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Gefährdet Sahra Wagenknecht die Demokratie?


Wagenknecht, AfD, Maaßen
Die Wut wächst

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 08.01.2024Lesedauer: 6 Min.
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Sahra Wagenknecht will heute ihre Partei gründen.Vergrößern des Bildes
Sahra Wagenknecht will heute ihre Partei gründen. (Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Guten Morgen und ein frohes neues Jahr, liebe Leserin, lieber Leser,

auch am 8. Januar darf man das noch wünschen, denke ich. Zumal in diesen Zeiten, in denen ich niemanden kenne, der sich das nicht wünscht: dass 2024 besser werden möge als das krisengebeutelte Jahr 2023. Die Sehnsucht nach Lichtblicken ist zwischen Flensburg und Füssen, Dortmund und Dresden mit Händen zu greifen. Als optimistischer Mensch würde ich Ihnen daher nur allzu gern frohe Botschaften verkünden. Doch leider ist die Welt nicht so, und Probleme lösen sich nicht in Wohlgefallen auf, nur weil auf dem Kalender eine 4 statt der 3 hinten steht.

Im Gegenteil: Vielerorts wirkt das Land trotz der winterlichen Temperaturen wie aufgeheizt. Ängste vor Wohlstandsverlust und vor Konflikten im Ausland, Misstrauen in die Lösungskompetenz von Eliten und bei vielen Menschen auch ein tief sitzender Ärger über die Regierenden gleich welcher Couleur vermengen sich zu einem toxischen gesellschaftlichen Virus.

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Bei manchen Leuten löst dieses Virus Verunsicherung aus, bei vielen Apathie, bei einigen auch Aggression. Wer die Bilder gesehen hat, wie wütende Aktivisten den urlaubenden Wirtschaftsminister Robert Habeck bedrängten, mag sich an den Mob beim Kapitolsturm in Washington erinnert haben. Wer beobachtet, wie CDU-Politiker mit aggressiven Bildern im Internet die Gewaltbereitschaft schüren, erschrickt vor solcher Gewissenlosigkeit. Wer aus den Recherchen meines Kollegen Lars Wienand erfährt, dass die Bauernproteste von extremistischen Reichsbürgern unterwandert werden, dem wird mulmig zumute. Und wer schließlich hört, wie die Populisten Sahra Wagenknecht, Alice Weidel und Hubert Aiwanger in dreister Täter-Opfer-Umkehr Habeck diffamieren und die Randalierer verteidigen, dem kann ein dunkler Gedanke in den Sinn kommen: Ist es hierzulande wieder so weit? Ist die Stabilität unserer Demokratie, die in fast 80 Jahren so viel überstanden hat – Wirtschafts-, Finanz- und Migrationskrisen, linken und rechten Terrorismus – ist dieses erfolgreiche System gefährdet?

Ich halte nicht viel von Schwarzmalerei und von Miesepetrigkeit erst recht nicht. Ich meine zu wissen, dass die deutsche Gesellschaft robuster, der Rechtsstaat stabiler und die politischen Strukturen verlässlicher sind als es an Stammtischen, in Redaktionsstuben und in der digitalen Gosse oft erscheint. Und ich weiß mich dabei in guter Gesellschaft vieler Zeitgenossen, die sich ebenfalls weigern, in das permanente Krisengeschrei einzustimmen. Die überzeugt sind, dass Kritik an den Mächtigen in Politik und Wirtschaft hart sein darf – aber immer den Regeln des zivilisierten Umgangs entsprechen muss.

Trotzdem bin ich nachdenklich geworden, als ich zum Jahreswechsel das Buch von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt aus dem Regal gezogen habe: In ihrem Bestseller "How Democracies Die" beschreiben die Politikwissenschaftler, wie sich stabile Demokratien rasant in autokratische Staaten verwandeln können, wenn mehrere Faktoren zusammenkommen – darunter einschneidende Krisen, vor allem aber gewählte Politiker, die nicht mehr nach den Regeln von Pluralismus, Respekt und Gewaltenteilung handeln, sondern den demokratischen Konsens aufkündigen, um ihre Macht zu mehren. Nur weil ein Politiker demokratisch gewählt worden ist, bedeutet das noch lange nicht, dass er sich auch demokratisch verhält. Donald Trump ist die Blaupause für diese beängstigende Erkenntnis, Typen wie Björn Höcke sind es hierzulande. Und bei Lautsprechern wie Wagenknecht, Weidel, Aiwanger schwingt zumindest der Verdacht mit, dass auch sie bereit wären, demokratische und rechtsstaatliche Regeln zu verletzen, wenn es ihren Interessen hilft.

Umso bedrückender, dass so viele Menschen diesen Scharfmachern auf den Leim gehen. Was auch daran liegen mag, dass viele Bürger sich nicht mehr in seriösen Quellen informieren, sondern jeden Stuss glauben, der ihnen via Telegram, WhatsApp und Co. ins Handy schwappt. Dort wird gehetzt und gelogen, was das Zeug hält. Da wird Robert Habeck zum Handlanger einer kriminellen Klimaschutzlobby, der ukrainische Präsident Selenskyj zum Drogensüchtigen und die EU zum Werkzeug einer kapitalistischen Verschwörertruppe um den Milliardär George Soros: Es gibt keinen Unsinn, den es online nicht gibt.

Die digitale Verblödung wird zur Existenzbedrohung unserer Demokratie. Am Beginn des Superwahljahres 2024 braucht das Land deshalb nicht nur mehr Vertrauen, sondern vor allem mehr Vernunft. Die vernünftigen Bürger müssen lauter werden und ihre Stimmen erheben, bevor sie von den Geifernden und Radikalen niedergebrüllt werden. Wer Vernunft zum Maßstab seines Handelns macht, wird es sich zweimal überlegen, ob er wirklich aus Protest die AfD wählt, die Deutschland aus der EU herausdrängen will, die Nachsicht für Putins brutalen Imperialismus zeigt und in deren Reihen Neonazis immer lauter werden. Der wird sich zweimal überlegen, ob er einer obskuren Gestalt wie Hans-Georg Maaßen applaudiert, die nun auch noch eine rechte Splitterpartei gründen will. Und er wird sich eher dreimal überlegen, ob er alles glaubt, was Frau Wagenknecht den lieben langen Tag erzählt.

Heute will die ehemalige Linkenpolitikerin die Gründung ihrer eigenen Partei zelebrieren. Dafür hat sie Politprofis wie den Finanzexperten Fabio De Masi und Spender wie den Millionär Ralph Suikat gewonnen.

Schon jetzt kann Wagenknecht mit großem Wählerpotenzial rechnen. Viele Menschen sehen in ihr das Sprachrohr aller Missstände im Land. Messerscharf reden kann sie zweifellos. Zugleich gibt Wagenknecht mehr Rätsel auf als sie Ideen entwirft. Sie bleibt absichtlich zweideutig und prangert zwar gern politische Fehlentwicklungen an, macht aber selten praktikable Lösungsvorschläge. So spielt sie virtuos das Spiel des Populismus und lullt Menschen ein, die vom Ampelchaos abgeschreckt sind. Auch auf der Website der Wagenknecht-Partei zeigt sich diese Taktik: viel Kritik, kaum Verbesserungsvorschläge. Das ist im besten Fall durchsichtig. Im schlechtesten schäbig.


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Bauern in Rage

Von morgens bis abends Termine, Leibwächter, Fernsehkameras: Spitzenpolitiker leben in einer eigenen Welt. Das ist ihnen grundsätzlich nicht vorzuwerfen. Hinterfragen kann man aber schon, ob sie in ihrer Blase das Leben im Land überhaupt noch wahrnehmen – vor allem die Folgen ihrer Entscheidungen für andere Menschen. Die Ampelleute sind in dieser Hinsicht schon mehrfach durch Empathielosigkeit aufgefallen.

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Der Streit um die Subventionen für Bauern zeigt: Das Trio Olaf Scholz, Robert Habeck und erst recht Christian Lindner hat offensichtlich keinen blassen Schimmer von der Lage der Landwirtschaft. Weil sie nach dem Verfassungsgerichtsurteil sparen mussten, setzten die Koalitionschefs in stundenlangen Sitzungen überall dort den Rotstift an, wo sie es als verschmerzbar erachteten – sprich: Wo ihre eigene Wählerklientel möglichst wenig betroffen zu sein schien. Als wir Wirtschaftsminister Habeck kurz nach der Haushaltseinigung zum Gespräch trafen, sah er kein Problem darin, den Bauern die Begünstigungen bei Kfz-Steuer und Agrardiesel zu streichen: Höhere Preise würden dann eben auf die Verbraucher umgelegt, fertig.

Drei Wochen später zeigen sich die Folgen dieser Fehleinschätzung: Bundesweit gehen Bauern auf die Barrikaden, zum Auftakt einer Aktionswoche wollen sie heute Autobahnen und Landstraßen blockieren (hier erfahren Sie, wo). Um 12 Uhr gibt es eine Protestaktion am Brandenburger Tor in Berlin. Unsere Reporterin Annika Leister war in der Nacht mit ihnen unterwegs.

Zwar hat die strauchelnde Regierung mittlerweile eingelenkt: Die Kfz-Steuerbegünstigung bleibt erhalten, der Dieselkraftstoff für Trecker und Co. soll nur schrittweise teurer werden. Doch das genügt Bauernpräsident Joachim Rukwied nicht. Wer einmal einknickt, tut es auch ein zweites Mal: Nach diesem Motto will er die Regierenden in den Schwitzkasten nehmen, damit die ihre Streichpläne vollständig kassieren.

Unterm Strich führt der Bauernstreit zu drei Erkenntnissen. Erstens zeigt er, wie erstarrt die Republik mittlerweile ist: Weil jede Interessengruppe vehement ihre Pfründe verteidigt, sind Reformen in Deutschland kaum noch möglich. Zweitens dokumentiert er die Kurzsichtigkeit der Ampelregierung. Ohnehin gebeutelte Landwirte noch stärker zu belasten, während man klimaschädliche Subventionen wie das Dienstwagenprivileg unangetastet lässt, zeugt von Ignoranz. Drittens zeigt Greenpeace, dass es auch anders geht: Experten der Umweltschutzorganisation haben ein Konzept für eine klimafreundliche Landwirtschaft erarbeitet – statt umweltschädlicher Subventionen setzt es auf Förderungen für nachhaltige Produktion. So würden sowohl die Bauern als auch der Staatshaushalt entlastet. Heute stellen die Fachleute ihre Ergebnisse vor. Es wäre schön, die Regierenden würden zuhören.


Zitat des Tages

Die Bauerproteste, die in den kommenden Tagen über das Land schwappen, sind wahrscheinlich erst der Anfang einer riesigen Protestwelle, die in diesem Jahr auf uns zurollen wird. Sorge bereitet mir (…) die Tendenz, dass sich immer größere Gruppen in unserer Gesellschaft von der Demokratie verabschieden. Wer rechtsradikale Parteien wählt, gefährdet unseren Staat."

Jochen Kopelke, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, warnt im "Tagesspiegel" vor Eskalationen.


Ohrenschmaus


Lesetipps

Wagenknecht, Maaßen, vielleicht auch noch Islamisten: Immer mehr Parteien schießen aus dem Boden. Eine besorgniserregende Entwicklung, meint unser Politikchef Christoph Schwennicke. Mehr zum Superwahljahr hören Sie von ihm heute im Radio: um 10 Uhr in der Sendung "Kontrovers" im Deutschlandfunk, um 17 Uhr im "Forum" bei SWR2.



Wo ziehen konservative Politiker die Grenze zwischen Kritik an der Ampel und demokratieschädlichen Angriffen? Unsere Chefreporterin Sara Sievert berichtet von der CSU-Klausur.


Zum Schluss

Das geht zu weit!

Ich wünsche Ihnen ein leckeres Frühstück und einen gelassenen Tag.

Herzliche Grüße und bis morgen,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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