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Indiens Premier könnte der nächste Putin werden – Schreckt auch nicht vor Mord zurück?


Tagesanbruch
Ist er die nächste Bedrohung?

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.09.2023Lesedauer: 7 Min.
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Indiens Premier Modi geht immer rücksichtsloser vor.Vergrößern des Bildes
Indiens Premier Modi geht immer rücksichtsloser vor. (Quelle: Adnan Abidi/REUTERS)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

das Gute an einem Krimi ist, dass er erfunden ist. Buch zu, Glotze aus, und die Sache ist vorbei. Von dem Verbrechen, das uns heute beschäftigt, würde man das auch gern sagen können: Maskierte Killer, dunkle Hintermänner, die Schattenwelt der Geheimdienste und eine Tat, deren Schockwellen die Beziehungen zweier Nationen erschüttert – alles, wirklich alles ist bei diesem Drama mit dabei.

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Das Opfer: ein unbequemer politischer Aktivist, aus seiner Heimat geflohen, dort des Terrorismus bezichtigt, was man den skrupellosen Politikern seines Herkunftslandes aber nicht unbesehen abnehmen kann. Er war als Separatist bekannt, der für seine Volksgruppe einen eigenen Staat verlangte und so ins Fadenkreuz geriet. Die Kugeln trafen ihn aus nächster Nähe, es waren Profis am Werk. Das Opfer hatte keine Chance.

Vielleicht fällt Ihnen bei dieser Beschreibung der "Tiergartenmord" wieder ein. Vor vier Jahren war das: Ein Auftragskiller von Kremlchef Putin hatte am hellichten Tag mitten in Berlin einen tschetschenischen Dissidenten umgebracht. Das Gericht sah es bei der Verurteilung des Mörders als erwiesen an, dass er im Dienst des russischen Staates handelte.

Doch der neue Tatort liegt nicht in Berlin, und die verdächtigten Drahtzieher sitzen nicht in Moskau. Die Sache ist heikel, denn die Spur führt zu einem umworbenen Partner Deutschlands: nach Indien. Der Ermordete, ein Aktivist der indischen Minderheit der Sikh, lebte seit Jahrzehnten in Kanada und starb im Juni auf dem Parkplatz vor einer Gebetsstätte. Premierminister Justin Trudeau ließ vor einer Woche die Bombe platzen. Er informierte erst die Oppositionsführer, dann das Parlament und die Öffentlichkeit darüber, dass die Sicherheitsdienste "glaubwürdigen Hinweisen auf eine mögliche Verbindung zu Agenten der indischen Regierung" nachgehen. Es ist ein ungeheuerlicher Vorwurf: Todeskommandos aus Neu-Delhi?

Wie zunächst auch beim Tiergartenmord können Außenstehende die Beweislage nicht unabhängig beurteilen. Deshalb muss man sich auf die kanadische Regierung und die Einschätzung der Ermittlungsbehörden verlassen. Die scheinen sich ihrer Sache aber sehr sicher zu sein. Die Kanadier haben dem Vernehmen nach befreundete Geheimdienste einbezogen, schon vor dem Schritt an die Öffentlichkeit ihre Handelsgespräche mit Indien auf Eis gelegt und schließlich die größtmögliche Bühne für die Bekanntgabe gewählt. Denn politische Morde wie dieser sind ein Alarmzeichen. Bei Putin sehen wir, wo sie enden können: Der schickte erst seine Killerkommandos. Später folgten die Panzer.

Umso interessanter ist, was zurzeit in Reaktion auf die kanadische Enthüllung geschieht: nämlich nichts. Die Solidarität der westlichen Partner Kanadas äußerte sich in dröhnendem Schweigen. Empörung? Wenigstens gespielt? Noch nicht einmal das. Diverse Regierungssprecher haben sich ein paar Floskeln abgerungen, fertig, weiter im Text. Indien protestiert hingegen aufs Schärfste gegen die Anschuldigungen. Das Resultat: Der Schatten des Verbrechens hat auf der internationalen Bühne nicht etwa Indien isoliert – stattdessen steht nun Kanada allein da.

Ein Wunder ist das nicht, denn Indien wird gebraucht: zum Beispiel als Verbündeter gegen China. Westliche Politiker geben sich in Neu-Delhi außerdem die Klinke in die Hand, um Premier Narendra Modi als Alliierten gegen Russland zu gewinnen. Modi lässt sich von der Bauchpinselei allerdings wenig beeindrucken. Denn Indien profitiert kräftig vom Krieg in der Ukraine und kauft Russlands billiges Öl, was wiederum Putins Kriegskasse füllt. Indien und der Westen sind aufeinander angewiesen, aber Europa und die USA brauchen die Kooperation Indiens zurzeit dringender als umgekehrt. Herr Modi lässt das jeden dauerlächelnden Besucher aus dem Ausland spüren.

Entsprechend dürftig sieht die Basis der Zusammenarbeit aus. International zieht die indische Regierung ihr Ding durch, oft auf Kosten Europas und des Westens. Innenpolitisch geht sie ruchlos und rassistisch vor. Modis Staat ist auf dem Weg, ein ebenso problematischer "Partner" zu werden, wie Putins Russland es in den Merkel-Jahren war. Ein Killer mehr macht da den Kohl nicht mehr fett.

Mörderisch, aber umworben: Dieses Muster kennen wir. Gerade erst haben wir kopfkratzend zugesehen, wie Aserbaidschans Diktator Alijew seine "Gebietsansprüche" in Bergkarabach mit Artillerie, Panzern und Drohnen durchboxt – während er in der EU als neuer Kumpel und Gaslieferant beklatscht wird. Eigentlich scheint die Sache klar: Bist du im internationalen Machtpoker stark, dann kannst du machen, was du willst. Realpolitik hat eine eingebaute Vorfahrt. Irgendwoher muss das Gas für Europa ja kommen. Genauso ist es auch bei unserer Zusammenarbeit mit Indien.

Aber Moment mal ... war da nicht was? Wollte nicht Ampel-Außenministerin Annalena Baerbock eine "wertegeleitete Außenpolitik" verfolgen? Hat die gar keine Chance in einer Welt, in der nur mit harten Bandagen gekämpft wird? Kann man nur mit Zynismus bestehen?

Zum Glück ist es nicht ganz so simpel. Für sich genommen ist die wertegeleitete Außenpolitik zwar nur heiße Luft, trotzdem hat sie Potenzial. Wertegeleitet könnte zum Beispiel bedeuten: Wir haben die Grenzüberschreitungen registriert. Wir sagen nichts, wir machen gute Miene zum bösen Spiel. Aber es ist uns nicht entgangen. Lieber Premier, lieber Präsident: Du magst vor Kraft strotzen, aber kalkuliere ein, dass wir unsere Schlüsse aus deinen Taten ziehen werden. Und wenn du selbst irgendwann mal Hilfe brauchen solltest, wirst du das spüren.

Eine entscheidende Zutat fehlt allerdings in diesem Szenario. Der erhobene Zeigefinger der Moralisten wird niemanden beeindrucken, solange sie nicht unter Beweis gestellt haben, dass brutales Vorgehen am Ende wirklich Konsequenzen hat. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen. Doch jeder ruchlose Akteur auf der globalen Bühne sollte verstehen, dass der Tag der Abrechnung kommen wird.

Die zweite Botschaft einer wertegeleiteten Außenpolitik muss deshalb lauten: Wir vergessen nicht. Herr Aggressor, wir brauchen dich zwar jetzt – aber irgendwann kommt deine Stunde der Schwäche. Dann sind wir am Zug. Berücksichtige das, und zwar besser heute.

Dazu bedarf es in der Außenpolitik einer langfristigen Festlegung, die glaubwürdig ist. Demokratien tun sich mit solcher Konsequenz schwer. Alle vier Jahre mischen wir, die Wähler, die Karten neu. Deshalb sind Leitlinien, die Bestand haben sollen, nur mit parteiübergreifendem Konsens zu erreichen, damit das Signal an die Mörder in den Regierungspalästen lautet: Es gibt moralische Grundsätze in der Außenpolitik, die wir alle respektieren. Sie werden nicht abgewählt. Sie sind in unserem Land Teil der Staatsraison. Wir haben einen langen Atem.

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Zugegeben, das ist nicht einfach zu erreichen. Aber es geht. So ausgestattet, könnte man zu einem politischen Mord sogar schweigen – und das wäre dann nicht feige, sondern vielsagend.


Generationswechsel im Ländle

Seit zwölf Jahren führt er Baden-Württembergs Christdemokraten, nun will er den Parteivorsitz im November abgeben: Das verkündete Thomas Strobl, zugleich Innenminister und Vize-Regierungschef des schönsten Bundesländles, gestern auf einer Pressekonferenz. Auch wenn er dabei von einer "souveränen Entscheidung" sprach, dürfte sie nicht ganz freiwillig zustande gekommen sein: Bei seiner Wiederwahl vor zwei Jahren hatte der Vertraute des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann nur noch 66,5 Prozent der Stimmen eingeheimst, zudem steht er in einer Polizeiaffäre unter Druck.

Tatsächlich aber ist es dem 63-jährigen Strobl mit dem Manöver gelungen, seinem politischen Ziehsohn eine gute Ausgangslage zu verschaffen: Für seine Nachfolge hat er den 35-jährigen Fraktionschef Manuel Hagel vorgeschlagen, dessen Karriere er seit Jahren fördert. Dem Neuen – Bankkaufmann und Betriebswirt aus Ehingen in Oberschwaben – werden Ambitionen nachgesagt, als Spitzenkandidat bei der Landtagswahl 2026 die Stuttgarter Villa Reitzenstein von den Grünen zurückzuerobern. Da deren 75-jähriger Übervater Kretschmann dann nicht mehr antreten will, könnte es Hagel mit dem derzeitigen Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir zu tun bekommen. Endlich mal wieder was los im Süden!


Wer ist der Vater?

Es ist eine juristisch hochumstrittene Regel: Biologische Väter haben kein Recht, Vaterschaften anzufechten, wenn zwischen dem Kind und dem gesetzlichen Vater laut Familiengericht eine sozial-familiäre Beziehung besteht, der Mann also Verantwortung für das Kind trägt. Weil ein solcher verhinderter biologischer Vater aus Sachsen-Anhalt dadurch sein Elternrecht verletzt sieht, mit seiner Klage vor dem Oberlandesgericht Naumburg aber scheiterte, verhandelt ab heute das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über den Fall.

Die Abwägungen, die die Richter zu treffen haben, sind komplex. Hinter dem entscheidenden Paragrafen 1600 des Bürgerlichen Gesetzbuchs steht der richtige Gedanke, faktisch gelebte Familien zu schützen. Dennoch bleibt die Frage, ob die unüberwindliche Sperre für Bio-Papas, die es mit ihrer Vaterschaft ernst meinen, nicht bedenklich ist. Folgerichtig will sich der Erste Senat zunächst über den "Erkenntnisstand zu den Bedingungen stabiler Bindungen bei Kindern" informieren lassen. Das Urteil wird erst in einigen Monaten erwartet.


Gurke des Tages

Nach monatelangen Diskussionen hatte die Ampelkoalition Anfang September ihr Heizungsgesetz beschlossen. Keinen Monat später will Bauministerin Geywitz das Gesetz nun schon wieder ändern.


Ohrenschmaus

Geht es Ihnen manchmal auch so, dass Sie laut schreien möchten? Er hier kann das wie kein Zweiter.


Das historische Bild

Vor rund 50 Jahren entführte ein Gangster ein Verkehrsflugzeug und entkam damit auf spektakuläre Weise. Hier erfahren Sie mehr.


Lesen und sehen

Putins Armee gerät in der Ukraine in die Defensive. Nun soll Putin seinem Verteidigungsminister ein Ultimatum gestellt haben, berichtet mein Kollege Christoph Cöln.


Der TV-Sender "Arte" zeigt um 20:15 Uhr einen bemerkenswerten Film: "Russland: Der Wahrheit verpflichtet" dokumentiert das Schicksal der russischen Opposition. Falls Sie heute Abend anderes vorhaben, finden Sie den Film auch in der Mediathek.


Was will die Ampelregierung gegen den Wohnraummangel tun? Das sind die Beschlüsse des Wohnungsbaugipfels im Kanzleramt.


Zum Schluss

Die Ampelleute haben endlich einen Plan gegen den Wohnungsmangel.

Ich wünsche Ihnen einen gelungenen Tag. Morgen schreibt unser Politikreporter Tim Kummert den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Donnerstag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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