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Nato-Gipfel: Die Ukraine darf jetzt noch nicht beitreten


Tagesanbruch
Westen trifft folgenschwere Entscheidung

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 11.07.2023Lesedauer: 7 Min.
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Wolodymyr Selenskyj will die Ukraine in die Nato führen.Vergrößern des Bildes
Wolodymyr Selenskyj will die Ukraine in die Nato führen. (Quelle: Petr David Josek/AP)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

so einen strahlenden Sieger hatte die Welt lange nicht gesehen. Am 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation Nazideutschlands, trat der Mann mit Zigarre auf den Balkon des Regierungsgebäudes in London, blickte auf das jubelnde Menschenmeer und hob die Hand zum Victory-Zeichen: Winston Churchill, der Großbritannien durch die finstersten Tage des Zweiten Weltkrieges gelenkt, das Land selbst in den dunkelsten Stunden zusammengehalten und schließlich zum Sieg geführt hatte, wurde von seinen Landsleuten gefeiert und verehrt, wie es nur wenigen Menschen vergönnt ist. Der Krieg war gewonnen, die Nation stand hinter ihm, der Sieg war sein. Genau 58 Tage später, am 5. Juli 1945, machten die Briten ihr Kreuzchen in den Wahlkabinen – und wählten Premierminister Churchill ab.

Heute kommen in der litauischen Hauptstadt Vilnius die Regierungschefs der Nato-Mitgliedsstaaten zusammen, um über die Geschicke der Allianz, aber auch die Beitrittsperspektive für die Ukraine zu beraten. Es ist ein guter Moment, um sich an den Kriegshelden des Zweiten Weltkrieges, seinen Triumph und seinen rasend schnellen Fall zu erinnern. "Passt auf", flüstert uns der Geist Churchills aus der Nachkriegszeit zu: Ein Land im Krieg und ein Land nach dem Krieg – das ist nicht dasselbe. Die nationale Einheit angesichts der äußeren Gefahr kann widerstandsfähig wie eine Distel sein und zugleich ein zartes Pflänzchen. Geschlossen steht die Nation hinter ihrem Repräsentanten an der Spitze. Aber sobald der Frieden kommt, ist es damit vorbei.

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Die Ukraine, die wir jetzt erleben, ist nicht die Ukraine, die wir nach dem Krieg bekommen. Politische Spielchen, öffentliche Auseinandersetzungen um den richtigen Kurs, Zoff innerhalb der Regierung und mit der Opposition, Uneinigkeit auch in der Bevölkerung, Profilierungsversuche und Populismus: Das gibt es in jeder Demokratie, und auch in der Ukraine ist der politische Alltag nur auf Pause. Von populistischen Tendenzen ist das Umfeld von Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst jetzt im Krieg nicht frei. In Deutschland hat der ehemalige Botschafter Andrij Melnyk dieser Strömung ein Gesicht gegeben; geschadet hat es seiner Karriere übrigens nicht.

Von den Machtkämpfen in Selenskyjs Regierungsmannschaft dringt nur selten etwas nach außen, von den Differenzen im Militär- und Sicherheitsapparat erst recht nicht. Wie sich die Parteienlandschaft der Ukraine nach dem Krieg gestaltet, lässt sich noch nicht vorhersehen. Und auch nicht, wer dann an der Spitze steht. Wie wird der politische Diskurs aussehen, welche Kräfte werden den Ton angeben? Wird die allgegenwärtige Korruption wieder ihr hässliches Haupt erheben oder, begleitet von Druck aus dem Westen, endlich überwunden? Werden halbseidene Akteure auf die politische Bühne zurückkehren, Oligarchen ihren Einfluss wieder geltend machen? Und vor allem: Werden die schlimmen Erfahrungen des Krieges die demokratischen Grundwerte noch fester in der Ukraine verankern oder Großmäulern und Ultranationalisten zum Durchbruch verhelfen? Niemand kann das jetzt wissen.

Schön und gut, werden Sie jetzt vielleicht sagen, aber wenn man ehrlich ist, kann man auch anderen Nationen in Europa eine gesicherte demokratische Zukunft nicht ohne Weiteres bescheinigen. Selbst den Schwergewichten nicht: In Italien bestimmt die "post-faschistische" Regierungschefin Giorgia Meloni, wo es langgeht – nein, "faschistisch" klingt gar nicht gut, da hilft auch die Vorsilbe nichts. In Frankreich hat die Partei der Rechtsextremistin Marine Le Pen durchaus Grund zur Hoffnung, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen endlich den Élysée-Palast zu erobern. Und wo wir schon dabei sind: Reden wir uns in Deutschland nicht über den Höhenflug einer Partei die Köpfe heiß, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall beobachtet wird? Wenn wir über die demokratischen Referenzen der Ukraine urteilen, sitzen wir besser nicht auf dem hohen Ross. Mehr als ein Pony ist nicht drin.

Vom Rücken unseres Pferdchens haben wir immerhin eine gute Aussicht auf unsere unmittelbare Umgebung. Lässt man den Blick zu unseren Nachbarn und Partnern in der Nato schweifen, wird schnell klar, wogegen die Allianz sich wappnen muss: Die größte Gefahr für die Nato kommt nicht aus dem Osten – sondern von innen. Vergrößerte Munitionsfabriken und nagelneue Panzer helfen dagegen leider nicht. Es ist erst vier Jahre her, dass Frankreichs Präsident Macron die Nato für "hirntot" erklärte, angesichts ihrer Zerrissenheit und des zerstörerischen Kurses von US-Oberbefehlshaber, pardon: Oberhallodri und Putin-Kumpel Donald Trump.

Der Donald mag zurzeit zwar weg vom Fenster sein, aber Sand ins Getriebe streuen dafür jetzt andere. Ungarns Premier Viktor Orbán zündelt als Putins verlängerter Arm in Europa. Kollege Erdoğan macht mit Moskau blendende Geschäfte und kaufte dort zum Entsetzen der übrigen Allianz sogar hochsensible Luftabwehrsysteme ein. Gemeinsam haben die beiden Nationalisten monatelang die Aufnahme Schwedens in die Nato blockiert, und das auch noch mitten in Kriegszeiten, ungeachtet der enormen strategischen Bedeutung des Landes für die Verteidigung von Ostsee und Baltikum. Erst gestern Abend gab der Sultan aus Ankara seinen Widerstand gnädig auf; er wird sich schöne Gegenleistungen dafür ausgehandelt haben.

Egoismus, Zank, Basarmentalität: Das alles ist schon schlimm genug. Mehr wäre schlimmer. Präsident Selenskyjs Wunsch nach einer Beitrittsperspektive sollte deshalb in Vilnius einen Dämpfer bekommen. Vor weitergehenden Zusagen muss sein Land sich nicht nur im Krieg bewähren – sondern auch im Frieden. Eine Nato ohne innere Stärke nützt keinem der Mitglieder etwas, auch nicht der Ukraine.

Schon jetzt die Blaskapelle üben zu lassen, um die Ukraine alsbald feierlich in der Nato zu begrüßen, wäre also ein Fehler. Aber die illustre Runde in Vilnius muss ihrem ukrainischen Gast klipp und klar erklären, was zu tun ist, damit die Musiker eines Tages wirklich ihre Instrumente auspacken. Es genügt nicht, die Ukraine noch mal zu vertrösten. Die Regierungschefs des Bündnisses sollten die Kriterien, die Kiew für den Schritt in die Nato nach dem Krieg erfüllen muss, jetzt konkret ausbuchstabieren. "Später werden wir weitersehen" ist nicht die richtige Botschaft, denn sie klingt viel zu sehr nach einem höflichen Nein. "Wir würden uns freuen" muss die Mitteilung vielmehr lauten, allerdings kombiniert mit dem Zusatz: "Wir haben Erwartungen". Denn die Mitgliedschaft in der Nato ist eine Errungenschaft – und keine Belohnung.

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Gipfel der Superlative

48 Delegationen mit 2.400 Mitgliedern, darunter 40 Staatsoberhäupter und 150 weitere hochrangige Politiker, geschützt von 12.000 Soldaten, Kampfjets und Flugabwehrraketen: Die Ausmaße des Nato-Gipfels in Vilnius sind gigantisch. Das Zentrum der litauischen Hauptstadt ist zu einer Festung ausgebaut worden. Während Sie diese Zeilen vielleicht beim Morgenkaffee lesen, ist Bundeskanzler Olaf Scholz bereits auf dem Weg. Ich begleite ihn und werde beobachten, was sich rund um die wichtigsten Fragen tut:

  • Bekommt die Ukraine weitere Waffen, darunter moderne Kampfflugzeuge und die umstrittene Streumunition?
  • Erhält der ukrainische Präsident Selenskyj für seinen Wunsch nach einem Nato-Beitritt wirklich mehr als nur warme Worte?
  • Wie rüstet das Bündnis seine Ostflanke weiter auf?
  • Drücken sich die europäischen Mitgliedsstaaten weiterhin erfolgreich um die Verpflichtung, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts fürs Militär auszugeben?
  • Stimmt die Chemie zwischen Joe Biden, Olaf Scholz und den anderen Anführern noch, ziehen sie am selben Strang?

Die Fragen sind brisant, mögliche Lösungen sind es auch. Mein Kollege David Schafbuch gibt Ihnen einen ersten Überblick.


Ohrenschmaus


"Tag der Störung"

Nichts soll mehr gehen in Israel: Aus Protest gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahus Angriff auf die Gewaltenteilung will die Opposition das Land lahmlegen. Denn Israels Parlament hat in erster Lesung einen Gesetzentwurf im Rahmen der umstrittenen Justizreform gebilligt. Bis die Änderung in Kraft tritt, sind noch zwei Lesungen notwendig. Die Regierung soll dann mehr Einfluss bei der Auswahl von Richtern bekommen, der Oberste Gerichtshof wichtige Befugnisse verlieren. Am "Tag der Störung" sind daher heute Blockaden, Streiks und eine Kundgebung am Flughafen Ben Gurion geplant. Sollte Netanjahu auf erlahmendes Interesse oder die sedierende Kraft sommerlicher Temperaturen gesetzt haben, ist sein Kalkül nicht aufgegangen.


Urteil gegen Bruchpiloten

Er wollte gegen Umweltverschmutzung demonstrieren – und sorgte für einen Eklat: Erinnern Sie sich an den Gleitschirmpiloten, der vor zwei Jahren beim EM-Fußballspiel Deutschland gegen Frankreich in der Münchner Arena die Kontrolle über sein Fluggerät verlor und beim Sinkflug über die Zuschauerränge zwei Menschen verletzte? Heute muss sich der Greenpeace-Aktivist wegen vorsätzlicher Gefährdung des Luftverkehrs und Körperverletzung vor dem Amtsgericht München verantworten. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber sie mahlen.


Grafik des Tages

Am 11. Juli 1987 ging ein Raunen um den Globus: An diesem Tag durchbrach die Menschheit die Marke von fünf Milliarden Zweibeinern – seither gilt der 11.7. als Weltbevölkerungstag. Gerade einmal 36 Jahre später leben heute schon mehr als acht Milliarden Menschen auf der Erde. Die Folgen sind überall zu sehen: Der Planet wird ausgepowert, immer mehr Tier- und Pflanzenarten sterben aus. Keine Frage: Der Homo sapiens ist unschlagbar erfolgreich. Genau das ist unser Problem.


Lesetipps

Beobachter sprechen von einer "Revolution": Gesundheitsminister Lauterbach hat sich mit den Bundesländern auf Eckpunkte der Krankenhausreform geeinigt. Was sie konkret bedeuten, erklären die Kollegen von tagesschau.de.


Behörden registrieren immer mehr Gewalttaten in Partnerschaften, die meisten Opfer sind Frauen: Heute stellen Bundesregierung und Bundeskriminalamt das bundesweite Lagebild zu häuslicher Gewalt vor. Den Kollegen vom RND hat eine Expertin erklärt, welche Rolle Corona und die Inflation dabei spielen.



Zum Schluss

Der AfD-Höhenflug bringt nicht nur demokratische Politiker in Bredouille.

Ich wünsche Ihnen einen entspannten Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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