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Die Ampel-Koalition: Sie haben große Angst – vor sich selbst


Tagesanbruch
Sie haben eine große Angst


Aktualisiert am 17.07.2023Lesedauer: 6 Min.
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Christian Lindner, Olaf Scholz: Eine große Angst. (Quelle: IMAGO/Chris Emil Janssen)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Olaf Scholz mit Angela Merkel zu vergleichen, ist unter Journalisten nach mehr als eineinhalb Jahren Ampelregierung noch immer erstaunlich beliebt. Ich habe es von Beginn an für Mumpitz gehalten. Es macht den einen noch längst nicht zur anderen, rational-berechnend und ein wenig maulfaul zu sein oder im Wahlkampf für die Kameras mal eine Merkelraute zu formen.

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Es ist schlicht intellektuelle Bequemlichkeit derjenigen, die lieber bewerten, wie Scholz etwas macht, um sich nicht damit beschäftigen zu müssen, was er macht. Politik wird so zur Performancekunst, zur Simulation von Tatkraft, zum Schaukampf.

In dieser Weise auf Politik zu blicken, scheint vielen Politikern entgegenzukommen. Zumindest glich in den vergangenen Wochen auch die wichtigste (und oft einzige) Form der Fehleranalyse der Ampelkoalition einer Kunstkritik in eigener Sache: Man habe es nicht vermocht, seine Erfolge herauszustellen und zu kommunizieren, weil der Streit alles andere überlagert habe. Wie toll wir eigentlich sind, so das Argument, ist beim Publikum nicht angekommen, weil unsere Aufführung zu chaotisch war.

Das ist nicht ganz falsch. Es war chaotisch und das hat nicht geholfen. Nur reicht es als Selbstkritik längst nicht aus. Und als Masterplan für die Zukunft schon gar nicht. Eine gute Aufführung ist schön, noch schöner wäre gute Politik. Und die besteht eben nicht aus Performance, sondern aus guten Gesetzen und Geld für die richtigen Dinge.

Dummerweise ist das Geld knapp. Oder besser gesagt: Das Geld, das sich die Ampelregierung im neuen Haushalt wegen der Schuldenbremse genehmigen will. Vielleicht haben sich wichtige Ampelpolitiker deshalb vorgenommen, es doch erst mal mit einer "positiven Geschichte" zu versuchen. Vizekanzler Robert Habeck spricht davon dieser Tage auf seinen Sommerreisen. Und Kanzler Olaf Scholz will es auch probieren.

So jedenfalls konnte man Scholz am Freitag verstehen, als er sich in der Bundespressekonferenz in die Sommerpause verabschiedete. Dort lachte er nicht nur gut gelaunt über einen Jingle-Bells-Klingelton. Er sagte auch, dass die Modernisierungsprogramme der Ampel deshalb so wichtig seien, "weil sie immer auch die Botschaft vermitteln: Es wird gut ausgehen für jeden Einzelnen und jede Einzelne von uns."

Die Botschaft also muss stimmen. Und sie lautet: Wird schon werden. Oder wie Scholz vor einigen Wochen selbst formulierte, um Merkel nicht allzu dreist zu kopieren: "Wir kriegen das hin."

Einer der vielen Unterschiede zwischen Scholz und Merkel ist nur: Sie hat sich über viele Jahre das Vertrauen erarbeitet, um die Leute mit "Wir schaffen das" und "Sie kennen mich" wohlig-warm in Sicherheit zu wiegen. Scholz (noch) nicht. Die Umfragewerte für ihn und seine SPD belegen das eindeutig.

Für Scholz und die Ampelregierung wäre es deshalb umso wichtiger, gute Politik zu machen. Politik, durch die es den Menschen in den multiplen Krisen besser geht: mit dem Krieg in Europa, der Inflation und natürlich der Klimakrise. Sonst werden alle "positiven Geschichten" schnell wie Hohn klingen:

Mit "Wir kriegen das hin" ist den Ukrainern nicht geholfen, sie brauchen im Kampf gegen Putin mehr Waffen und in Deutschland mehr Wohnraum und Geld für die Geflüchteten.

Dass es schon "gut ausgehen" werde, will die alleinerziehende Mutter in Deutschland eher nicht hören, sie braucht mehr Geld für die Kindergrundsicherung.

Und wie es dem Klima helfen soll, "auch mal Fünfe gerade sein" zu lassen, wird eines der größten Geheimnisse von Scholz auf seiner Sommerpressekonferenz am Freitag bleiben.

Wie kompliziert gute Politik in Zeiten der multiplen Krisen ist, zeigt sich in diesen Tagen deutlich. In der Diskussion um den Haushaltsentwurf wird an allen Ecken klar, was es bedeutet, wenn Politiker ihren Spielraum mit der Schuldenbremse bewusst einschränken: Dadurch nämlich können sie oft das eine nur tun, wenn sie das andere lassen. Es ist ein schmerzhaftes Entweder-oder.

Wie schmerzhaft es ist und wie ohnmächtig die Ampel sich diesem Zustand ausliefert, zeigte sich nun in der Diskussion über die Ukraine-Hilfen. Am Freitagabend musste Außenministerin Annalena Baerbock ein Entweder-oder erklären, das unangenehmer kaum sein kann. In einem Gespräch wurde sie damit konfrontiert, dass die Ampel gerade weitere 700 Millionen Euro Hilfe für die Ukraine beschlossen habe, während viele Familien wegen der hohen Inflation nicht wüssten, ob sie in den Urlaub fahren könnten.

Baerbock fiel nichts anderes ein, als davor zu warnen, die Hilfen für die Ukraine und das Leid dort gegen die Sozialleistungen in Deutschland auszuspielen. "Das nützt niemandem hier in Deutschland, der wenig Geld hat. Und es wäre ein Hohn für die Menschen in der Ukraine." Dabei ist sie es, die damit das eine gegen das andere ausspielt. Der viel naheliegendere Schluss aus der Gleichzeitigkeit ist, dass für ein wohlhabendes Deutschland beides möglich sein müsste: Urlaub und Ukraine-Hilfe.

Es ist der wunde Punkt der Ampel. Baerbock weiß das, und flüchtete sich deshalb in dieses moralisierende Ablenkungsmanöver. Denn das Entweder-oder ist eben nicht alternativlos. Wie viel Spielraum die Schuldenbremse bietet, obwohl sie im Grundgesetz steht, hat die Politik in den vergangenen Jahren mit ihren diversen Schattenhaushalten selbst bewiesen.

Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat dieser Tage gesagt, die Schuldenbremse sei die Angst der Politik vor der Freiheit. Und meinte damit die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob Schulden gerade gefährlich oder nötig sind. Ich würde sagen: Die Schuldenbremse ist die Angst der Politik vor sich selbst. Der Angst davor, nicht mit Geld umgehen zu können. Und damit ist die Schuldenbremse eben auch eine Flucht vor Verantwortung: War leider nicht mehr drin, aber wir sind nicht Schuld, die Schuldenbremse war's.

Man kann darüber diskutieren, ob die Angst der Politik vor sich selbst nicht berechtigt sein kann. Aber Angst bleibt es – und damit ein Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit. Das aber ist in diesen Zeiten einfach nicht gut genug. Es braucht eine bessere Politik. Selbstbewusster, mutiger. Eine Politik, die nicht auf Umfragen schaut, sondern ihre Macht nutzt, die ihr für vier Jahre gegeben wurde.

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Was heute wichtig wird

Außenministerin Annalena Baerbock trifft Kollegen in New York: Sie nimmt am Festakt zum 25. Jahrestag der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs teil – und wird wohl auch darüber sprechen, wie sie ihn wegen Putins Krieg reformieren will. Außerdem wird Baerbock in einer Sitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zum Krieg sprechen.

Europa trifft Lateinamerika und die Karibik in Brüssel: Die Staats- und Regierungschefs der EU besprechen sich zwei Tage lang mit der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten, Celac. Verhandelt werden soll über ein Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay. Aber auch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine wird Thema sein.

Deutsche Bahn trifft Gewerkschaft EVG in Berlin: Im Tarifkonflikt beginnt das Schlichtungsverfahren. Bis Ende des Monats soll zwischen den Tarifparteien vermittelt werden.

USA trifft China in Peking: Der US-Klimabeauftragte John Kerry führt vom 16. bis 19. Juli politische Gespräche. Nach US-Außenminister Antony Blinken und Finanzministerin Janet Yellen ist Kerry der dritte hochrangige US-Besucher in China in wenigen Wochen.


Historisches Bild des Tages

Disneyland sollte Walt Disneys großer Triumph werden, doch der Beginn war überaus schwierig. Hier erfahren Sie mehr.


Lesetipps

In der Ampelkoalition wird über das Ehegattensplitting gestritten. Dabei geht es auch um die Frage, wie eine gerechte Politik für Paare aussehen kann, schreiben meine Kollegen Christine Holthoff und Tim Kummert.

Auch Spitzenpolitiker fahren in den Urlaub. Früher nutzten sie diesen gern, um sich in Szene zu setzen. Inzwischen ist das für einige gefährlich geworden, schreiben meine Kolleginnen Kati Degenhardt und Miriam Hollstein.

Nikolai Patruschew gehört zu den engsten Vertrauten von Wladimir Putin. Manche glauben, dass er ihm nachfolgen könnte, wenn Putin dies selbst entscheiden dürfte, berichtet mein Kollege David Schafbuch.


Zum Schluss


Ich wünsche einen erholsamen Urlaub, falls Sie gerade welchen haben. Trotz allem.

Ihr Johannes Bebermeier
Politischer Reporter
Twitter: @jbebermeier

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Mit Material von dpa.

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