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Der helle Wahnsinn in Deutschland: Hier regiert eine quälende Langsamkeit


Tagesanbruch
Der helle Wahnsinn

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 12.06.2023Lesedauer: 7 Min.
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Weltkulturerbe als Dauerbaustelle: die Berliner Museumsinsel.Vergrößern des Bildes
Weltkulturerbe als Dauerbaustelle: die Berliner Museumsinsel. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

etwas zu tun, von dem man weiß, dass es bald nicht mehr möglich sein wird, sorgt für Genugtuung: Gut, dass ich die Chance noch einmal genutzt habe, sonst hätte ich mich später geärgert. Solche Gedanken gingen mir am Freitag durch den Kopf. Dabei habe ich nichts Besonderes gemacht, nur an einer Führung teilgenommen. Im Pergamonmuseum auf der Berliner Museumsinsel. Zu sehen ist dort eine der größten Sammlungen antiker Architektur.

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Wobei: nur so halb. Und eben bald nicht mehr. Der Nordflügel, wo der berühmte Pergamonaltar steht, wird bereits seit fast zehn Jahren saniert. Im Herbst schließt auch der Südflügel. Bis 2027 ist eines der berühmtesten Museen der Welt komplett zu, dann soll zumindest die eine Hälfte eröffnen. Die gesamte Ausstellung wird allerdings erst wieder 2037 zu bewundern sein, wenn auch die andere Hälfte saniert ist. So zumindest der Plan.

Wobei man wissen muss, dass der Pergamonaltar eigentlich bereits seit 2019 wieder zu sehen sein sollte. Nun wird es wohl acht Jahre später. Dass die ursprünglichen Kosten nicht mehr die Excel-Tabelle wert sind, in der sie mal standen, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Stand jetzt kostet die komplette Sanierung wohl 1,2 Milliarden Euro.

Warum ich Ihnen das alles erzähle? Weil ich es für hellen Wahnsinn halte. Damit meine ich weniger den Betrag, den die Sanierung des Weltkulturerbes verschlingt, sondern vielmehr den unfassbaren Zeithorizont.

Ich finde, dass wir es langsam wirklich übertreiben mit unserer Langsamkeit. Deutschland scheint der einzige Industriestaat der Welt zu sein, der zwar kein Tempolimit hat, aber abseits der Autobahnen bestenfalls rumkriecht. Was wir dringend bräuchten, wäre eine Mindestgeschwindigkeit – vor allem für den Neubau und die Sanierung von Infrastruktur.

Selbst wenn das Pergamonmuseum 2037 tatsächlich durchsaniert sein sollte, werden die gesamten Arbeiten fast ein Vierteljahrhundert gedauert haben. Also noch länger als die 20-jährige Bauzeit des Museums. Zwischen 1910 und 1930 kamen allerdings ein Weltkrieg, eine Revolution, die Hyperinflation und eine Weltwirtschaftskrise dazwischen. Und – auch das habe ich nachgelesen, weil ich zugegebenermaßen nicht dabei war –, die Cheops-Pyramide wurde offenbar in rund 20 Jahren errichtet.

Natürlich will ich 2023 nicht mit der Zeit vor 100 Jahren und schon gar nicht mit der vor 4.500 Jahren vergleichen. Ich finde es wunderbar, was für großartige Fortschritte es beim Rechtsstaat im Allgemeinen und beim Arbeitsschutz im Besonderen gegeben hat. Aber wir sollten eben auch nicht vergessen, dass die Bauindustrie heute über deutlich bessere Möglichkeiten verfügt als früher.

Die Frage, die wir uns dringend stellen sollten, lautet: Bauen wir heute wirklich so schnell, wie es möglich wäre? Ich fürchte, die Antwort lautet fast immer nein.

Um zu sehen, wie es deutlich besser geht, müssen wir nicht nach China blicken, wo eine Brücke auch schon mal in 43 Stunden ausgetauscht wird. Wir sollten uns aber an einem Land messen, das wie wir ein moderner Rechtsstaat ist: In den Niederlanden gelang es bereits vor Jahren, innerhalb von nur einem Wochenende einen Tunnel unter einer Autobahn zu bauen. Dass es dafür bei uns wohl zu jahrelangen Einschränkungen gekommen wäre, erscheint mir keine allzu gewagte These.

Es ist häufig sinnvoller, eine Strecke für einen kurzen Zeitraum komplett zu sperren als für lange Zeit immer mal ein bisschen. Doch aus dieser Erkenntnis werden in Deutschland viel zu wenige Konsequenzen gezogen.

Und wenn es jemand tut, wird es gleich konterkariert: Vor einigen Monaten kündigte die Deutsche Bahn großspurig an, künftig wichtige Korridore für Monate zu sperren und komplett zu erneuern, statt unter dem rollenden Rad mal hier etwas auszutauschen und dort ein wenig rumzuschrauben. Ein Konzept, das erst einmal überzeugend klingt.

So soll etwa die wichtige Verbindung zwischen Berlin und Hamburg im zweiten Halbjahr 2025 generalsaniert werden. Trotzdem erklärte der Konzern vor wenigen Tagen, die Strecke werde bereits im nächsten Jahr für vier Monate gesperrt, um Gleise und Weichen zu erneuern. Erst danach folgt die Generalsanierung. Wenn dann gerade erst ausgetauschtes Material erneuert werden sollte, würde einen das auch nicht mehr wundern.

Auch sonst gibt es immer wieder haarsträubende Beispiele für mieses Baustellenmanagement.

Ihnen werden unzählige aus Ihrer Region einfallen, mir unter anderem diese beiden: An einer von Autos und Radfahrern viel genutzten Kreuzung auf meinem Arbeitsweg wurde die Fahrbahnmarkierung erneuert. Die eigentlichen Arbeiten dauerten gerade mal einen Tag, die Sperrung allerdings eine Woche (beim Auf- und Abbauen wurde getrödelt und ein Wochenende lag überraschenderweise auch noch dazwischen). Und dann gibt es in Berlin-Mitte gleich hinter dem Roten Rathaus seit 2019 eine geradezu absurd anmutende Dauerbaustelle. Anders als man vermuten könnte, wird dort nicht über der Straße ein Wolkenkratzer errichtet, sondern die Fahrbahn um ein paar Meter verlegt.

Es gibt immer irgendwelche Gründe für die deutsche Langsamkeit. Dass es mehr als 25 Jahre dauerte, bis die ICE-Trasse von Berlin nach München fertig war, lag auch am zwischenzeitlichen Baustopp. Dass Stuttgart 21 mal viel günstiger werden und 2019 eröffnen sollte, lag an politisch gewollten, illusorischen Vorgaben. Dass der Ausbau der Infrastruktur für den Rhein-Ruhr-Express, der den Nahverkehr in Nordrhein-Westfalen deutlich verbessern soll, bis in die 2030er-Jahre dauert, hat auch mit komplexen Planfeststellungsverfahren zu tun.

Auch dafür, dass noch immer nicht jeder Haushalt Zugang zu schnellem Internet hat, es noch immer weiße Flecken im Mobilfunknetz gibt, der Ausbau der Ladesäulen für E-Autos noch immer nur schleppend vorankommt, noch immer viel zu wenige Windräder gebaut werden, können einem die Beteiligten irgendwelche Gründe nennen.

Aber kann es wirklich unser Anspruch sein, uns mit dem Zustand eines Ja-aber-Landes zufriedenzugeben? Ja, es stimmt natürlich, dass alles zu lange dauert, aber da ist eben dies und das. Sei es die Bürokratie, seien es fehlende Fachkräfte, seien es die Widerstände von Bürgern vor Ort.

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Diese Themen sind alle nicht neu. Unser eigentliches Problem ist, dass wir zwar ganz gut in der Analyse sind, aber richtig schlecht in der Umsetzung. Im Falle der Infrastruktur heißt das: Wir planen zu lange und bauen zu langsam, obwohl wir es besser wissen.

Der Stillstand hat auch damit zu tun, dass wir in analogen bürokratischen Prozessen erstarrt sind. Viel wichtiger erscheint mir jedoch, dass sich offenbar niemand wirklich verantwortlich fühlt, am Status quo tatsächlich etwas zu ändern. Hakt der Minister täglich nach, wenn Planungen nicht vorankommen? Macht die Bürgermeisterin Druck, wenn die Baufirma trödelt? Lässt sich der Museumsdirektor nicht abspeisen, wenn alles teurer wird?

Spräche man den Kanzler darauf an, würde Olaf Scholz mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von der "neuen Deutschland-Geschwindigkeit" schwärmen, die sich beim Bau der schwimmenden Flüssiggas-Terminals gezeigt habe. Und davon erzählen, dass die Regierung Planungs- und Genehmigungsprozesse grundsätzlich beschleunigen wolle.

Was er vermutlich nicht erwähnen würde, wären zwei nicht ganz unwesentliche Einschränkungen: Die Koalition konnte sich bislang nicht darauf einigen, die von ihr versprochenen Beschleunigungen auch tatsächlich auf den Weg zu bringen. Und für die schwimmenden LNG-Terminals musste kaum Infrastruktur gebaut werden, entscheidend war das zügige Chartern der Schiffe. Es war also eher eine kleine Übung.

Bereits beim Bau der stationären LNG-Terminals wird es deutlich komplizierter. Und dann gibt es, nun ja, noch viele andere Projekte – unter anderem sanierungsbedürftige Museen.


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Zum Schluss

Und hier noch eine Warnung an alle großen Menschen ...

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in eine sonnige Woche. Morgen schreibt wieder Florian Harms den Tagesanbruch für Sie.

Ihr Sven Böll
Managing Editor t-online
Twitter: @SvenBoell

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Mit Material von dpa.

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