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Ukrainische Sommer-Offensive: Im Ukraine-Krieg bahnt sich ein Ergebnis an


Tagesanbruch
Im Ukraine-Krieg bahnt sich ein Ergebnis an

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 22.06.2023Lesedauer: 7 Min.
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Ukrainischer Soldat an der Frontlinie nahe Bachmut.Vergrößern des Bildes
Ukrainischer Soldat an der Frontlinie nahe Bachmut. (Quelle: Iryna Rybakova/AP/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

die Sonne scheint, der Wind raschelt in den Baumkronen: Der Sommer ist eine Jahreszeit, in der einem das Herz aufgehen kann. Alles wächst und gedeiht. Man schreitet durch das hohe Gras, lässt den Blick über dichte Büsche und sattgrüne Wälder wandern, hier ein Bächlein, dort eine Baumreihe, voraus die saftige Wiese. Welch ein Idyll! Ein Bild des Friedens. Bis zum Moment, in dem die Wiese explodiert.

Die sommerliche Pracht ist oft ein Schmuck, manchmal ist sie Tarnung. Daheim freuen wir uns über lange, helle Tage, genießen das Gefühl der Leichtigkeit und spazieren am Wochenende durch das üppige Grün, um die Seele aufzutanken. Weiter südöstlich schleichen Menschen wie wir geduckt durch die Natur, immer auf der Hut, um ihr Leben nicht im nächsten Moment auszuhauchen. Die Baumreihe am Bach birgt keine trillernden Vögel, sondern vielleicht ein Maschinengewehrnest. Das Rauschen in den Blättern kann jederzeit in das Pfeifen einer heranrasenden Granate umschlagen. Im Gras der dichten Wiese liegen irgendwo die Minen: viele, eine neben der anderen. Die Wälder und Auen in Deutschland und im Süden der Ukraine mögen sich ähneln, doch während sie hierzulande Erholung versprechen, bergen sie dort Todesangst.

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Die ukrainische "Sommeroffensive" schreitet fort: Das Wort ist voller Täuschungen. Von der Freude an der Jahreszeit ist in ihm nichts geblieben. Und in der forschen Offensive schwingt auf einmal eine neue Bedeutung mit. Politiker und Militärs in Europa werden nicht müde zu betonen, dass der große ukrainische Gegenschlag lange dauern und verlustreich verlaufen werde. Die Erkenntnis ist nicht neu. Doch aus den Stellungnahmen ist mittlerweile ein so intensives Bemühen um die Dämpfung der Erwartungen herauszuhören, dass daraus eine Botschaft wird: Die ukrainische Sommeroffensive läuft nicht wie erhofft.

Gestern hat auch Präsident Selenskyj zu Protokoll gegeben, dass der ukrainische Gegenangriff auf die russischen Besatzer "langsamer als gewünscht" vorankommt. Neue Brigaden sind aufgestellt und in Nato-Staaten wie Deutschland ausgebildet worden. Neue Waffen – von den deutschen Leoparden bis zu amerikanischen Bradley-Schützenpanzern – und Unmengen von Munition haben im Vorfeld der Offensive die Ukraine erreicht. Zwei Wochen nachdem die neue, intensive Kampfphase begann, haben die ukrainischen Soldaten ein paar kleine Dörfer eingenommen. Die Geländegewinne sind zu gering, um sie auf einer Karte ohne Lupe zu erkennen. Die Gefechte verlaufen heftiger als erwartet, um jeden Meter wird erbittert gekämpft. Trotzdem sind die ukrainischen Truppen noch weit davon entfernt, die schwer befestigte russische Hauptverteidigungslinie überhaupt zu erreichen. Das Gemetzel spielt sich an den vorgeschobenen Stellungen der Russen ab.

Warum kommen Kiews Kämpfer nur so langsam voran? Ein wichtiger Teil des Problems ist mit drei Worten umrissen: Minen, Drohnen, Hubschrauber. Die geradezu irrwitzig dichte Verminung der Kampfzone macht den Ukrainern zu schaffen. Unabhängig davon, wer am Ende die Oberhand behält, werden diese Minen in der gesamten Region noch für Jahrzehnte eine Gefahr bleiben. Die Bilder zerstörten westlichen Geräts, darunter moderne deutsche Leopard-Kampfpanzer, sind in solchen Minenfeldern entstanden. Eine unerwartet große Rolle spielen russische Kampfhubschrauber, die außerhalb der Reichweite der ukrainischen Luftabwehr operieren. Sobald Kiews Truppen vorrücken, verlassen diese die geschützte Zone und geraten ins Visier der feindlichen Helikopter, die aus der maximal möglichen Entfernung ihre Raketen abfeuern – entsprechend nicht immer zielgenau, aber ohne ihren eigenen Abschuss zu riskieren. Dasselbe Prinzip macht die russische Luftwaffe sich bei ihren Gleitbomben zunutze, die große Entfernungen überwinden und von den Kampfjets fernab der Front abgefeuert werden. An dieser Art von Munition herrscht kein Mangel, weil sich die riesigen Bestände gewöhnlicher Fliegerbomben in den russischen Arsenalen mit relativ geringem Aufwand in eine gleitende Variante umrüsten lassen.

Die russischen Hubschrauber und Gleitbomben bringen Kiews Kommandeure in die Zwickmühle: Entweder bleiben ihre offensiven Verbände den Angriffen aus der Luft schutzlos ausgesetzt. Oder die Flugabwehrsysteme rücken näher an die Front. Dort laufen sie allerdings Gefahr, entdeckt und selbst zum Ziel zu werden – attackiert von Kamikazedrohnen oder sogar von Scharfschützen. Das Dilemma ist ein Detail in einem größeren Bild: Die russischen Streitkräfte machen keine so haarsträubenden Fehler mehr wie noch vor einem Jahr. Sie haben viel dazugelernt.

Problematisch für die ukrainische Offensive ist aber nicht nur das Wie, sondern auch das Wo: Der Vorstoß zielt darauf, Russlands Landverbindung zur besetzten Krim zu durchtrennen. Seit Monaten spekulierten Experten deshalb über einen Angriff in diesem Bereich der Front. Auch für die Russen ist er keine Überraschung. In der bisherigen Stoßrichtung treffen die ukrainischen Verbände daher auf einige der am besten befestigten Verteidigungsstellungen der Russen. Entsprechend blutig geht es an der Front zu, und das wird noch schlimmer werden. Ob die ukrainischen Generäle anderswo noch eine wirklich unerwartete Attacke starten, können wir nicht vorhersagen. Sie halten nach wie vor starke Verbände zurück. Klar ist aber auch: Ein bloßes Ablenkungsmanöver sind die jetzigen Kämpfe nicht.

Was bedeutet das alles? In Deutschland haben wir lange über die Lieferung von Leopard-Panzern gestritten. In der heftigen Debatte konnte man die Stahlungetüme irgendwann für Erlösergestalten halten. Tatsächlich sind die westlichen Panzer, wie jedes andere Ausrüstungsstück auch, kein Wundermittel auf dem Schlachtfeld. Sie ersetzen zerstörtes Material und sind Teil der langfristigen Umstellung der ukrainischen Streitkräfte auf westliche Technik. Aber durch die russischen Linien einfach hindurchrauschen kann man damit nicht.

Die Erkenntnis ist verallgemeinerbar: Neue Waffensysteme für die Ukraine sind zwar notwendig, aber kein Allheilmittel. Wer überhöhte Hoffnungen in die Leoparden, Bradleys und so weiter gesetzt hat, für den ist es höchste Zeit, wieder herunterzukommen. Denn im Vorfeld der Lieferung von Kampfjets läuft derselbe Hype-Zyklus nun schon wieder ab. Über Wunderkräfte verfügen auch die amerikanischen F-16-Jets nicht, die Kiew in absehbarer Zeit erhalten wird.

Aus den ersten Wochen der ukrainischen Sommeroffensive lässt sich noch keine endgültige Erkenntnis ableiten, dafür ist es zu früh. Aber wir können eine fundierte Prognose formulieren: Die Zeit der blitzartigen, überraschenden Siege, wie sie im vergangenen Sommer für die Ukraine noch möglich waren, scheint vorbei zu sein. Nicht nur die russischen Angreifer tun sich bei ihren Offensiven schwer und erleiden hohe Verluste wie in Bachmut. Nun gilt das auch umgekehrt. Hoffnungen auf eine baldige Entscheidung auf dem Schlachtfeld sind deshalb unrealistisch. So bitter es ist: Europa steht vermutlich noch ein jahrelanger Krieg mit vielen Opfern bevor. Wir müssen damit rechnen, dass am Ende ein erstarrter Konflikt zurückbleibt – und die Entscheidung nicht im Kampf, sondern am Verhandlungstisch fällt.

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Zum Schluss

Ab heute fahren wieder Google-Autos durch Deutschland, um Fotos für den Dienst "Street View" zu schießen.

Vergessen Sie aber auch Ihre Regenjacke nicht, es soll heute vielerorts stürmen! Dazu passt dieser Ohrenschmaus. Morgen kommt der Tagesanbruch von Peter Schink, von mir hören Sie am Samstag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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