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Ukraine-Strategie des Westens ist gescheitert – jetzt geht es um eines


Tagesanbruch
Die Strategie des Westens ist gescheitert

  • Daniel Mützel
MeinungVon Daniel Mützel

Aktualisiert am 20.11.2023Lesedauer: 7 Min.
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Wolodymyr Selenskyj bekommt Anfang Mai 2023 in Aachen den Karlspreis.Vergrößern des Bildes
Wolodymyr Selenskyj bekommt Anfang Mai 2023 in Aachen den Karlspreis. (Quelle: IMAGO/Christopher Neundorf)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

erinnern Sie sich noch an den Ukraine-Krieg?

Keine Sorge, das soll kein Vorwurf sein. Zwischen düsteren Wirtschaftsprognosen, Ampel-Dauerkrise, Terror und Bomben in Nahost oder vielleicht einfach nur wegen eines feuchtfröhlichen Wochenendes passiert es schon mal, dass man den größten Landkrieg in Europa seit 1945 verdrängt.

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Zugegeben, es gibt auch leichtere Themen am Montagmorgen. Man könnte sich damit beschäftigen, wie die schnellsten Supercomputer der Welt dabei helfen, Klimavorhersagen zu verbessern und neue Materialien herzustellen. Warum Harry und Meghan noch keine Einladung zur royalen Weihnachtsfeier erhalten haben (sie würden kommen). Oder dass im mexikanischen Tamaulipas endlich die Ursache einer verstopften Wasserleitung gefunden wurde (ein verirrtes Krokodil).

Aber es hilft nichts. Russlands Krieg gegen sein Nachbarland verschwindet nicht, nur weil unser Interesse erlischt. Es ist sogar umgekehrt: Wir müssen künftig noch stärker auf das Geschehen in der Ukraine schauen – schon aus purem Eigeninteresse. Denn durch das europäische Land pflügt noch immer eine russische Feuerwalze, verwandelt Städte in Steinhaufen, tötet Zehntausende. Nach fast zwei Kriegsjahren verschwindet die Ukraine allerdings immer mehr aus den Nachrichten.

Neben dem Gewöhnungseffekt, den alle Kriege irgendwann erzeugen, und der wachsenden Krisenstimmung hierzulande spielt sicher auch die Enttäuschung über die gescheiterte ukrainische Sommeroffensive eine Rolle.

Die Ukraine und auch viele im Westen hatten gehofft, die Offensive würde den Krieg bald beenden. Die umfangreichen Waffenpakete aus dem Westen mit 1.500 gepanzerten Fahrzeugen, Hunderten Kampfpanzern und modernsten Präzisionsraketen sollten die Ukraine befähigen, ihre Gebiete von der russischen Besatzung zu befreien. So wurden die historischen Waffenlieferungen im Frühjahr begründet, auch in Deutschland.

Nach knapp sechs Monaten Angriff ist klar: Die Rückeroberungsoffensive der Ukraine ist vorerst gescheitert.

Niemand hat das klarer formuliert als der ukrainische Armeechef selbst. Walerij Saluschnyj erregte Anfang November Aufsehen, als er vor einem drohenden "Patt" im Ukraine-Krieg warnte. Nur durch eine technologische Revolution lasse sich der Stellungskrieg mit Russland aufbrechen.

Es war nicht das erste Mal, dass Saluschnyj die offizielle Erzählung seiner Regierung unterlief. Der ukrainische Generalstabschef hatte sich schon vor Wochen mit einer schonungslosen Analyse an die Öffentlichkeit gewagt:

"Die im Juni begonnene Gegenoffensive fußte auf der Hoffnung, dass ukrainische Soldaten, ausgestattet mit modernen westlichen Waffen und ausgebildet in Deutschland, genügend Gebiete zurückerobern würden, um [der Ukraine] bei späteren Verhandlungen eine starke Position zu verschaffen. Dieser Plan funktioniert nicht", schrieb Saluschnyj im September im "Economist".

Saluschnyj spricht offen aus, was sich viele im Westen bisher nur ansatzweise eingestehen wollen. Zwar hat die Ukraine reichlich russische Kriegslogistik zerstört, aber das Hauptziel der Offensive verfehlt: die Landbrücke zur Krim in der Südukraine zu durchschneiden und damit die Versorgung der russischen Truppen auf der besetzten Halbinsel zu gefährden. Seit Juni hat Kiew nur wenige Quadratkilometer zurückerobert. Tausende ukrainische Soldaten haben dafür wohl ihr Leben gelassen.

Ob die späten Waffenlieferungen aus dem Westen schuld daran sind oder die hausgemachten Probleme der ukrainischen Armee, darüber lässt sich trefflich streiten. Nur: Es sollte endlich klar benannt werden, dass die Befreiungsoffensive der Ukrainer gescheitert ist. Und dass die russischen Befestigungsanlagen extrem schwer zu überwinden sind.

In der deutschen Debatte fehlt diese Klarheit. Stattdessen gibt es einen Hang zur Schönfärberei, weil man befürchtet, die Unterstützung für die Ukraine könnte sonst weiter schwinden. Minimalerfolge werden hervorgehoben, die hoffnungsvollen Prognosen vom Frühjahr geleugnet oder einfach weiter vom Sieg geträumt. Die Bundestagsdebatte zur Ukraine am vergangenen Donnerstag (hier finden Sie das Protokoll) zeigte das eindrücklich.

Es war gut, dass die Vertreter der demokratischen Parteien fast ausnahmslos ihre Unterstützung für die Ukraine bekräftigten. Nicht gut war, dass sie über die strategischen Folgen der verfehlten Offensive schwiegen. Das hilft der Ukraine nicht und untergräbt langfristig eher die Solidarität mit Kiew in Deutschland.

Warum also weiter Waffen schicken, wenn das nachweislich nichts nützt? Diese Frage stellen sich immer mehr Deutsche. Man kann sie ignorieren oder für kurzsichtig halten. Besser wäre es, eine Antwort darauf zu geben, die über die Fehlannahmen der vergangenen Monate hinausgeht.

Die ukrainische Gegenoffensive mag gescheitert und das Ziel der "Grenzen von 1991" in weite Ferne gerückt sein. Daraus folgt aber nicht, dass Deutschland und der Westen das angegriffene Land jetzt im Stich lassen sollten. Im Gegenteil: Man muss mehr tun. Und schneller.

Denn für die Ukraine wird der Krieg gegen Russland wieder zum Überlebenskampf. Der Kreml verfolgt nach wie vor das Ziel, die Ukraine als Staat und Nation zu vernichten. Die russische Führung zeigt sich nicht verhandlungsbereit. Auf eine diplomatische Lösung mit Moskau zu hoffen, bleibt eine Illusion.

Als Illusion entpuppt hat sich auch der Glaube an einen schnellen russischen Truppenabzug. Wir sollten jetzt darüber debattieren, ob die deutsche Militärhilfe in der nächsten Phase nicht vor allem ein Ziel verfolgen sollte: die Ukraine als lebensfähigen Staat zu erhalten und zu verhindern, dass Russland sich weitere Gebiete einverleibt.

Politisch wäre eine Abkehr von der Siegesrhetorik in Deutschland sicher nicht einfach. Sie hätte militärische Implikationen – und innenpolitische Vorteile. So geht es zum einen um die Art der Waffen, die der Westen nach Kiew liefert. Der ukrainische Armeechef Saluschnyj hat bereits im September skizziert, welches Militärgerät in der nächsten Kampfphase entscheidend ist: elektronische Kampfmittel, Drohnen, Artillerie und "vor allem eine bessere Luftverteidigung".

Letzteres ist vor allem deswegen essenziell, weil Russland zu einem zweiten Terrorwinter ansetzt: Raketenangriffe auf ukrainische Städte und gezielte Schläge gegen die Energieversorgung hatten schon 2022 die ukrainische Moral auf die Probe gestellt.

Auch der deutsche Marschflugkörper Taurus würde der Ukraine beim Überleben helfen. Er kann Russlands Kriegsmaschine zwar nicht das Genick, aber vielleicht das Knie brechen, und die Offensivfähigkeiten der Kremltruppen schwächen. Womöglich wäre der Taurus sinnvoller als die nächste vermeintliche Durchbruchswaffe (Stichwort Leopard-Kampfpanzer), die am Ende doch nur im Minenfeld verendet.

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Bislang blockiert Kanzler Scholz (SPD) die Taurus-Lieferung, doch die Union im Bundestag hat die Debatte mit einem Antrag neu entfacht.

Es erscheint klüger, im schwierigen Jahr 2024 die begrenzten Ressourcen in ein realistischeres Szenario zu investieren: mehr in Abwehr, Verteidigungsanlagen, Resilienz. Über eine weitere Offensive kann man zu einem späteren Zeitpunkt wieder nachdenken.

Die innenpolitischen Vorteile liegen auf der Hand: In einer Zeit, in der die Putin-Jünger der AfD im Höhenflug sind und die Deutschen sich zunehmend ihren eigenen Problemen zuwenden, hilft es nicht, mit Maximalzielen zu werben. Stattdessen sollte man den Bürgern besser erklären, warum es in unserem sicherheitspolitischen Interesse liegt, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen ein neo-imperiales Russland zu unterstützen.

Russland hat seine Wirtschaft und Gesellschaft auf Krieg umgerüstet. Putin lässt Panzer und Raketen schneller produzieren als vor der Invasion. Auch die russische Bevölkerung ist auf Krieg geeicht, wie das letzte unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada zeigt. Und wer sich hin und wieder das russische Staatsfernsehen antut oder Putins Sprechpuppen in der Duma lauscht, weiß: Dieser Krieg wird aus russischer Sicht schon längst gegen den Westen geführt.

Die Drohungen gegen das Baltikum und Polen, die jahrelangen hybriden Angriffe gegen Europa und die Einverleibung von Belarus ins russische Einflussgebiet zeigen, dass Putins Expansionsgelüste schwer zu stillen sind.

Klar ist: Sobald die ukrainische Armee geschlagen ist, kann sich Putin darauf konzentrieren, seine Streitkräfte wieder aufzubauen und sein militärisches Potenzial gegen andere europäische Staaten zu richten. Zwischen ihnen und Putin steht derzeit nur ein Hindernis: die Ukraine.

Je früher die politischen Verantwortlichen die Lehren aus der gescheiterten Gegenoffensive ziehen, desto früher kann eine vernünftige Debatte über die künftige Ukraine-Unterstützung beginnen. Bislang gibt es keine Strategie, keinen Plan für 2024.

Das ist gefährlich.



Was steht an?

Drama um Geisel-Deal: Es sieht zunehmend so aus, als könnte es zu einem Geisel-Abkommen zwischen Israel und der Hamas kommen. Die Terrorgruppe zeigt sich offen, 87 Entführte freizulassen. Im Gegenzug fordert sie eine fünftägige Feuerpause und Treibstoff. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, der gerade zu Gast im Hamas-Unterstützerstaat Katar war, bespricht sich am Abend mit dem saudischen Außenminister Prinz Faisal bin Farhan.


Digital first, Bedenken second: Die verspätete Digitalnation Deutschland muss nachsitzen. Auf dem "Digital-Gipfel 2023 der Bundesregierung" empfangen 1.000 Teilnehmer und Experten aus dem ganzen Land Kanzler Scholz, seinen Vize Habeck und Verkehrsminister Wissing. Oder war es umgekehrt? Egal, Hauptsache, es klingt schön digital. Es gibt "Orte des Internets" und einen "Markt der Möglichkeiten". Irre. Die Digitalisierung Deutschlands scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein.


Der Druck steigt: Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, soll Hinweise auf sexuell übergriffiges Verhalten bei einem Kirchenmitarbeiter ignoriert haben. Noch gibt ihr die Kirchenleitung Rückendeckung, doch machen erste Rücktrittsforderungen die Runde. Kurschus, die 20 Millionen evangelische Christen vertritt, will am Montag eine Erklärung abgeben.


Lesetipps

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Sie spinnen Intrigen, paktieren, schüchtern ein: Junge Rechtsextreme kapern in der AfD Bayern Mandate mit dubiosen Methoden – und mithilfe mächtiger Unterstützer. Meine Kollegen Annika Leister und Lars Wienand haben das einflussreiche Netzwerk um den AfD-Politiker und Himmler-Fan Daniel Halemba ausgeleuchtet.


Ginge es nach der Union, könnten Doppelstaatler künftig ihre deutsche Staatsbürgerschaft verlieren, sollten sie wegen einer antisemitischen Straftat zu mindestens einem Jahr Gefängnis verurteilt werden. Warum dadurch Millionen Menschen zu "Bürgern zweiter Klasse" degradiert werden, erklärt der Hamburger SPD-Politiker Danial Ilkhanipour im Gespräch mit meiner Kollegin Marianne Max.


Die Argentinier haben einen neuen Präsidenten gewählt. Der selbst ernannte "Anarchokapitalist" Javier Milei verspricht eine radikale Kehrtwende: Er will den US-Dollar als gesetzliches Zahlungsmittel einführen, die Zentralbank abschaffen und die Sozialausgaben "mit der Kettensäge" kürzen. Hier lesen Sie mehr zur Wahl des Enfant terrible der argentinischen Politik.


Zum Schluss

Die Mehrwertsteuer in der Gastro wird 2024 wieder erhöht – zum Missfallen der Gastronomen. Müssen es die Kunden ausbaden?

Ich wünsche Ihnen einen beschwingten Start in die Woche. Morgen kommt der Tagesanbruch von Florian Harms.

Herzliche Grüße

Ihr

Daniel Mützel
Reporter im Hauptstadtbüro von t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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