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Türkei-Wahl: Erdoğan wird gedemütigt – Das bedeutet das Ergebnis für ihn


Tagesanbruch
Ein Segen für das Land

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 15.05.2023Lesedauer: 6 Min.
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Ein Erdoğan-Anhänger in Istanbul: In zwei Wochen kommt es wohl zur Stichwahl. (Quelle: Jeff J Mitchell/getty-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

was für ein Wahlabend! Nein, ich meine nicht die Landtagswahl in Bremen, sondern die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei. Die Beteiligung war sehr hoch, das Ergebnis knapp. Doch nahezu alles deutet darauf hin, dass die finale Entscheidung erst in zwei Wochen fällt. Dann stehen sich Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu wahrscheinlich in einer Stichwahl gegenüber (lesen Sie hier die Analyse meines Kollegen Patrick Diekmann).

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Unabhängig davon, ob Sie politisch konservativ, links oder mittig orientiert sind: Dieses Wahlergebnis sollte für alle Demokraten ein ermutigendes Signal sein. Denn was sich in der Türkei in den vergangenen Jahren beobachten ließ, passierte auch in vielen anderen Ländern: Die Politik wurde extremer, autoritärer, irrsinniger.

Unter anderem führte diese Entwicklung dazu, dass der Lügenbaron Donald Trump es bis ins Weiße Haus schaffte, Wladimir Putin sein kriselndes Riesenreich in einen brutalen Krieg gegen die Ukraine trieb, Viktor Orbán die Demokratie in Ungarn aushöhlte und Boris Johnson das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union bugsierte.

Natürlich unterscheiden sich die genannten Beispiele vor allem mit Blick auf die Folgen des jeweiligen Handelns dieser verstörenden Männer (ja, es sind immer wieder Männer, die für viel Unheil in der Welt sorgen). Aber radikal sind sie auf ihre Art alle.

Video | So lief der Wahlabend in der Türkei
Erdoğan gegen Kılıçdaroğlu: Das sind die Spitzenkandidaten der Präsidentschaftswahl in der Türkei.
Quelle: Glomex

Allerdings ist die Wahl in der Türkei nun ein Hoffnungsschimmer, dass eben nicht alles immer nur schlimmer wird, sondern dass sich Dinge auch bessern können. Und das heißt eben auch, dass Politik tendenziell gemäßigter, demokratischer, vernünftiger werden kann.

Die eigentliche Sensation ist, dass nicht schon vorher feststand, wer die Wahl gewinnt. Erdoğan regiert seit nunmehr 20 Jahren – und mit zunehmend harter Hand. Angesichts dieser Rahmenbedingungen waren bereits jene fast 53 Prozent, die ihm 2018 noch für einen Sieg im ersten Wahlgang reichten, alles andere als berauschend. Nun muss er wohl in die zweite Runde. Für das gebeutelte politische System der Türkei ist das ein Segen, für Erdoğan eine Demütigung.

Und für alle praktizierenden Autokraten und jene, die es noch werden wollen, eine nicht zu überhörende Warnung. Denn das Ergebnis vom Sonntag bedeutet: Man kann einen Autokraten auch abwählen. Radikalisierung ist keine Einbahnstraße.

Die Botschaft ist auch deshalb so stark, weil sie nicht die einzige ermutigende Entwicklung der jüngeren Vergangenheit ist. Demütigend war es auch für Donald Trump, als er die Präsidentschaftswahl 2020 verlor. Er hat diese Niederlage bis heute nicht verwunden und leugnet das Ergebnis noch immer. Ein Verhalten, das eher an einen Sechsjährigen erinnert als an einen 76-Jährigen.

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nicht nur das mit Abstand Grausamste, das Wladimir Putin anderen antat, sondern auch die schlimmste Entscheidung, die er für sich und sein Regime getroffen hat. Das Ziel, Russland zu alter Stärke zurückzuführen, hat er längst verfehlt.

Ebenfalls demütigend muss es für Xi Jinping gewesen sein, als der vermeintlich allwissende Führer offenbar nicht einmal mehr annähernd mitbekam, was die Chinesen umtreibt und sie von einem Lockdown in den nächsten schickte. Doch dann musste der mächtigste Mann im Land tun, was eigentlich gar nicht vorgesehen ist, sich dem Druck der Bevölkerung beugen und eine Kehrtwende in der Coronapolitik vollziehen.

Im Iran muss ein Regime, das im 21. Jahrhundert Steinzeit-Methoden praktiziert, seit vergangenem Herbst Proteste ertragen. Der Tod der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini im Polizeigewahrsam löste in Teheran die schwerste politische Krise seit Jahrzehnten aus.

Nachdem der damalige brasilianische Präsident Jair Bolsonaro die Stichwahl gegen Luiz Inácio Lula da Silva verloren hatte, reiste er noch vor dem offiziellen Ende seiner Amtszeit beleidigt – und wohl auch aus Sorge vor juristischen Konsequenzen – nach Florida. Er kehrte erst nach drei Monaten in seine Heimat zurück.

Moment, werden Sie jetzt vielleicht denken. Aber ganz so positiv, wie es hier dargestellt wird, sind diese Beispiele doch gar nicht. Schließlich ist Erdoğan noch nicht abgewählt, Putin noch Präsident, das iranische Regime genauso wenig gestürzt wie das chinesische und die politische Karriere von Bolsonaro womöglich genauso wenig vorbei wie die von Trump.

Alles richtig. Ich möchte ja nur aufzeigen, dass es durchaus ermutigende Entwicklungen gibt. Ob sich das Pendel tatsächlich bereits von der Seite des Extremismus, Autoritarismus und Irrsinns wegbewegt, ist offen. Vielleicht ist die Lage in ein paar Jahren sogar schlimmer als heute – etwa, weil im Weißen Haus wieder Donald Trump sitzt und im Élysée-Palast Marine Le Pen.

Aber im Moment gibt es eben einige Zeichen der Hoffnung. Und nicht nur die zuvor genannten: In Israel ist der Dauer-Premier Benjamin Netanjahu angesichts seiner umstrittenen Justizreform so stark unter Druck wie nie. Die Bevölkerung kämpft für die Demokratie. In Polen scheint ein Machtwechsel im Herbst zumindest im Bereich des Möglichen zu sein. Und in Großbritannien gab es zuletzt Umfragen, nach denen mehr Bürger der Europäischen Union vertrauen als der eigenen Regierung – und eine Mehrheit sogar zurück ins Staatenbündnis möchte.


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Das Stimmungstestlein

Hätten die Bürger im Kreis Recklinghausen gestern einen neuen Landrat gewählt, wäre dies hier kein Thema. Weil Bremen allerdings ein Bundesland ist, kommt man am Wahlergebnis nicht vorbei – auch wenn es mit rund 680.000 nicht sehr viel mehr Einwohner als der erwähnte Kreis in Nordrhein-Westfalen hat. Womöglich fallen heute trotzdem Worte wie Stimmungstest, wenn in Berlin die Parteien über das Ergebnis beraten. Wahlsiegerin ist übrigens die SPD, die zuletzt nicht allzu erfolgsverwöhnt war. Die Zuwächse der Sozialdemokraten gingen zulasten der Grünen.

Fast hätte ich spätestens an dieser Stelle doch noch ausführlich über eine Landratswahl schreiben müssen. Im Landkreis Oder-Spree, der südöstlich von Berlin liegt, kam es gestern zur Stichwahl. Der Kandidat der SPD siegte zwar mit gut 52 Prozent, der Gegenkandidat kam allerdings von der AfD und erreichte fast 48 Prozent. Die Bürger erschreckte das Szenario, dass die AfD erstmals einen Landrat stellen könnte, offenbar nicht: Weniger als 38 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten sich.


Und dann auch noch Paris

Es sind intensive Reisetage für einen Mann, der eh ein brutales Leben führt: Am Samstag traf Wolodymyr Selenskyj die italienische Ministerpräsidentin, den Staatspräsidenten sowie den Papst in Rom, am Sonntag dann in Berlin zunächst den Bundeskanzler und den Bundespräsidenten, um anschließend stellvertretend für sein Volk den Karlspreis in Aachen entgegenzunehmen. Am Sonntagabend reiste der ukrainische Präsident noch weiter nach Paris zum französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Wohin es für Selenskyj am Montag geht, wird sich zeigen.


Lieber reden als streiken

Eigentlich sollten heute die Züge stillstehen. Doch am Samstag wurde der Warnstreik der Gewerkschaft EVG abgesagt, nachdem das Arbeitsgericht Frankfurt einen Kompromiss vermittelt hatte. Trotzdem werden heute wohl rund ein Drittel der Züge ausfallen. Ab morgen soll dann wieder alles normal laufen. Wobei das Wort normal bei der Bahn im Moment auch nicht allzu große Erwartungen wecken sollte.


Aller guten Dinge sind drei

Deutschland bestreitet am Nachmittag bei der Eishockey-WM sein drittes Gruppenspiel. Gegner sind die USA. Zwar gingen die ersten beiden Spiele gegen Finnland und Schweden verloren, die Mannschaft spielte aber beide Male auf Augenhöhe. Deshalb gilt das Motto, das Kapitän Moritz Müller ausgab: "Wenn wir so weitermachen, sind wir auf einem guten Weg."


Lesetipps

Deutschland – null Punkte. So lautete am Samstagabend das Urteil der meisten Länder über den Beitrag von "Lord of the Lost" beim Eurovision Song Contest. Entsprechend landete Deutschland schon wieder auf dem letzten Platz. Mein Kollege Steven Sowa urteilt: "Wir haben ein Problem. Ein Problem mit unserem Image, mit unserer Beliebtheit in der Welt."


Apropos Deutschland und die Welt: Bei uns fehlt es an Fachkräften. Im Interview mit meiner Kollegin Miriam Hollstein erklärt Daniel Terzenbach, Vorstand bei der Bundesagentur für Arbeit, was jetzt geschehen muss, um den deutschen Arbeitsmarkt zu retten.


In der Bundesrepublik habe es lange Zeit so etwas wie ein verlässliches Leben gegeben, Menschen mit normalen Einkommen hätten sich problemlos etwas aufbauen können, schreibt die Publizistin Liane Bednarz in einem Gastbeitrag. Doch sie kritisiert: "Unter der Ampelregierung wird Deutschland zum Schröpfstaat."


Zum Schluss

Dieser Tagesanbruch fing mit der Wahl in der Türkei an – und er endet mit ihr.

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Arbeitswoche, die bei vielen wahrscheinlich nur bis Mittwoch dauert. Morgen schreibt meine Kollegin Annika Leister den Tagesanbruch für Sie.

Herzliche Grüße,

Ihr

Ihr Sven Böll
Managing Editor t-online
Twitter: @SvenBoell

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Mit Material von dpa.

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