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China im Aufstieg: UN in der Existenzkrise – Das Ende unserer Ära


Tagesanbruch
Die Welt gerät aus den Fugen

  • Bastian Brauns
MeinungVon Bastian Brauns

Aktualisiert am 18.09.2023Lesedauer: 7 Min.
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Auf dem Vormarsch: Präsident Xi Jingping positioniert die Weltmacht China gegen den Westen (Archivbild von 2019).Vergrößern des Bildes
Auf dem Vormarsch: Präsident Xi Jinping positioniert die Weltmacht China gegen den Westen (Archivbild von 2019). (Quelle: imago images)

Liebe Leserin, lieber Leser,

von diesem Mann haben Sie womöglich noch nie gehört. Ich jedenfalls kannte ihn bis vor Kurzem nicht. Sein Name ist Zheng He, ein chinesischer Admiral im 15. Jahrhundert. Er unternahm mit seinen Dschunken mehrere große Expeditionen in den Pazifik, unter anderem nach Afrika. In Peking ist man bis heute stolz auf diesen eigenen berühmten Entdecker, der dort wie eine Art chinesischer Humboldt verehrt wird.

Erzählt vom Seefahrer Zheng He hat neulich der chinesische Botschafter in Washington. Dort gab es an der Howard University vor einiger Zeit eine Konferenz, an der Menschen aus der afrikanischen Diaspora teilnahmen. Chinas Chefdiplomat überlieferte folgende Geschichte: "Von seinen Reisen nach Afrika brachte Zheng He eine Giraffe nach China mit." Dann machte er eine bedeutungsschwangere Pause und fügte hinzu: "Er brachte keine Sklaven."

Die Botschaft, die bei der afrikanischen Zuhörerschaft ankommen soll: Während die westlichen Staaten euren Kontinent über Jahrhunderte hinweg ausgeraubt und kolonisiert, eure Bevölkerungen ermordet und versklavt haben, war China stets an einer ehrlichen Partnerschaft auf Augenhöhe interessiert. Dieses Narrativ ist ein wichtiger Teil von Chinas Strategie, seinen Einfluss in Afrika und an vielen anderen Orten der Welt zu sichern und die westlichen Staaten auszubooten. Peking rennt damit in vielen Staaten der Welt offene Türen ein. Auch wenn China keineswegs immer Partnerschaften auf Augenhöhe anbietet.

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Erlebt hat diese Szene mit dem chinesischen Botschafter und Zheng He eine amerikanische Professorin an jener Washingtoner Howard University. Vor einigen Tagen erzählte sie der deutschen Außenministerin davon. Annalena Baerbock hörte zu und sagte dann: "Ich denke, ich werde Sie und auch den chinesischen Botschafter in meinen kommenden Reden zitieren, weil ich denke, dass das den Finger in die richtige Wunde legt."

Diese Wunde beschrieb Baerbocks amerikanischer Amtskollege Antony Blinken in einer bemerkenswert deutlichen Rede einen Tag zuvor. An der Johns Hopkins School of Advanced International Studies (SAIS), einer anderen Washingtoner Universität, sagte Blinken: "What we're experiencing now is more than a test of the post-Cold War order. It's the end of it." Auf Deutsch: "Was wir derzeit erleben, ist mehr als nur der Test einer Weltordnung nach dem Kalten Krieg – es ist ihr Ende."

Die Gründe liegen auf der Hand: Der Aufbau der internationalen Zusammenarbeit werde nicht nur immer komplexer, sagte Blinken weiter. Es gebe immer mehr geopolitische Spannungen und ein inzwischen riesiges Ausmaß globaler Probleme. Dann folgte sein Satz zu China: "Unterdessen stellt die Volksrepublik China die größte langfristige Herausforderung dar, weil sie nicht nur die internationale Ordnung umgestalten will, sondern auch zunehmend über die wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht verfügt, genau das zu tun." Peking und Moskau arbeiteten im Rahmen ihrer "grenzenlosen Partnerschaft" zusammen, um die Welt mehr und mehr zu einem Platz für Autokratien zu machen, so Blinken.

Aber wie konnte das geschehen? Das über Jahrzehnte anerkannte Kernelement der internationalen Zusammenarbeit waren die Vereinten Nationen. So dysfunktional und bürokratisch sie wohl vom ersten Tag an auch gewesen sein mögen. Die UN waren trotz Rückschlägen, wie beim Völkermord in Ruanda, zumindest immer wieder in der Lage, auf verschiedene Krisen zu reagieren.

Jetzt aber, so scheint es, ist diese nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Institution mit Sitz in New York in einer echten Existenzkrise. Die Vereinten Nationen müssen darum dringend reformiert werden, zugunsten der vielen kleinen und vermeintlich unbedeutenden Staaten auf der Welt. Dafür muss der Westen, vor allem auch die Weltmacht USA, Veränderungen vornehmen. Die eigenen Fehler der Vergangenheit, etwa die amerikanischen Lügen zum Irak-Krieg, erweisen sich besonders heute in Zeiten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine als echte Bürde.

Ablesen lässt sich die Krise der UN schon symbolisch an der demonstrativen Abwesenheit wichtiger Vertreter. Zwar sollen bei der jährlich stattfindenden UN-Generalversammlung in dieser Woche in New York mehr als 140 Staats- und Regierungschefs kommen. Aber die entscheidenden Staatenlenker der fünf ständigen Mitglieder des mächtigsten Gremiums der UN, dem Sicherheitsrat, kommen nicht. Nur der amerikanische Präsident Joe Biden wird anreisen. Russland und China halten es wie immer nicht für nötig, Xi Jinping oder Wladimir Putin zu senden. Aber auch Frankreich und Großbritannien werden nicht von Emmanuel Macron und Rishi Sunak vertreten.

Es ist nicht das erste Mal in den vergangenen Wochen, dass Chinas Präsident Xi Jinping seine Gleichgültigkeit bezüglich internationaler Formate demonstriert. Auch beim vergangenen G20-Gipfel in Indien war er nicht aufgetaucht. Zur UN-Generalversammlung schickt er nun nicht mal seinen Außenminister. Stattdessen bemühen sich Staaten wie China, Russland oder Indien lieber um ihre eigenen internationalen Formate, etwa die geplante riesige Erweiterung der BRICS-Staaten, die neulich beschlossen wurde und zu denen auch Iran, Saudi-Arabien, Äthiopien, Argentinien und Ägypten stoßen sollen.

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Gelingen können solche Pläne, weil Formate wie die G7 und G20, aber auch die Nato, die WTO, der IWF, die Weltbank und selbst die UN insgesamt westlich, europäisch und klar amerikanisch dominiert waren. Viel Vertrauen wurde durch westliche Doppelmoral verspielt. Und mit ihren Dauerblockaden im UN-Sicherheitsrat verstärken Russland und China diesen Vertrauensverlust in die Institution zusätzlich. Sind die Vereinten Nationen nicht mehr in der Lage, die Probleme vieler Staaten auf der Welt zu lösen, kümmern sich immer mehr Länder um sich selbst und greifen dabei nach anderen, auch autokratischen Ankern.

Die Vereinten Nationen wirken immer machtloser: Russland schert sich nicht einmal mehr um UN-Sanktionen, für die es einst selbst gestimmt hat. Moskau vollzieht jetzt sogar Waffengeschäfte mit der brutalen Diktatur Nordkorea. Beim Konflikt um einen Deal zum Export von ukrainischem Getreide konnten die UN zwar zunächst erfolgreich verhandeln. Jetzt müssen sie jedoch mit ansehen, wie Wladimir Putin den Deal zerstört und vor allem der ärmere Teil der Welt darunter in Form von explodierenden Getreidepreisen leiden muss.

Hinzu kommt, dass die Vereinten Nationen zwar von Beginn an westlich geprägt waren. Aber selbst bei den Amerikanern kann sich die Weltgemeinschaft nicht mehr sicher sein. Sollte Donald Trump tatsächlich wieder zum US-Präsidenten gewählt werden, gibt es kaum einen Zweifel, was er von dieser Institution halten wird. Während seiner ersten Präsidentschaft verließen die USA ohne Zögern die Weltgesundheitsorganisation WHO, ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie.

Der Westen muss jetzt endlich aufwachen. Erkennen, dass die Grenzen der Machtblöcke der Zukunft komplexer verlaufen. Nicht nur von Westen nach Osten, sondern auch von Norden nach Süden. Wir befinden uns an einem Wendepunkt. "Eine Ära geht zu Ende, eine neue beginnt, und die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, werden die Zukunft für die kommenden Jahrzehnte prägen", sagte Antony Blinken noch in seiner Rede in Washington.

So propagandistisch China seine Giraffen-Geschichte über den Entdecker Zheng He gegen den Westen auch ausschlachten mag. An den Folgen unserer eigenen, oft wenig ruhmreichen Geschichte und unserem Umgang mit der Welt in den vergangenen Jahrhunderten müssen wir Europäer und die Amerikaner uns messen lassen und möglichst schnell davon lernen.

Sonst bestimmen andere demnächst unsere Geschichte.

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Flutkatastrophe biblischen Ausmaßes

Mehr als 11.000 Menschen sollen inzwischen an den Folgen der Sturm- und Dammbruchkatastrophe in Libyen gestorben sein. Mehr dazu können Sie hier lesen. Es sind Ereignisse wie diese, in denen internationale Organisationen mehr denn je gebraucht werden. Für die Vereinten Nationen wäre es beispielsweise eine Chance, die eigene Glaubwürdigkeit durch Handlungsfähigkeit zu stärken. Nur hängt die Handlungsfähigkeit der UN nicht allein von komplizierten Entscheidungen ab, sondern auch von den finanziellen Mitteln, die ihre Mitglieder ihr zugestehen. Das erst vor genau 50 Jahren beigetretene Deutschland (damals noch als BRD und DDR) ist heute übrigens der zweitgrößte Geldgeber hinter den USA.


Was war?

Charlie Chaplin war ein weltbekannter Komiker, allerdings einer mit mächtigen Feinden. 1952 wurde ihm dies zum Verhängnis. Mehr lesen Sie hier.


Was steht an?

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, Außenministerin Annalena Baerbock, Entwicklungsministerin Svenja Schulze und Umweltministerin Steffi Lemke sind in New York angekommen, um an der UN-Generalversammlung und zahlreichen begleitenden Treffen teilzunehmen. Am Dienstag wird US-Präsident Joe Biden die Eröffnungsrede halten. Olaf Scholz und auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sollen am Mittwoch unter anderem im UN-Sicherheitsrat sprechen dürfen. Ich werde diese wichtige Woche für Sie begleiten und aus New York berichten.


Chinesisch-russische Parallel-Diplomatie: Der russische Außenminister Sergej Lawrow empfängt nach Angaben von Moskau heute seinen chinesischen Amtskollegen Wang Yi. Kurz zuvor hatte der chinesische Außenminister den US-Sicherheitsberater Jake Sullivan auf Malta getroffen. Dort habe man Vorbereitungen für ein gemeinsames Treffen von Joe Biden und Xi Jinping im November beim Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) in San Francisco besprochen.


In Den Haag gibt es heute eine Anhörung vor dem UN-Gericht im Genozid-Verfahren der Ukraine gegen Russland. Die Ukraine hatte Russland unter Berufung auf die Völkermord-Konvention verklagt. Das Gericht muss noch entscheiden, ob es befugt ist, ein Hauptverfahren zu eröffnen. Bei der Anhörung geht es um Einwände Russlands gegen die Klage.


Was lesen?

Robert Habeck und die Grünen haben miese Monate hinter sich. Nun aber wirkt der Vizekanzler gelöst – und mächtig wie nie. Die Frage ist nur, wie lange, berichtet mein Kollege Johannes Bebermeier.


Wenige Tage nach dem WM-Debakel von Katar rief der DFB eine Taskforce ins Leben. Karl-Heinz Rummenigge und Oliver Mintzlaff verkündeten am Sonntag ihren Rücktritt. Es wachsen Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Gremiums, kommentiert mein Kollege Noah Platschko.


Das Regime in Teheran hat sie schlagen, beschießen und festnehmen lassen – dennoch protestieren sie für ihre Freiheit. Meine Kolleginnen Liesa Wölm und Marianne Max haben die Berichte von acht Menschen aus dem Iran gesammelt.


Was mich amüsiert

Ihr

Bastian Brauns
Washington-Korrespondent
Twitter @BastianBrauns

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Mit Material von dpa.

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Verwendete Quellen
  • Mit Material von dpa
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