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Gewalt an Lehrern: Das ist der eigentliche Skandal


Tagesanbruch
Der eigentliche Skandal

MeinungVon Miriam Hollstein

Aktualisiert am 12.01.2023Lesedauer: 7 Min.
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Marode Schultoiletten an der Justus-von-Liebig-Sekundarschule in Duisburg. Quelle:Vergrößern des Bildes
Marode Schultoiletten an der Justus-von-Liebig-Sekundarschule in Duisburg. (Quelle: Lars Fröhlich/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

es ist eine Nachricht, die einen fassungslos zurücklässt: Im nordrhein-westfälischen Ibbenbüren tötete ein Schüler seine Lehrerin. Der 17-jährige Sinan B. stach die 55-Jährige am Dienstagnachmittag im Klassenzimmer eines Berufskollegs nieder, nachdem er einen eintägigen Schulverweis erhalten hatte. Danach wählte er selbst den Notruf.

Noch ist wenig über die genauen Umstände bekannt. Was man aber schon jetzt sagen kann: Die Gewalt gegen Lehrkräfte nimmt zu. Im vergangenen November veröffentlichte die Lehrergewerkschaft VBE eine repräsentative Umfrage unter Schulleiterinnen und Schulleitern. Ihr zufolge kam es an jeder dritten Schule in den vergangenen fünf Jahren zu einer körperlichen Attacke gegen eine Lehrkraft. 2018 waren es noch 26 Prozent gewesen. 61 Prozent der Befragten berichteten von direkten Beleidigungen, Bedrohungen und Belästigungen gegen Lehrende.

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Besonders häufig ereigneten sich körperliche Angriffe in Nordrhein-Westfalen, wo jetzt auch die Pädagogin starb. Hier gab fast die Hälfte der Befragten an, körperliche Angriffe gegen ihre Mitarbeiter oder sich selbst erlebt zu haben, im Vergleich zu 35 Prozent im Jahr 2018. Die Hälfte der befragten Schulleitungen sagte, das Thema werde in der Gesellschaft tabuisiert.

Dass es nicht um Einzelfälle geht, zeigt auch ein Blick in die Statistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung: Dort wurden bei angestellten Lehrkräften in Schulen und Hochschulen für die Jahre 2017 bis 2021 insgesamt 1.158 Arbeitsunfälle durch Gewalt, Angriff oder Bedrohung gemeldet. Betroffen waren keineswegs nur "Problemschulen". Allein 311 der Meldungen kamen aus Vor- und Grundschulen. Und die Statistik dürfte nur einen Bruchteil der Fälle abbilden, denn verbeamtete Lehrer und Lehrerinnen erfasst sie gar nicht.

Was läuft also schief an unseren Schulen? Wer es wissen will, muss sich nur einmal mit pädagogischen Fachkräften unterhalten. Als Antwort folgt häufig ein minutenlanger Frustvortrag. Da ist die Arbeitsverdichtung, die dazu führt, dass das Lehrpersonal immer mehr Aufgaben in immer weniger Zeit erledigen soll. Im Alltag führt dies meist dazu, dass für all jene Schüler und Schülerinnen, die in irgendeiner Form auffällig sind und nicht einfach "mitlaufen", keine Zeit mehr bleibt. Auch nicht für einen konsequenten Umgang mit ihnen. Verschärft wird dies durch den Lehrermangel und die ständigen Unterrichtsausfälle.

Da sind Eltern, die immer weniger kooperieren, den Lehrkräften bei Beschwerden über ihre Kinder je nach Bildungsstand entweder mit dem Anwalt oder mit Gewalt drohen. Oder die selbst so überfordert sind, dass sie sich bei Schulproblemen des Nachwuchses komplett herausziehen und alles bei den Schulen abladen.

Und da sind Politiker und Politikerinnen, die Bildung nur in ihren Reden zur "Chefsache" erklären, sich aber in Wirklichkeit kein bisschen darum scheren, dass Schulen sowohl technisch als auch personell besser ausgestattet werden.

Die Folgen: Viele Schulen sind in einem so desolaten Zustand, dass sie eine Zumutung für Lehrer und Schüler sind. Smartboards sind entweder gar nicht vorhanden oder kaputt. Die Toiletten stinken, sind mit Kot verschmiert, verfügen selbst in Pandemiezeiten nicht über Seife oder Handtücher. Manches Kind geht da lieber morgens daheim noch mal extra auf die Toilette, damit es das nicht in der Schule tun muss. Lehrer und Lehrerinnen landen immer häufiger im Burn-out oder in der Dienstunfähigkeit, weil sie mit den Problemen alleingelassen werden.

Jedes Unternehmen, das so mit seinen Mitarbeitern umgehen würde, könnte schon nach einem halben Jahr dichtmachen. Warum muten wir diese Zustände unseren Kindern zu, aber auch den Lehrern? Wie sollen die jungen Menschen angesichts dieser Umstände ernsthaft glauben, dass sie die wichtigste Ressource sind, die dieses Land hat? Und wie sollen Lehrer das Gerede darüber noch ansatzweise ernst nehmen?

Dabei sind die Zustände in einem der reichsten Länder der Welt weder gottgegeben noch unveränderbar. Kleinere Klassen, reduzierte Stunden für Lehrkräfte (damit mehr Zeit für die Betreuung und für interne Absprachen bleibt), mehr Supervision für Pädagogen, klare Sanktionen bei Verstößen gegen die Schulordnung und die Kapazitäten, diese auch konsequent durchzusetzen. Viel mehr Schulsozialarbeit, besondere Begleitung von Kindern aus problematischen Familienverhältnissen, regelmäßige Renovierungen der Unterrichtsräume und Toiletten, ausreichend Sporthallen sowie gut situierte Eltern, die ihre Kinder nicht lieber an eine Privatschule schicken, sondern sich an der städtischen Schule im Einzugsgebiet engagieren. Das sind viele Vorschläge, aber eben nur einige der Punkte, an denen man ansetzen könnte, um die Verhältnisse zu verändern.

Was es aber vor allem dafür braucht: das Bewusstsein, wie (überlebens-)wichtig gute Bildung für das Funktionieren unserer Gesellschaft ist. Und den Willen, dieses Bewusstsein mit Geld und politischen Entscheidungen zu bezeugen. Nicht nur in Sonntagsreden.


Die traurigsten Top Ten der Welt

Stellen Sie sich vor, Sie müssten jeden Tag von weniger als 1,90 Euro leben. Wie lange würde das gut gehen? Im afrikanischen Sambia hat jeder zweite Einwohner nur diesen Minibetrag zur Verfügung. Im rohstoffreichen Angola sind 114.000 Kinder unter fünf Jahren unterernährt. Im Tschad hat es einen echten "Wut-Herbst" gegeben: Dort sind im Oktober Tausende auf die Straßen gegangen, weil sie demokratische Wahlen wollten. In Malawi hat ein Wirbelsturm 87.000 Menschen um ihr Zuhause gebracht.

Sie haben von all dem noch nie gehört? Das liegt nicht an Ihnen. Denn all diese Krisen haben eines gemeinsam: Über sie wird nicht berichtet. Die Hilfsorganisation Care erstellt jedes Jahr die Top Ten der vergessenen Krisen. Dafür wertet sie Onlineartikel aus, die weltweit auf Arabisch, Englisch, Französisch, Spanisch und Deutsch erschienen sind. Das Ergebnis für 2022 wird an diesem Donnerstag veröffentlicht. Ich habe schon einmal für Sie hineingeschaut.

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Angola, Malawi, die Zentralafrikanische Republik, Sambia, Tschad, Burundi, Simbabwe, Mali, Kamerun und Niger sind die Länder, die in der Online-Berichterstattung 2022 praktisch überhaupt nicht auftauchten. Am meisten noch Niger: Für die Zeit von Januar bis Oktober zählte die Hilfsorganisation 12.631 Artikel. Beim Schlusslicht Angola waren es nur 1.847.

Nun könnte man argumentieren, dass Aufmerksamkeit ein knappes Gut ist. Und dass wir in Zeiten, in denen wir täglich über Kämpfe in der Ukraine und explodierende Energiepreise lesen, auch wirklich andere Sorgen haben, als uns mit hungernden Kindern und Überschwemmungen in Afrika zu beschäftigen. Einerseits.

Andererseits hatten die meisten vermutlich Zeit, einen der weltweit erschienenen 217.201 Artikel über die gerichtlich ausgetragene Schlammschlacht zwischen dem Schauspieler Johnny Depp und seiner Ex Amber Heard zu lesen, über die Ohrfeige, die der Actionstar Will Smith Chris Rock bei der Oscarverleihung verpasste (217.529 Berichte), oder über Elon Musks Kaufangebot an Twitter (248.132 Onlineartikel).

Von "blinden Flecken" spricht Care. Es überrascht wenig, dass sich alle zehn Länder der Liste in Afrika befinden. Auf diesen riesigen Kontinent guckt man im Westen ohnehin selten und angesichts der Corona-Pandemie, des Ukraine-Krieges und der Klimakatastrophe noch weniger als sonst. Dabei wäre gerade Letztere ein guter Grund, den Blick zu weiten.

Denn in einigen dieser Länder hat die Klimakrise schon jetzt massive Auswirkungen. Sie führt zu Überschwemmungen und Dürren wie in der Zentralafrikanischen Republik, wo inzwischen 63 Prozent der Bevölkerung humanitäre Hilfe benötigt. Oder wie in Burundi, wo sintflutartige Regenfälle Felder und Nahrungsvorräte zerstört haben und jedes zweite Kind unter fünf Jahren unterernährt ist.

"Schlimm, aber wir können nicht die gesamte Welt retten", mag jetzt mancher denken. Das ist richtig. Aber der Hungernde und Perspektivlose von heute ist der Flüchtling von morgen. Wäre es also nicht besser, wir schauten jetzt schon einmal hin? Wie wäre es, wenn wir Medienschaffende uns ein Beispiel an den französischen und britischen Kollegen nehmen und immer mal wieder über diese Länder berichten würden – egal, wie viele Leserklicks das bringt? Unser Chefredakteur Florian Harms ist im vergangenen Dezember eine Woche lang nach Kenia gereist und hat von dort viele spannende und bewegende Berichte mitgebracht.

Und wie wäre es, wenn wir alle für jeden Klatschartikel über Prinz Harry auch einen über eine dieser vergessenen Krisen lesen würden? Wäre das nicht ein guter Vorsatz für 2023?


Was steht an?


Außenministerin Annalena Baerbock trifft sich heute in Äthiopien mit Vertretern von Regierung und Zivilgesellschaft. An ihrer Seite: die französische Außenministerin Catherine Colonna. Das kann man auch als kleines Signal an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verstehen, dessen Verhältnis zu Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gerade nicht das beste ist: Bei uns in der Außenpolitik klappt's gut.


In Berlin trifft sich heute die Bundestagsfraktion der SPD zu ihrer Jahresauftaktklausur. Auf der Agenda stehen eher trockene Themen: eine europäische Industriestrategie und der Abbau von Bürokratie bei Planungs- und Genehmigungsverfahren.


Was lesen?

Großbaustelle FC Bayern. Der Rekordmeister hat vor dem Rückrundenstart Ende kommender Woche mit einigen brisanten Themen zu kämpfen: die Verletzung von Manuel Neuer, das Katar-Sponsoring und die Diskussionen um neue Spieler. Mein Kollege Julian Buhl hat sich die Probleme genauer angeschaut.

Beobachter vermuteten, mit dem Ende der Präsidentschaft von Donald Trump werde auch seine Ehe mit Melania enden. Zu häufig verweigerte sie seine Hand, wich Küssen aus oder hielt sichtbar Abstand zu ihrem Mann. Aufnahmen zeigen nun, wie es um die Beziehung der Trumps und öffentliche Auftritte von Melania steht.


Historisches Bild des Tages

Die gebürtige Mülheimerin Clärenore Stinnes war eine echte Weltenbummlerin. 1929 vollbrachte sie unter Lebensgefahr eine Leistung, die sie weltberühmt machte. Was das war, erfahren Sie hier.


Was mich amüsiert

Wer hätte das auch ahnen können ...

Kommen Sie gut durch den Rest der Woche. Morgen schreibt an dieser Stelle unser Chefredakteur Florian Harms für Sie.

Herzliche Grüße

Ihre Miriam Hollstein
Chefreporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @HollsteinM

Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.

Mit Material von dpa.

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