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Migration | Debatte um Geflüchteten-Obergrenze: Das stärkt nur die AfD


Tagesanbruch
Das ist ziemlich dumm


Aktualisiert am 19.09.2023Lesedauer: 6 Min.
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Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) fordert, dass Deutschland pro Jahr maximal 200.000 Migranten aufnehmen solle.Vergrößern des Bildes
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) fordert, dass Deutschland pro Jahr maximal 200.000 Migranten aufnehmen solle. (Quelle: IMAGO/Frank Hoermann / SVEN SIMON)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

denkt der Deutsche an Italien, kommen ihm meist schöne Bilder in den Sinn. Trinken Sie auch schon in Gedanken einen Espresso mit Blick auf azurblaues Wasser? Genießen ein Glas Chianti inmitten grüner Weinberge? Oder sehen sich durch das sonnendurchflutete Rom flanieren? Vielleicht tun Sie manches davon sogar wirklich. Der Sommer ist noch nicht vorbei und der September einer der besten Reisemonate.

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Woran Sie vermutlich nicht denken, ist eine Insel zwischen Sizilien und Tunesien. Auch sie bietet eigentlich beste Bedingungen für Touristen: ruhige Strände, seichtes Wasser, ab und zu schaut ein Delfin vorbei. Doch nach Lampedusa kommen die Menschen nicht zur Erholung. Sie kommen aus Verzweiflung und sie kommen in Massen. 5.000 Migranten erreichten die Insel zuletzt an nur einem Tag – fast genauso viele, wie sie Einwohner hat.

Wer diese Bilder von Italien sieht, kann leicht den Eindruck bekommen, die EU hätte die Kontrolle verloren. Und tatsächlich liegt vieles im Argen: Deutlich mehr Menschen flüchten wieder irregulär nach Europa. Das Dublin-System, das die Verantwortung für Geflüchtete regelt, ist zusammengebrochen. Der ohnehin zynische Deal mit Libyen funktioniert nicht und Tunesien erhält von der EU bisher nur leere Versprechen. Was nun stattdessen passieren muss, hat mein Kollege Christoph Schwennicke hier erläutert.

All das ist Nährboden für die Rechten – nicht nur in Italien. Auch hierzulande ist die AfD bedrohlich stark. Sie macht sich den Eindruck der Hilflosigkeit zunutze, warnt vor Zuwanderung in die Sozialsysteme und sieht Migration ausschließlich als Problem. Die anderen Parteien, die für sich in Anspruch nehmen, auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu stehen, könnten dem entgegentreten. Beispielsweise, indem sie sich Lösungen einfallen ließen für die Probleme in den Kommunen. Aber das lässt sich nicht so leicht in eine griffige Parole gießen.

Besonders gut weiß das Markus Söder, der oberste Parolen-Politiker der Bundesrepublik. Also wiederholte er in der "Bild am Sonntag" nun sein Rezept für die aktuelle Migrationskrise. Es ist, Überraschung: eine Obergrenze für Flüchtlinge. Wie die CSU sie bereits 2022 forderte. Und 2021. Und 2020. Die nächste Stufe wäre dann wohl eine Forderung nach Grenzschließungen. "Hauptsache, weniger kommen rein", könnten Söder und weite Teile der Union auch sagen. Diese platte Politik ist billig. Und außerdem ziemlich dumm. Denn am Ende wählen die Leute lieber das Original: die AfD. Und bei denen wird auch mal über einen Schießbefehl an der Grenze sinniert.

Es ist richtig, dass die Bevölkerung "ein Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Sicherheit" hat, wie der frühere Bundespräsident Joachim Gauck in der ZDF-Sendung "Berlin direkt" sagte. Und natürlich muss dieses Bedürfnis befriedigt werden. Doch die Obergrenze, die nun rauf und runter diskutiert wird, vergrößert das Zerrbild, dass bei der Migration alles nur schlecht laufe in Deutschland. In Wahrheit braucht es einen klareren Blick. Eine bessere Auseinandersetzung damit, wie die Einwanderung in unserem Land wirklich gehandhabt wird.

So gibt es beispielsweise viele Kommunen, die durchaus klarkommen und von denen andere lernen könnten. Die Forschungsgruppe Migrationspolitik an der Uni Hildesheim belegt: Von "Lage sehr angespannt" über "Können wir noch handeln" bis "Eigentlich haben wir genug Kapazitäten" ist alles bei den deutschen Städten und Gemeinden vertreten.

Natürlich spielt dabei eine Rolle, ob der Mietmarkt schon angespannt ist oder Städte auf viele leer stehende und günstige Wohnungen zugreifen können. Doch auch unter schwierigeren Bedingungen hilft es den Forschern zufolge, wenn die Kommunen das Problem aktiv angehen. Und zwar nicht, indem sie Söder kopieren, die Hände kapitulierend in die Luft strecken und "Wir schaffen das nicht" stöhnen. Sondern: in kleinen Teams selbst auf Wohnungssuche gehen, dabei Ehrenamtliche einbinden, mit Kirchen und Moscheen zusammenarbeiten.

So ließen sich häufig Großunterkünfte vermeiden, was für die Stadt gleich zwei Vorteile habe: Proteste von Anwohnern würden unwahrscheinlicher und die Migranten müssten nicht alle von derselben Schule, Kita oder Arztpraxis aufgenommen werden. Den Geflüchteten selbst ermögliche eine eigene Wohnung ein schnelleres Ankommen im neuen Land. Sie fänden leichter Anschluss, lernten früher die Sprache und hätten damit bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Lösung ist nicht immer der eine große Wurf, sondern manchmal auch das gut koordinierte Klein-Klein.

Und noch etwas hilft dabei: Städte, die seit 2015 an ihren Flüchtlingssozialarbeitern und Ehrenamtskoordinatoren festgehalten haben, sind jetzt klar im Vorteil. Deutschland täte gut daran, Integration zu einer kommunalen Pflichtaufgabe zu machen. Denn mit der Pflicht geht auch der Zugang zu finanziellen Mitteln einher.

Länder wie Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg bieten bereits freiwillig Förderprogramme an. So gibt es etwa in jeder ausreichend großen Kommune Integrationsbeauftragte und Einzelfallbegleitung für Geflüchtete. Andere Städte haben Dolmetschernetzwerke aufgebaut, die bei Behördengängen helfen, oder stellen Mentoren, die selbst Migrationshintergrund haben und geflüchtete Familien durch das komplizierte Schulwesen begleiten.

Auf solche Erfolgsgeschichten schauen wir viel zu wenig. Dabei wäre Nachahmen dringend nötig. Ächzt Deutschland doch unter einem Mangel an Arbeitskräften – und das längst nicht nur im gut ausgebildeten Bereich. Das weiß jeder, der sich durch eine x-beliebige deutsche Stadt bewegt: Da hat das Restaurant plötzlich zwei Ruhetage, weil Köche und Kellner fehlen, im Supermarkt bleibt die zweite Kasse trotz langer Warteschlange dicht und der Bus fällt aus, weil kurzfristig kein Ersatz für den erkrankten Fahrer zu finden war.

Es stimmt daher immer noch, was Alt-Bundeskanzlerin Angela Merkel einmal sagte: Der Großteil der Geflüchteten ist nach Jahrzehnten niedriger Geburtenraten und Überalterung nicht das Problem, sondern die Lösung. Übrigens nicht nur für Deutschland, sondern für die gesamte EU.


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Was steht an?

Es ist das größte diplomatische Treffen der Welt und es hat in diesem Jahr einen Ehrengast: Erstmals seit Beginn des Krieges gegen sein Land soll der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei der Generaldebatte der Vereinten Nationen in New York sprechen. Seine Rede wird ab etwa 18.30 Uhr erwartet, es ist aber mit Verzögerungen zu rechnen. In der Nacht wird dann auch Bundeskanzler Olaf Scholz sprechen.


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Ohrenschmaus

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Zum Schluss

Kommen Sie heiter durch den Tag! Morgen schreibt wieder Florian Harms für Sie.

Herzliche Grüße

Ihre

Christine Holthoff
Redakteurin Finanzen
Twitter: @c_holthoff

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Mit Material von dpa.

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