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Olaf Scholz und die Frührente: Arbeiten bis zum Umfallen?


Tagesanbruch
Arbeiten bis zum Umfallen

MeinungVon Miriam Hollstein

Aktualisiert am 14.12.2022Lesedauer: 6 Min.
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Ein älterer Mann arbeitet in einer Elektrofirma (Symbolbild).Vergrößern des Bildes
Ein älterer Mann arbeitet in einer Elektrofirma (Symbolbild). (Quelle: D. Anoraganingrum/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

fast genau 100 Jahre ist es her, dass der Amerikaner Henry Ford für eine kleine Revolution der Arbeitswelt sorgte.

Dem Erfinder des ersten Verbrennungsmotors von Ford und Gründer der Ford Motor Company war aufgefallen, dass viele Angestellte zwar bis zu 16 Stunden arbeiteten, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt kaum mehr leistungsfähig waren. Also führte Ford 1926 die 40-Stunden-Woche ein, um eine kontinuierliche Produktivität sicherzustellen. Sein Beispiel machte Schule: 1938 verabschiedete der US-Kongress den "Fair Labor Standards Act", der neben der 40-Stunden-Woche auch einen Mindestlohn (von 40 Cent die Stunde) vorschrieb.

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Seither hat sich in den westlichen Ländern die Arbeitswelt flexibilisiert, wurden unzählige Teilzeitmodelle und deutlich mehr Rechte für Beschäftigte umgesetzt. Nur die 40-Stunden-Woche ist, beinah 100 Jahre später, als Standard geblieben.

Ähnlich heikel wie die Frage, wie VIEL wir arbeiten, ist die, wie LANGE wir arbeiten. Bundeskanzler Olaf Scholz hat mit seiner Ankündigung, gegen die Frühverrentung vorgehen zu wollen, in diesen Tagen für Aufregung gesorgt.

Doch ist die Sache mit dem Renteneintrittsalter noch etwas vertrackter als die mit der Arbeitszeit. Weil immer weniger Kinder in Deutschland geboren werden, zugleich aber die Menschen im Schnitt immer älter werden, ist das derzeitige Rentensystem nicht mehr finanzierbar. Die Politik hat darauf reagiert, indem sie das Rentenalter bis 2031 schrittweise von 65 auf 67 anhebt. Trotzdem verabschieden sich die Deutschen seit Jahren kontinuierlich im Durchschnitt mit 64 in den Ruhestand. Zu früh, um das derzeitige System am Laufen zu halten.

Schuld daran ist unter anderem ausgerechnet ein SPD-Herzensprojekt: die Rente mit 63. Das war 2014 mit dem Ziel eingeführt worden, Menschen nach 45 Beitragsjahren den Gang in die abschlagsfreie Rente zu ermöglichen. Über zwei Millionen Beschäftigte haben sie seither in Anspruch genommen, Tendenz steigend. Dieser Massenflucht in den Frühruhestand will Scholz jetzt entgegenwirken.

Nun ist es gerade schwer in Mode bei der SPD, sich von eigenen Projekten aus der Vergangenheit zu verabschieden. Das war mit Hartz IV so, gilt auch für das Fallpauschalensystem im Gesundheitssektor (wurde unter einer SPD-Gesundheitsministerin eingeführt) und könnte sich jetzt mit der Rente mit 63 fortsetzen. "Überwinden" heißt das im Politsprech der Sozialdemokraten, was ein bisschen an die DDR-Losung "Überholen ohne einzuholen" erinnert.

Scholz' Vorstoß dürfte aber noch einen anderen Grund haben. Er wollte seinem wichtigsten politischen Gegner zuvorkommen. Denn die Union plant, neben der Einwanderungspolitik das Renteneintrittsalter zum großen Thema des kommenden Jahres zu machen. Die Konservativen sind gerade beschwingt vom Erfolg ihrer Blockadepolitik beim Bürgergeld. Jetzt wollen sie ihre Identitätskrise, plötzlich nur noch Opposition zu sein, endgültig abschütteln. Einige in der Union liebäugeln sogar mit der Forderung nach einer "Rente ab 70". Ihr Kalkül ist, dass eine solche offizielle Regel in der Praxis dazu führen würde, dass die Deutschen im Schnitt mit 67 Jahren in die Rente gingen – also zu dem Zeitpunkt, der ohnehin schon vorgesehen ist.

Doch sowohl SPD als auch Union dürften die Rechnung ohne die Bürger und Bürgerinnen gemacht haben. Denn die jüngere Generation ist nicht nur weniger geworden, sondern auch wählerischer. Sie ist nicht mehr an Karrieren interessiert, für die man sich fast zu Tode arbeiten muss. Work-Life-Balance ist ihr Mantra. Das gilt nicht nur für Akademikerberufe. Auch Bäckereibetriebe klagen darüber, dass die Jungen keine Lust mehr haben, früh aufzustehen; in Arztpraxen sind die Pflegekräfte immer weniger bereit, in Schichtdiensten zu arbeiten. Vom Wochenende ganz zu schweigen. Jüngere sagen auch schon einmal Jobangebote ab, weil sie ihren Hund nicht mit ins Büro nehmen dürfen oder ein halbes Jahr Weltreise dazwischenkam. Da kann die ältere Generation, bei der die Zusage für den ersten Job oft noch Tränen der Dankbarkeit auslöste, nur staunen.

Hinzu kommt: Viele Menschen können schlicht nicht länger arbeiten. Nicht zuletzt durch die Arbeitsverdichtung sind ihre Tätigkeiten so anstrengend geworden, dass sie bereits die 65 nicht mehr im Job erreichen. Jedes Jahr, das sie aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in Rente gehen, bedeutet für sie massive Abschläge. Die Rente mit 70 würde die Altersarmut erhöhen.

Schon jetzt muss in Deutschland offiziell länger geschuftet werden als in vielen anderen europäischen Ländern. Eine Analyse der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zeigt, dass man nur in Island, Norwegen, den Niederlanden, Irland und im Vereinigten Königreich noch später in den Ruhestand darf. Die Franzosen gehen im Durchschnitt mit 60 Jahren in Rente, die Luxemburger sogar schon mit 59.

Bei der Gestaltung der Arbeitszeit sind andere Länder ebenfalls weiter. In Belgien können Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen bereits zwischen vier oder fünf Tagen wählen (bei gleichem Lohn, aber auch gleichem Pensum). In Großbritannien nehmen derzeit rund 70 Unternehmen an einem Modellversuch teil, bei dem insgesamt rund 3.300 Angestellte sechs Monate lang vier statt fünf Tage arbeiten. Dabei gibt es 100 Prozent Gehalt für 80 Prozent Arbeitszeit, wenn die gleiche Leistung erbracht wird. Ein Großteil der beteiligten Unternehmen erwägt den Organisatoren zufolge, die Vier-Tage-Woche auch nach Beendigung des Experiments fortzusetzen. Ähnliche Pilotprojekte gab es bereits in anderen Ländern wie Irland und den Vereinigten Staaten.

Was man daraus lernen kann? Wer die Menschen länger im Beruf halten will, wird sich künftig etwas anderes einfallen lassen müssen als mit Zwang zu drohen. Sonst werden nicht nur die Hochqualifizierten einfach zu den europäischen Nachbarn abwandern. Denn umgekehrt gibt es viele, die länger arbeiten wollen, aber vom Gesetz in den Ruhestand gezwungen werden. Und auch in der Generation Work-Life-Balance gibt es viele loyale und engagierte Mitarbeiter, wenn für sie der Rahmen stimmt. Die zweite Säule wird der Fachkräftezuzug sein. Hier wird Deutschland ebenfalls noch viel flexibler werden müssen, etwa bei den bürokratischen Vorschriften, wenn es sein bewährtes gesetzliches Rentensystem erhalten will.

Die gesetzliche Peitsche hat ausgedient. In Zeiten, in denen qualifizierte Arbeitnehmer immer mehr zu Goldstaub werden, muss die Regierung mehr Zuckerbrot wagen. Dann klappt's auch mit dem längeren Berufsleben.


Ein Mann kämpft gegen Twitter

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Ich wünsche Ihnen noch eine schöne Woche. Morgen schreibt an dieser Stelle unser Chefredakteur Florian Harms für Sie.

Herzliche Grüße

Ihre Miriam Hollstein
Chefreporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @HollsteinM

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Mit Material von dpa.

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In einer früheren Version hieß es, Ford sei der Erfinder des Verbrennungsmotors gewesen. Tatsächlich erfand er 1888 den ersten Ford-Verbrennungsmotor. Wir bitten, dies zu entschuldigen.

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