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Parlamentarische Versammlung in Deutschland: Was wir vom 1.9.1948 lernen können


Tagesanbruch
Ja, wo leben wir denn?

  • Peter Schink
MeinungVon Peter Schink

Aktualisiert am 01.09.2023Lesedauer: 6 Min.
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Blick aufs Brandenburger Tor in Berlin: In 75 Jahren hat sich viel verändert.Vergrößern des Bildes
Blick aufs Brandenburger Tor in Berlin: In 75 Jahren hat sich viel verändert. (Quelle: IMAGO/Jürgen Ritter)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

im Juli vor 75 Jahren treffen sich im Hotel "Rittersturz" in Koblenz die eben erst gewählten Ministerpräsidenten, um über den Wunsch der Alliierten zu beraten, eine Verfassung auszuarbeiten. Nur einen Monat später findet auf Herrenchiemsee der Verfassungskonvent statt. Dort werden in gerade einmal zwei Wochen die wesentlichen Teile des Grundgesetzes erarbeitet.

Schnell ist klar, dass es eine verfassungsgebende Versammlung braucht, die auch demokratisch legitimiert ist: den Parlamentarischen Rat. Er nimmt am 1. September 1948, heute vor 75 Jahren, in Bonn seine Arbeit auf.

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In Bonn? Warum ausgerechnet in der Kleinstadt am Rhein?

Weil Koblenz in der französischen Zone liegt und Herrenchiemsee in der amerikanischen. Und auch die Briten jetzt zum Zug kommen wollen. Die Stadt Bonn ist im Gegensatz zu Köln wenig zerstört, hat genügend Hotels, um die Parlamentarier unterbringen zu können, und bewirbt sich. Die Entscheidung für Bonn fällt schließlich die nordrhein-westfälische Landesregierung. So kommt Westdeutschland zu seiner provinziellen Hauptstadt.

75 Jahre später ist heute klar: Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben Großes geleistet. Die junge Republik muss in einer Zeit entstehen, in der vieles unsicher ist. Deutschland ist zerstört, die Wirtschaft am Boden, Ost- und Westdeutschland teilen sich. Der entstehende Staat mit seinen Institutionen, die Verfassung, die Parteienlandschaft, die neu entstehende Presse, der Wirtschaftsaufschwung: All das ist keine Einzelleistung einiger weniger. Es ist der gemeinsame Wille der Deutschen, nach dem verlorenen Krieg wieder aufzustehen. Getragen vom Glauben, dass es wieder besser werden kann.

Um nur ein Beispiel für diesen Durchsetzungswillen zu nennen: Zunächst ist überhaupt nicht klar, wie eine Verfassung geschrieben werden soll, wenn die russische Besatzungszone nicht einbezogen werden kann. In Herrenchiemsee wird deshalb entschieden, das Grundgesetz müsse ein Provisorium bleiben, dem alle auch noch später beitreten können. Die jungen Staatsgründer handeln schnell und konsequent, trotz vieler Widrigkeiten.

Und mit Pragmatismus. Die Eröffnungsfeier des Parlamentarischen Rates findet im Naturkundemuseum Koenig statt, allerlei ausgestopften Tiere werden eilig aus dem Lichthof in Seitengänge geschoben. Eine Giraffe ist dafür aber zu groß. Sie wird deshalb hinter einem hohen Vorhang versteckt.

Viel hat sich in den vergangenen Jahren in Deutschland verändert. Beide Hälften sind wieder vereint, wir sind viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, unser Land ist heute Teil eines noch größeren Europas. Wir haben ein solides Sozialsystem, sind Vorreiter in Entwicklung und Forschung, haben trotz aller Unterschiede eine gemeinsame Wertebasis.

Auf den ersten Blick ist alles gut. Nicht auf den zweiten.

Die Themen, die die Politik auf dem Tisch hat, sind vielfältig: Bildung, Migration, Klima, Verkehr, Digitalisierung, Bürokratie, Rente und Pflege, soziale Ungleichheit, Demografie, Fachkräftemangel. Die Liste ist lang. Nicht einmal mehr im Fußball sind wir wer. Global gesehen geht es uns zwar gut, wir erleben zugleich: Es könnte vieles besser laufen.

Ist das Glas jetzt halb leer oder halb voll?

Beides ist natürlich richtig. Nehmen wir das Beispiel der Digitalisierung: Wir haben jahrelang versäumt, unser Land mit Glasfaser auszustatten. Die Verwaltung schafft es nicht, sich zu digitalisieren. Und mit SAP haben wir einen einzigen nennenswerten globalen IT-Konzern.

Und doch werden in Deutschland jedes Jahr mehr als 100.000 größere Unternehmen gegründet. Weltweit sind wir bei den Patenten mit zuletzt jährlich 17.530 Einreichungen auf Platz 5. Und es gibt noch eine ganz andere Seite des Engagements hierzulande: Millionen von Menschen sind ehrenamtlich dabei: Als Mitglied in den mehr als 600.000 eingetragenen Vereinen. Und auch die Parteien kommen zusammen auf deutlich mehr als eine Million Mitglieder.

Kurzum: Wir sind ein Land sehr engagierter Menschen. Und das ist gut so.

Es lohnt sich, an einem Tag wie heute zwei Lehren aus der Anfangszeit der Republik zu ziehen. Erstens: Es lohnt sich immer, positiv nach vorne zu denken. Egal, wie die Umstände sind. Wir alle können Positives bewirken, im Kleinen wie im Großen. Zweitens: Gemeinsam sind wir stärker.

Deshalb müssen wir mehr über das "Wir" reden. Wer ist eigentlich "wir"? In Deutschland leben etwas mehr als zwölf Millionen Menschen ohne deutschen Pass, knapp die Hälfte von ihnen schon länger als zehn Jahre. Auch sie sind Deutschland. Unser Land teilt sich in Ost und West, Stadt und Land, Jung und Alt, Links und Rechts. Einiges trennt uns, aber was eint uns? Ich würde sagen: Auf jeden Fall das Glück, in diesem Land zu leben. Wir können auf dem aufbauen, was der Parlamentarische Rat vor 75 Jahren angefangen hat.


"Freunde zu haben, ist das eine Schande bei uns in der CSU? Und deshalb: Saludos Amigos!" So begrüßte der bayerische Ministerpräsident Max Streibl am politischen Aschermittwoch 1993 seine Parteifreunde.

Journalisten hatten aufgedeckt, dass Streibl in seiner Zeit als Finanzminister Geld von der Industrie angenommen hatte, um sich anschließend persönlich um den Zuschlag eines Rüstungsauftrags einzusetzen. Mit seiner Rede wollte Streibl die Vorwürfe ins Lächerliche ziehen. Ein irrwitziges Schauspiel politischer Unverfrorenheit und Instinktlosigkeit war das damals.

Streibl erreichte genau das Gegenteil. Zwar lehnte er einen Rücktritt ab, aber der Rückhalt in der CSU sank so schnell wie die Umfragewerte. Zunächst lehnte die Partei noch im April 1993 im bayerischen Landtag einen Untersuchungsausschuss ab. Einen Monat später trat Streibl dann doch zurück. Er fiel wie ein reifer Apfel vom Baum. Die Affäre Streibl ging als "Amigo-Affäre" in die Geschichte ein.

Hubert Aiwanger hat jetzt ein Streibl-Problem. Die Frage, was in Aiwangers Schulzeit los war, tritt in den Hintergrund. Der Mann redet sich um Kopf und Kragen, wie mein Kollege Tim Kummert gestern noch zusammengefasst hat. Es ist schlicht unverfroren, eine längst überfällige Entschuldigung mit einem politischen Angriff zu verbinden.

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Was bleibt nach dem gestrigen Nachmittag? Der Druck wird jetzt, gut einen Monat vor der Landtagswahl, größer werden. CSU-Chef Markus Söder wird sich überlegen, ob er nach der Wahl mit Aiwanger noch regieren kann. Und ob es nicht besser wäre, die Ehe für gescheitert zu erklären, bevor Aiwanger wie ein reifer Apfel vom Baum fällt.


Die Termine

Der Papst landet heute zu einem Besuch in der Mongolei. Es ist überhaupt das erste Mal, dass der Pontifex den Staat besucht, in dem nur 1.500 Katholiken leben. Sie würden alle locker in den Kölner Dom passen. Franziskus sagt, er habe sich diesen Besuch schon lange gewünscht. Die Kirche gilt dort als vorbildlich, engagiert, skandalfrei. Und es geht womöglich auch um ein Signal. Die Mongolei hat sich in dreißig Jahren zu einer parlamentarischen Demokratie entwickelt, eingeklemmt zwischen China und Russland. In diese Länder ist das Kirchenoberhaupt noch nie gereist.


In Frankreich tritt die massiv umstrittene Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron in Kraft. Monatelang hatte es Streiks und Demonstrationen gegen das schrittweise Anheben des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre gegeben. Was in Deutschland unmöglich wäre: Macron boxte die Reform ohne Abstimmung durchs Parlament. Macrons Partei liegt inzwischen in Umfragen hinter der rechtsextremen Partei Rassemblement National.


Sowohl der Vorstand der Grünen als auch die Fraktion der FDP beenden ihre Klausurtagungen. Die Statements zum Abschluss werden womöglich nicht ohne Sticheleien gegen den jeweils anderen Koalitionspartner auskommen. Die FDP möchte Atomkraftwerke anschalten, die Grünen den Industriestrompreis senken. Weil beide Parteien in Hessen und Bayern Landtagswahlen gewinnen wollen, wird der Ton in der Koalition wohl in den kommenden Wochen deutlich rauer.


Was lesen?

In welchem gesellschaftlichen Klima konnte der Fall Aiwanger in den Achtzigerjahren entstehen? Das hat mein Kollege Marc von Lüpke den Historiker Moritz Fischer gefragt.


Mein Kollege Steven Sowa freut sich mit Union Berlin, dass die Köpenicker mindestens drei Spiele in der Champions League spielen dürfen. Die Chance für den Klub wird zugleich eine Zerreißprobe, schreibt er.


Immer öfter greift die Ukraine den Feind mit Drohnen an. Warum selbst Moskau zum Ziel wird und ein Flughafen in der Nähe zu Estland, erklärt mein Kollege Patrick Diekmann.


Das historische Bild

Science-Fiction-Filme sind in der Regel große Erfolge im Kino, doch begonnen hat das Genre ganz klein. Mehr erfahren Sie hier.


Zum Schluss

Hubert Aiwanger sucht noch nach Antworten. Mal sehen, ob Söder Geduld hat.

Ich wünsche Ihnen einen sommerlichen Tag ohne Unwetter. Am Samstag sprechen meine Kolleginnen Lisa Fritsch und Melanie Muschong über Sexismus im Fußball. Am Montag schreibt mein Kollege Johannes Bebermeier an dieser Stelle.

Herzliche Grüße

Ihr
Peter Schink
Stellvertretender Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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