die Wolke ist noch da: In seinem "Telegramm aus Doha" schreibt mein Kollege Noah Platschko über das drohende WM-Aus für Deutschland – und besorgniserregende Parallelen zu den letzten Turnieren.


Was amüsiert mich?

Krake Paul ist Geschichte – begrüßen Sie mit mir deshalb ganz herzlich Taiyo, den Otter aus Tokio. Auch wenn er aus deutscher Sicht ruhig ein anderes Ergebnis hätte vorhersagen können

Ich wünsche Ihnen einen positiven Tag. Morgen kommt wieder der Tagesanbruch-Podcast unseres Chefredakteurs Florian Harms.

Herzliche Grüße,

Ihr
David Digili
Redakteur Sport
Twitter @herrdigili

Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.

Mit Material von dpa.

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