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Kulturkampf um Gendersternchen und Co.: Ein schlechtes Zeichen für die Zukunft


Tagesanbruch
Explosion am Frühstückstisch

  • Annika Leister
MeinungVon Annika Leister

Aktualisiert am 19.06.2023Lesedauer: 7 Min.
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Markus Söder, Friedrich Merz: Ihre Parteien fachen gerne an, was Experten "Kulturkampf" nennen.Vergrößern des Bildes
Markus Söder, Friedrich Merz: Nicht nur ihre Parteien fachen gerne an, was Experten "Kulturkampf" nennen. (Quelle: IMAGO/Frank Hoermann/SVEN SIMON)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

spielen wir an diesem Morgen doch mal Bingo. Setzen Sie in Ihrem Kopf bitte ein Kreuz, wenn Ihnen zu folgenden Begriffen konkrete Forderungen aus den Parteien einfallen:

  • Winnetou
  • Indianerkostüm
  • Puffmutter Layla
  • Zigeunerschnitzel
  • Gendersternchen
  • Basteln im Kindergarten zu Muttertag

Alle Felder getroffen? Dann gleich die nächste Runde: Was fällt Ihnen an konkreten Forderungen ein, wenn Sie die Worte hören:

  • Krankenhausreform
  • Gemeinsames Europäisches Asylsystem
  • Gebäudeenergiegesetz
  • Nationale Sicherheitsstrategie

Kreuze zu setzen, dürfte den allermeisten Menschen beim zweiten Teil wesentlich schwerer fallen. Dabei geht es dort um politische Debatten, Gesetze und Beschlüsse, die größer, teurer, einflussreicher sind für ihr Leben und dieses Land als alle Winnetou-Debatten zusammengenommen.

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Den Bürgern ist das nicht vorzuwerfen. Der Politik schon. Denn die spezialisiert sich beim Buhlen um die Wählergunst zunehmend darauf, Debatten in einem Stil zu führen, wie ihn in früheren Zeiten nur die AfD und noch rechtsextremere Akteure pflegten. Und viele nur auf Klickzahlen schielenden Medien spielen dabei gerne mit.

"Kulturkampf" wird das unter Experten und in den Medien gerne genannt. Denn die Felder, die mit schrillen Tönen beackert werden, betreffen Leben und Alltag fast aller Menschen und sind deswegen besondere Reizpunkte: Ernährung, Sprache, Erziehung, Sex und Gender, Mobilität. Sie taugen, um Linke von Rechten und Alte von Jungen zu trennen. Für Politiker bieten sie deswegen die Chance zur recht zielgenauen Wählermobilisierung.

Dabei ist "Kulturkampf" eigentlich ein schlechter Begriff für das, was sich da abspielt. Denn um Kultur geht es oftmals gar nicht. Sie wird lediglich instrumentalisiert, um Nebenschauplätze zu Hauptkampforten zu erklären, den politischen Gegner zu beschädigen und die eigene Partei zu inszenieren.

Oft wird dabei mit groben Vereinfachungen oder gar mit Fake News gearbeitet. Winnetou-Bücher und -Filme sollten zum Beispiel nie verboten werden. Es gibt keinen Zwang, keine Pflicht zum Gendern. Die Empörung ist bei näherer Betrachtung oft auf Sand gebaut.

Die AfD schreibt sich den "Kulturkampf" in diesem Stil seit Jahren genau mit diesem Begriff auf die Fahne, einige ihrer Politiker sind schon lange beim "Kulturkrieg" angekommen. Sie wettern gegen vermeintlich "linksgrün versiffte" Institutionen und Gesetze. Unter dem Deckmantel von "Das wird man wohl noch sagen dürfen" und "Alles soll so bleiben, wie es ist" wenden sie sich nicht zuletzt gegen rechtsstaatlich verbriefte Freiheiten und Grundrechte von Minderheiten und Frauen. Wäre die AfD an der Macht, bliebe für sie tatsächlich wenig so, wie es ist.

Zunehmend aber begeben sich auch andere Parteien, allen voran die Union und die FDP, in diesen zerstörerischen Strudel. Parteipolitisch ist das leicht zu erklären: Der Union fällt nach 16 Jahren im Kanzleramt in der Opposition gerade schmerzlich auf, dass ihr ein eigenes Profil fehlt. Sie versucht, die Leerstellen zu überbrücken. Die FDP hingegen fürchtet, ihr Profil in der Regierungskoalition mit SPD und Grünen zu verlieren und dreht umso lauter auf. Erst kommen wir, dann die Gesellschaft – so lautet offenbar das Motto in den Parteizentralen von CDU, CSU und FDP.

Doch auch die Parteien im linken Spektrum sind nicht schuldlos: Die Grünen geben sich in der Regierung zwar gemäßigt, versuchen Klimapolitik aber allzu oft ohne die dringend nötige soziale Absicherung durchzusetzen – und bieten so eine dankbare Angriffsfläche für "Kulturkampf"-Diskussionen. Die Linke schlägt sich auf die Seite der extremen Klimaschützer der "Letzten Generation" und vergisst darüber all jene, die ihr Auto brauchen, um zur Arbeit zu kommen. Und die SPD sieht allzu oft schweigend zu, obwohl ihr als Kanzlerpartei die Aufgabe zukäme, Ordnung zu schaffen und den Diskurs zu dirigieren.

Das alles führt zu einem zunehmend toxischen Diskussionsklima und einer Spaltung im Land. Ich erlebe es in meinem eigenen Umfeld: Da genügt schon ein Stichwort ("Winnetou", "Habeck", "Heizung"), um am Frühstückstisch eine Explosion auszulösen. Und vielen Menschen scheint es genauso zu gehen: Einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa im Auftrag der "Welt am Sonntag" zufolge erleben 65 Prozent der Befragten Deutschland als gespalten. In Ostdeutschland ist die Zahl mit 70 Prozent noch etwas höher.

Zwei zentrale Zukunftsthemen drohen dabei nun besonders unter die Räder zu geraten: der Klimaschutz und die Asylfrage. Weil beide verstärkt populistisch bearbeitet werden, geht der so wichtige Grundkonsens verloren, der eigentlich auf beiden Feldern schon gefunden war.

So kaschiert der Protest von FDP und Union gegen das Gebäudeenergiegesetz – im Populisten-Sprech "Heiz-Hammer" genannt – dass beide Parteien ein Gesetz für das Ende fossiler Heizungen ebenso hätten umsetzen müssen wie Grünen-Politiker Habeck, wenn sie statt seiner derzeit das Sagen im Bundeswirtschaftsministerium hätten. Er vertuscht ebenso, dass auch FDP und Union sich dafür aussprechen, die Klimakrise dringend zu bekämpfen. Denn natürlich wissen auch sie genau: Es muss sich etwas ändern – sonst sind vielleicht nicht wir, spätestens aber unsere Kindeskinder verloren.

Auch auf dem Feld der Asylpolitik schießen derzeit viele Parteien mit Platzpatronen. Von "Sozialtourismus" und "Paschas" spricht Friedrich Merz, doch auch fast alle anderen Parteien fordern eine Begrenzung der Zuwanderung, mehr Abschiebungen, Gefängnisse und Asyl-Zentren an den Grenzen. Wie das alles umzusetzen ist, ist dabei nicht nur mit Blick auf die europäischen Partner fraglich, sondern auch mit Blick auf Menschen- und Grundrechte. Denn nur allzu gern wird derzeit unterschlagen, dass es in Deutschland ein Recht auf Asyl gibt – also ein Recht auf Zuflucht für Verfolgte, von Krieg und Zerstörung Heimgesuchte, für Leidende.

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Mitten in der Diskussion seiner Partei um ein neues Grundsatzprogramm bedient nun Ex-Gesundheitsminister und CDU-Vizevorsitzender Jens Spahn erneut den "Kulturkampf"-Populismus: In einem Interview mit der "Welt am Sonntag" wirft er der Bundesregierung vor, "Kulturkämpfe" zu befeuern und die Lebensentwürfe von Millionen Deutschen infrage zu stellen. Dabei bemüht er gar das Gefühl des Verlorenseins der Menschen in Ostdeutschland nach der Wende als Parallele.

Eine Finte, natürlich – schließlich ist Spahn selbst einer der aktivsten Akteure im Kulturkampf und stellt es mit diesem Interview erneut unter Beweis. Aber auch ein schlechtes Zeichen für die Zukunft: Geht es nach Spahn, wird seine Partei im Ringen um Erfolg weiter auf der Welle der vergangenen Monate reiten.

Als Symbol dafür taugt auch der Auftritt von Ex-Rekordsportlerin Claudia Pechstein in Polizeiuniform beim kleinen Parteitag der CDU am Wochenende. Die trug holprig Bauchgefühle zu Asyl, Sicherheit und Abschiebungen vor und wurde dafür eifrig beklatscht. Offenbar ist inzwischen jeder auch noch so unqualifizierte Beitrag willkommen, trifft er nur gut genug den Tenor an den Stammtischen der Nation.

Dabei wäre nicht nur die Union besser beraten, auf die Kritiker an diesem Kurs in ihren Reihen zu hören. Populismus bringe die Union nicht weiter, sagt zum Beispiel Schleswig-Holsteins CDU-Ministerpräsident Daniel Günther. Er empfiehlt stattdessen: "Kurs der Mitte, sprachlich sauber bleiben, keine Debatten über das Gendern und andere Nebensächlichkeiten führen – den Leuten halt keinen Scheiß erzählen."

Nicht nur die Parteien, auch die Medien sollten in diesem Fall von Günther lernen. Nicht jedes Thema, das durchs Dorf getrieben wird, sollte als "Kulturkampf" geadelt werden. Viel häufiger sollte klar benannt werden, was da eigentlich passiert – und als "Scheiß erzählen" entlarvt werden.


Rekorde für Rammstein

Die Vorwürfe gegen Rammstein und Till Lindemann wiegen schwer. Die Ermittlungen der Behörden laufen. Gesichert scheint aber schon jetzt: Junge Frauen wurden auf den Partys des Frontmanns behandelt und genutzt wie Sexspielzeug.

Das trifft auch die Band und das gesamte Umfeld: In der Crew soll der Raum, in dem Lindemann während Konzerten Oralverkehr hatte, als "Suck Box", also "Lutsch-Box" bekannt gewesen sein. Der Tross zu Lindemanns Privatpartys soll allgemein als "Schlampenparade" und die größere Aftershowparty der Band als "Resteficken" gegolten haben.

Viele Fans der Band rufen offenbar trotzdem fröhlich: "Mir doch egal" – und verschaffen Rammstein gerade neue Rekorde. Sechs ihrer Alben sind wieder in die Top 100 der Albumcharts geschossen. Das ist wichtig festzuhalten, weil der Vorwurf erhoben wird, Rammstein werde gecancelt, bevor die Vorwürfe überhaupt überprüft worden seien. Das Gegenteil ist richtig: Der Rubel rollt trotz Frauenverachtung.


Was wichtig wird

Die chinesische Regierung besucht Berlin: Am Morgen werden Ministerpräsident Li Qiang und mehrere Minister von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfangen, danach besucht ein Teil der Delegation Entwicklungsministerin Svenja Schulze, ab 18 Uhr begrüßt Bundeskanzler Olaf Scholz den Ministerpräsidenten und isst mit ihm zu Abend. Richtig los geht es dann ab Dienstag mit den siebten deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen.

Zuvor spricht der Kanzler am Montag ab 11 Uhr mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Größte Themen dürften dabei der Krieg in der Ukraine und die Ausrüstung der Bundeswehr sein. Nach dem Treffen steht eine Pressekonferenz auf dem Plan.

In Russland startet derweil der erste ordentliche Verhandlungstag in einem neuen Prozess gegen Kreml- und Putinkritiker Alexej Nawalny. Seit 2021 ist er bereits inhaftiert, nun wird ihm Extremismus vorgeworfen. Ihm drohen weitere Jahre Haft.


Was lesen?

Verteidigungsminister Boris Pistorius ist derzeit der beliebteste Politiker Deutschlands. Und gilt einigen schon als möglicher Kanzlerkandidat der SPD. Was er von diesen Gerüchten hält, wie er junge Leute für die Bundeswehr gewinnen will und warum er im Fußball früher den Spitznamen "Kamikaze" hatte, hat er meinen Kollegen Sven Böll und Miriam Hollstein im Interview verraten.

Die Grünen haben auf einem kleinen Parteitag über die EU-Asylreform gestritten. Zum großen Eklat kam es zwar nicht. Doch es bleibt viel Misstrauen – besonders gegen Annalena Baerbock. Warum, erklärt mein Kollege Johannes Bebermeier hier.

Wieder gibt es ein Fischsterben in der Oder – und wieder haben die polnischen Behörden die deutschen nicht informiert. Mein Kollege Jonas Mueller-Töwe berichtet hier über den Fall.

Schreckmoment für Helene Fischer, ihr Team und Tausende Fans: Der Schlagerstar hat sich auf der Bühne verletzt – so schwer, dass das Konzert am Sonntagabend in Hannover abgebrochen werden musste. Hier lesen Sie mehr zu dem Vorfall.


Das historische Bild

1945 versenkte ein japanisches U-Boot die "USS Indianapolis", für die Schiffbrüchigen begann ein Martyrium. Mehr lesen Sie hier.


Ohrenschmaus

Über den Rammstein-Skandal und die Diskussion um Sexismus im Rock gerät manchmal in Vergessenheit, welche Freiräume die Musikbranche für Frauen bereithalten kann. Bestes Beispiel für eine, die diese Freiräume eroberte: Betty Davis. Als schwarze Frau trat sie schon in den 70ern für die sexuelle Freiheit der Frau ein und kämpfte ganz selbstverständlich gegen das, was man heute als "Victim-Blaming" und "Slutshaming" bezeichnet. Ob "Nasty Gal" oder "They say I’m different" – die Alben dieser Pionierin seien wärmstens empfohlen. Alle, die nur ein paar Minuten haben, können hier den Song "Nasty Gal" hören.


Zum Schluss

Umfrageerhebung nach Friedrich Merz:

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche. Morgen begleitet Florian Harms Sie wieder in den Tag.

Herzlichst

Ihre Annika Leister
Politische Reporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @AnnLei1

Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.

Mit Material von dpa.

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