t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikTagesanbruch

Deutschland | Vorbild Polen: So könnte die AfD die Demokratie aushebeln


Tagesanbruch
Das kann auch Deutschland blühen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 19.01.2024Lesedauer: 6 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Polens Präsident Andrzej Duda versucht die Re-Demokratisierung aufzuhalten.Vergrößern des Bildes
Polens Präsident Andrzej Duda versucht, die Re-Demokratisierung aufzuhalten. (Quelle: Hannes P. Albert/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

ohne Regeln funktioniert unser Zusammenleben nicht. Die meisten sind ungeschrieben. In der Schlange stellt man sich hinten an. Beim Einsteigen in einen Bus wartet man, bis die Leute ausgestiegen sind, statt sich sofort durch die Tür zu quetschen. Dass die Praxis oft anders aussieht, weiß jeder, der sich schon mal irgendwo angestellt hat oder in einen Bus eingestiegen ist. Dennoch: Die Schummler und die Drängler sind immer noch die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Die Mehrheit hält sich daran, sonst würde das Chaos keine Grenzen kennen.

Für all das gibt es kein Gesetz. Bei Verstößen drohen höchstens säuerliche Kommentare, aber kein Bußgeld und erst recht kein Gefängnis. Fast allen unseren Verpflichtungen, die den gemeinsamen Laden am Laufen halten, kommen wir freiwillig nach, als Akt selbstverständlichen Respekts vor der Allgemeinheit und unseren Mitmenschen. Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte füllen lediglich die Lücken.

Loading...
Symbolbild für eingebettete Inhalte

Embed

Aber was passiert, wenn der Konsens zerbröselt? Um das zu erfahren, verlassen wir jetzt unsere Bushaltestelle, legen die Alltagsklamotten beiseite und ziehen schicke Kleider und die Herren bitte Krawatten an. Schließlich bewegen wir uns nun in der obersten politischen Etage. Unser Ortswechsel befördert uns zu einem unserer wichtigsten Nachbarn: nach Polen.

Dort ist nämlich schwer was los, und wir haben guten Grund, uns das ganz genau anzusehen. Samthandschuhe können wir dabei zu Hause lassen, so was findet in Warschau schon länger keine Verwendung mehr. In den Führungsetagen von Politik, Justiz, öffentlichen Medien und so ziemlich allem, was für die Zukunft Polens von Bedeutung ist, kommen nur noch harte Bandagen zum Einsatz. Denn es ist ein Kampf entbrannt, in dem es um nichts weniger als das Schicksal des Landes geht. Angefangen hat er mit einem einfachen Vorgang: einer Wahl. Die hat die bisherige Opposition im Oktober gewonnen. Neue Koalition, neue Regierung, neues Spiel – so geht das eben zu in einer Demokratie. Hätte man gedacht.

Damit die neue, EU-freundliche und liberale Regierung von Premier Donald Tusk dem Land die Richtung geben kann, die die Mehrheit der Wähler sich wünscht, müsste das frische Team die Schalthebel der Macht übernehmen. Eigentlich dürfte das nicht schwer sein, schließlich hat Polen eine demokratische Verfassung, die den Übergang der Regierungsgewalt nach der Wahl garantiert. Aber das Recht regelt nicht alles. Der demokratische Machtwechsel lebt vom Respekt vor dem Willen der Wähler. Damit hatte die Vorgängerregierung unter der Führung der autoritären PiS-Partei nicht viel am Hut. Und sie hat vorgebaut.

Lassen Sie mich ein Beispiel herausgreifen, um Ihnen zu verdeutlichen, wie perfide die Sabotage funktioniert. Nehmen wir den obersten Staatsanwalt, der hat einen bedeutenden Posten. Er entscheidet über wichtige Ermittlungen und die Erhebung von Anklagen, auch in Fällen politischer Korruption oder Amtsmissbrauchs. Die PiS hat einen Parteigetreuen in diesen Job gehoben. Auf dem Papier ist er zwar nur ein Stellvertreter des Justizministers. Aber die PiS hat vor der Wahl im Oktober schnell noch an der Gesetzgebung herumgeschraubt, sodass ihr Mann von der neuen Regierung nicht einfach entlassen werden kann. Dazu braucht es nun grünes Licht vom polnischen Staatspräsidenten. Anders als der frisch gewählte Premier ist der Präsident aber immer noch der alte.

Nun könnte der Staatspräsident eine neutrale Persönlichkeit sein und überparteilich über den Dingen stehen. Dann wäre seine Zustimmung nur eine Formalie. Tatsächlich ist der Präsident zwar parteilos – aber nur, weil er bei seinem Amtsantritt pro forma sein PiS-Parteibuch zurückgegeben hat. In Wahrheit verkörpert er das Gegenteil von Neutralität. Der Entlassung eines strategisch platzierten Akteurs aus dem eigenen Lager zuzustimmen – das kann man bei Präsident Andrzej Duda vergessen. Deshalb bleibt der von der abgewählten Vorgängerregierung ernannte oberste Ermittler im Amt. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. In Behörden und Gerichten läuft es ähnlich.

Es ist also gar nicht so einfach, als gewählte Regierung den Fuß in die Tür zu bekommen. Nun sind die Neuen aber auch nicht auf den Kopf gefallen. Der neue Justizminister hat die ganz scharfe Lupe herausgeholt und einen kleinen, feinen Verfahrensfehler gefunden, der die Ernennung des unliebsamen PiS-Mannes nachträglich ungültig macht. Und tschüss! – Oder?

Das Drama ist noch nicht zu Ende, denn die Antidemokraten kämpfen rigoros um die Macht: Prompt hat sich im Fall des geschassten Staatsanwalts das Verfassungsgericht eingeschaltet. Das wiederum hatte die PiS vorher ebenfalls mit ihren Leuten besetzt – und die helfen nun bei der Aushöhlung des Rechtsstaats. Sie haben die Entlassung des umstrittenen Staatsanwalts gekippt. Der Ausgang des Ringens ist offen.

Die Reihe solcher Beispiele ließe sich fortsetzen. Sitzen Feinde der Demokratie auf der Regierungsbank, installieren sie Extremisten, Spinner und Verschwörungsschwurbler in zentralen Institutionen: in der Justiz, in Behörden, in öffentlich-rechtlichen Medien, in der Zentralbank und so weiter. Und zwar so, dass man die gleichgeschalteten Typen nicht so einfach wieder wegbekommt.

Für uns in Deutschland hält der Machtkampf zwischen Demokraten und Autokraten in Polen eine Lehre bereit: Trotz Verfassung und Verfahrensregeln spielen im demokratischen Prozess ungeschriebene Gesetze eine überragend wichtige Rolle – nur merkt man das normalerweise nicht. Nicht nur einklagbares Recht, sondern die unsichtbaren Grenzen des politischen Anstands sorgen dafür, dass ein Machtwechsel so geräuschlos und reibungslos verläuft, wie wir Wähler das zu Recht erwarten. Sind aber die Feinde der Demokratie erst mal im Amt, können sie an den Gesetzen herumschrauben, Verfahren verändern – und zugleich die Unabhängigkeit der Richter untergraben, die solche Manöver auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen müssten. Über die ungeschriebenen Regeln des gegenseitigen Respekts setzen die Brandstifter sich sowieso hinweg. Sind sie durch die Tür in die Zentren der Macht gekommen, bekommt man sie kaum wieder hinaus. Abwählen? Reicht nicht. Weil sie ihre Leute überall in einflussreiche Posten gebracht haben. So zerstören sie die Demokratie von innen.

Loading...
Loading...
Loading...
Täglich mehr wissen

Abonnieren Sie kostenlos den kommentierten Überblick über die Themen, die Deutschland bewegen. Datenschutzhinweis

Heute wird es in Hamburg übrigens eine Demonstration geben, um gegen die Verfassungsfeinde von der AfD ein Zeichen zu setzen. Aber nicht wie geplant direkt vor dem Rathaus, sondern ein bisschen weiter weg, wo der erwartete Andrang wohl nicht so eindrucksvoll zur Geltung kommt. Denn die AfD hat kurzfristig für genau dieselbe Zeit eine Fraktionssitzung anberaumt, weshalb es um das Rathaus eine Bannmeile geben muss. Ein Trick? Ja, klar. Ein erster Vorgeschmack auf das, was uns bald droht? Vielleicht. Aber wer wirklich wissen will, was mit AfD-Leuten in Regierungsverantwortung auf uns zukäme, muss nach Polen schauen. Und geht dann unbedingt zur Demo.


Aufstehen gegen rechts

Auch in vielen anderen Städten sind Demonstrationen geplant: Hier ist die Liste. Immer mehr Bürger begreifen, dass es höchste Zeit ist, gegen die Demokratiefeinde Farbe zu bekennen.


Grün und grimmig

Normalerweise ist der Beginn der Grünen Woche für den Landwirtschaftsminister ein dankbarer PR-Termin: Er kann hübsch präsentierte Bioprodukte verkosten und in der Tierhalle vor glücklichen Kühen posieren. Wenn Cem Özdemir heute Morgen mit Bauernpräsident Joachim Rukwied, EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski und Berlins Regierendem Bürgermeister Kai Wegner zum Eröffnungsrundgang über die weltgrößte Messe für Ernährung, Landwirtschaft und Gartenbau aufbricht, verdunkelt jedoch der Streit um den Agrardiesel die Stimmung.

Zwar hat Herr Rukwied im Vorfeld versichert, dass auf der Messe "zunächst" keine Protestaktionen geplant seien. Schon ab Montag wollen die Bauern aber "in der ganzen Bundesrepublik" wieder "Nadelstiche setzen, die wehtun" – denn die Bundesregierung zeigt keine Bereitschaft, die Subventionskürzung zurückzunehmen. So verhärtet sind mittlerweile die Fronten, dass Minister Özdemir auch mit seinen Gedanken zum Umbau der Tierhaltung mittels eines "Tierwohl-Cents" kein Gehör mehr bei den Bauern findet. Dabei wäre eine konstruktive Debatte darüber, wie eine ökologische und profitable Landwirtschaft aussehen kann, genau das richtige Thema für die Grüne Woche.


Ohrenschmaus

Fußballer, Politiker und viele Fans nehmen ab 15 Uhr in der Münchner Allianz Arena Abschied von Franz Beckenbauer. Bundespräsident Steinmeier, Ministerpräsident Söder und Ehrenpräsident Hoeneß werden rührende Worte sprechen; die ARD überträgt live. Damit das Ganze nicht allzu traurig wird, hören wir vorher noch rasch was Humorvolles.


Lesetipps

Deutsche Städte unter Wasser: Ist das, was viele Orte Anfang des Jahres erlebt haben, bald der Normalzustand? Unsere Kolumnistin Sara Schurmann zeigt Ihnen, warum es höchste Zeit ist, einige wichtige Entscheidungen zu treffen.


Das Potsdamer Geheimtreffen von Neonazis, AfD-Extremisten und CDU-Mitgliedern ist kein Einzelfall. Eine neue Verschwörerrunde ist bereits geplant, berichtet mein Kollege Tobias Eßer.


Olaf Scholz wird angeschrien, beschimpft, ausgepfiffen. Hat das Kanzleramt einen Plan, um aus dem Stimmungsloch herauszukommen? Unsere Chefreporterin Sara Sievert hat sich umgehört.



Zum Schluss

Die Ampelkoalition hat beschlossen: In den kommenden zwei Jahren wird Arbeitsverweigerern das Bürgergeld gekürzt.

Ich wünsche Ihnen einen produktiven Tag. Und heute Abend gute Unterhaltung, falls Sie ebenfalls so gern in den Dschungel zappen wie gewisse Newsletter-Autoren.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website