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Künstliche Intelligenz kann existenzielle Gefahr werden: Ungeahnte Risiken


Tagesanbruch
Eine neue Gefahr

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 15.06.2023Lesedauer: 7 Min.
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Amerikanische Atomrakete (Archivbild).Vergrößern des Bildes
Amerikanische Atomrakete (Archivbild). (Quelle: IMAGO)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

ein Flugzeugführer soll eigentlich das Flugzeug führen, doch die Piloten wussten nicht, wie ihnen geschah: Wie von Geisterhand neigte sich die Nase der Maschine zu Boden – ganz egal, wie sehr die beiden im Cockpit an den Steuersäulen zerrten und welche Schalter sie umlegten, um die Kontrolle über das herab rasende Flugzeug zurückzuerlangen. Mit einer Geschwindigkeit von 800 km/h donnerte die todgeweihte Boeing der Erde entgegen und zerbarst beim Aufprall, kurz nach dem Start in Addis Abeba. Niemand an Bord der Passagiermaschine überlebte. Genauso wie schon fünf Monate zuvor, als eine Boeing desselben Typs nicht mehr auf die Aktionen der Crew reagierte und sich vor Indonesien ins Meer stürzte, als hätte sie einen eigenen Willen. Auch dort überlebte niemand.

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Mittlerweile weiß die Welt, was die Piloten nicht ahnen konnten: Ein automatisches System zur Flugstabilisierung, dessen Existenz in den Bordhandbüchern noch nicht einmal Erwähnung fand, kam mit fehlerhaften Messwerten eines Sensors nicht zurecht. Die Automatik zwang die Maschine gnadenlos nach unten. Die hilflosen Piloten wurden vom System übersteuert. Sie und ihre Passagiere hatten keine Chance. Wie entnervend es sein kann, wenn Hardware und Software sich stur stellen, weiß jeder, der seinen zickenden Computer oder sein hakelndes Handy schon mal vor Wut am liebsten aus dem Fenster geworfen hätte. In schlimmen Fällen schicken versagende Algorithmen uns jedoch ins Inferno. Zum Glück hat der Flugzeugbauer Boeing die Sache behoben und daraus gelernt, könnte man an dieser Stelle seufzen. Vergangen, erledigt, weiter im Text.

Stattdessen nimmt die Debatte, welche Gefahren von fehlgeleiteter Software ausgehen, rasant Fahrt auf. Die Risiken Künstlicher Intelligenz beschäftigen diese Woche das Europäische Parlament. Es hat gestern ein Gesetz zur Regulierung von KI beschlossen – das strengste weltweit, wie mein Kollege David Schafbuch berichtet. Doch die Mühlen der EU mahlen langsam: Bis das Gesetz tatsächlich Wirkung entfaltet, werden noch Jahre vergehen. Um die Lücke zu füllen, drängt die für Technologie zuständige EU-Kommissarin Margrethe Vestager auf eine sofortige Selbstverpflichtung der Industrie, damit die mächtigen Algorithmen uns bis dahin nicht entgleiten.

Nicht nur in der EU spürt man den dringenden Handlungsbedarf. Auch bei den Vereinten Nationen in New York schrillt der Alarm: Am Montag warnte Generalsekretär António Guterres vor den Gefahren der KI und forderte die Staaten der Welt auf, eine globale Regulierungsbehörde aufzubauen. Führende Köpfe aus der Forschung zur Künstlichen Intelligenz, aber auch die Chefs der wichtigsten Unternehmen in diesem Bereich fordern eine Debatte über das enorme Risiko, das von der neuen Technologie ausgeht. Sie verlangen, der existenziellen Gefährdung der Menschheit entgegenzutreten. Ja, der existenziellen Gefährdung: Davor warnen selbst zwei der drei wichtigsten Pioniere in diesem Forschungsfeld. Der dritte sagt: alles nur Hysterie.

Auf die Frage, wer von den dreien recht hat, werden Sie heute im Tagesanbruch keine verbindliche Antwort finden. Kein anderer Technologiebereich entwickelt sich in einem vergleichbar atemberaubenden Tempo, was die Vorhersagbarkeit arg beschränkt. Selbst die Entwickler Künstlicher Intelligenz tun sich schwer damit zu begreifen, was im Inneren der lernenden neuronalen Netze vor sich geht, aus denen KI-Programme bestehen. Sie sind selbst baff über die Leistungsfähigkeit ihrer Schöpfung.

Nichts Genaues weiß man also nicht, aber dem Thema annähern kann man sich durchaus. Deshalb habe ich Sie an die Abstürze der Boeing 737 MAX erinnert. Schlimm war das, aber KI war dabei nicht im Spiel. Am Werk war die ganz gewöhnliche computerbasierte Automatisierung, wie wir sie schon lange kennen. Mit deren Gefahren hat die Menschheit immer wieder Bekanntschaft machen müssen, aber im Großen und Ganzen kommen wir mit ihren Risiken zurecht. Warum jetzt also so dramatisch? Was ist neu am Risiko KI?

Ich möchte versuchen, es Ihnen zu erklären. Bisher taten Computer das, was Programmierer ihnen befahlen: Die Nerds hacken Anweisungen in ihre Tastaturen, die dann meistens mehr oder weniger machen, was sie sollen. Die Logik des Programms, der Algorithmus, ist dabei in Stein gemeißelt. Wenn Unerwartetes geschieht, dann nur deshalb, weil aufwendige Programme sehr komplex geraten und der Mensch über das Ergebnis seines Schaffens manchmal den Überblick verliert. Computer halten sich jedenfalls sklavisch an die Befehle und hauen dem Schöpfer ihrer Software jede Schlamperei gnadenlos um die Ohren. Sie und ich schreiben in solchen Fällen eine säuerliche Mail an den Support oder rufen genervt die Hotline an. Aber unsere Spezies, insbesondere die programmierende Art, hat das Heft immer in der Hand.

Bei der Künstlichen Intelligenz ist das nicht mehr so. KI wird zunächst mit Daten trainiert. Die Software kann sich in diesem Prozess des maschinellen Lernens selbst so anpassen, dass sie am Ende des Trainings ein brauchbares Ergebnis ausspuckt. Man kann sich eine lernende KI als Maschine vorstellen, die über eine enorme Anzahl von Stellschrauben verfügt. Diese Stellschrauben ruckeln sich im Verlauf des Trainingsbetriebs von selbst zurecht, justieren sich hier, verstellen sich dort. Am Ende verhält sich die Maschine wie gewünscht. Sie erkennt in allen Katzenbildchen, mit denen wir sie während des Trainings gefüttert haben, zuverlässig die Katze. Der Clou ist jedoch: Sie entdeckt die Katze anschließend auch in Katzenbildchen, die sie zuvor noch nie gesehen hat. Die trainierte KI verwendet das abstrakte Konzept "Katze" bei der Beurteilung von Fotos. Sie hat gelernt.

Das ist nicht länger das Werk der Programmierer. Die haben die lernfähige Struktur geschaffen, aber von da an verändert sich das Programm von selbst. Die Software absorbiert die "Erfahrungen", die sie sammelt, und passt sich an – erst durch Training, später durch ergänzendes Feedback. Man kann lange darüber diskutieren, ab wann man für diese Lernfähigkeit den Begriff der Intelligenz verwenden darf. Noch viel länger kann man sich am Begriff "Bewusstsein" abarbeiten, das eine KI niemals oder doch oder vielleicht irgendwann einmal entwickelt. Ich möchte Ihr Augenmerk deshalb lieber auf den anderen Teil des technologischen Terminus lenken: Die Intelligenz oder wie auch immer wir das nennen ist vor allem "künstlich".

Ein Konstrukt aus Zahlen und mathematischen Funktionen läuft nicht der menschlichen Intelligenz hinterher. Es hat keine Hoffnungen und Wünsche, sondern löst ein Optimierungsproblem. Eine KI tickt anders als wir, und vor allem tickt sie sehr schnell. Sie kann bald Millionen Mal mehr als wir. Mehrere Künstliche Intelligenzen desselben Typs können unterschiedliche Lernerfahrungen machen und – anders als Menschen – das Gelernte blitzschnell untereinander austauschen. Mal eben rüberkopieren sozusagen. Dann können sie Abermilliarden Mal mehr als wir. Unsereins hockt jahrelang in der Schule, büffelt weitere Jahre an der Uni, arbeitet sich durch ein Buch nach dem anderen, gibt das Gelernte später per Wort und Schrift in unsäglich langsamer Übertragungsrate an andere weiter – und jedes neue Baby fängt mit der Prozedur wieder von vorn an. Die lernenden Maschinen dagegen können ihr Wissen direkt vererben. Ja, sie sind anders als wir, aber immens leistungsfähig.

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Überholen ohne einzuholen: So könnte man die zunehmenden Fähigkeiten der KI umreißen. Das ist die existenzielle Gefahr, vor der die Experten uns warnen. Sie verlangen, dass wir jetzt aufpassen. Damit wir am Ende nicht die Dummen sind, wenn wir das Heft des Handelns und die Kontrolle über die Maschinen plötzlich nicht mehr in der Hand haben. Zum Beispiel über Flugzeuge, Drohnen oder gar Atomraketen.


Was steht an?

In Kaiserslautern beraten Experten zahlreicher Fachdisziplinen darüber, wie Künstliche Intelligenz zur Bewältigung von Krisen genutzt werden kann.

Der Bundestag debattiert in erster Lesung über das Heizungsgesetz der Ampelkoalition. Warum dabei noch unberechenbare Tücken warten, erklärt Ihnen meine Kollegin Frederike Holewik.

Im Kanzleramt trifft sich Olaf Scholz mit den Ministerpräsidenten. Sie sprechen über den Ausbau der Energienetze, schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie die digitale Verwaltung. Klingt dröge, betrifft aber das Leben von Millionen Menschen.

In Frankfurt entscheidet die Europäische Zentralbank, ob sie den Leitzins weiter hebt, um die Inflation zu drosseln. Oder ob sie der amerikanischen Notenbank Fed folgt, die den US-Leitzins nach zehnmaliger Erhöhung gestern gleich gelassen hat – damit Kredite nicht noch teurer werden.

In Brüssel treffen sich die Nato-Verteidigungsminister mit Vertretern der Rüstungsindustrie. Es geht darum, wie schneller mehr Waffen gebaut werden können.

In London legt der Parlamentsausschuss zum "Partygate"-Skandal seinen Abschlussbericht vor. Ex-Premier Boris Johnson weiß bereits, dass er darin der Lüge überführt wird, und hat sein Abgeordnetenmandat sicherheitshalber schon niedergelegt.

Ins Schweizer Parlament in Bern wird der ukrainische Präsident Selenskyj per Video zugeschaltet. Das ist pikant, weil die Abgeordneten der rechtspopulistischen Volkspartei bislang Waffenhilfe für die Ukraine verhindern.


Ohrenschmaus

Sie wollen heute Morgen richtig in Schwung kommen? Dann habe ich etwas für Sie.


Das historische Bild

Anfang 1917 kam es in Russland zur Revolution, die Demokratie schien möglich. Doch Bolschewistenführer Lenin hatte andere Pläne.


Lesetipps

Die Berliner Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann eingeleitet. Recherchen meiner Kollegen Ricarda Heil und Steven Sowa zeigen: Das Groupie-System um den 60-jährigen Rockstar ist noch komplexer als gedacht.


Die Bundesregierung hat eine Nationale Sicherheitsstrategie beschlossen, sie soll das Land besser vor Krisen schützen. Was sich für die Bürger ändert, erklärt mein Kollege Patrick Diekmann.


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Zum Schluss

Die Ampelkoalition feiert ihren Erfolg.

Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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