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AfD | Björn Höcke legt gefährliche Fährte: Unser aller Totengräber


Tagesanbruch
Dann sind wir alle aufgeschmissen

  • Bastian Brauns
MeinungVon Bastian Brauns

Aktualisiert am 31.07.2023Lesedauer: 7 Min.
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Einflussreicher Einflüsterer von Rechtsaußen: AfD-Politiker Björn Höcke. (Quelle: IMAGO/dts Nachrichtenagentur)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Wie sehr aus der Zeit gefallen wirkt dieser Mann? Da steht Björn Höcke in Magdeburg beim Europawahl-Parteitag seiner Partei, der "Alternative für Deutschland". Er macht keinen Hehl daraus, wie flach das ist, was er gleich sagen wird. "Wenn Sie von mir mal eine populistische Aussage hören wollen, dann kann ich Ihnen das mal in eine Aussage zusammenpacken." Damit beginnt Herr Höcke seine billige Provokation ins Mikrofon des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders Phoenix.

Dann sagt er: "Diese EU muss sterben, damit das wahre Europa leben kann." Es ist ein Satz, den wir als Journalisten nicht ignorieren können. Die meisten von uns sind sich zugleich darüber im Klaren, dass wir Herrn Höcke damit genau das liefern, was er und seine Partei unbedingt brauchen für den Erfolg: Aufmerksamkeit. Diese geht damit einher, dass wir Aufklärung für Sie als Leserinnen und Leser gewährleisten wollen.

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Meine Kollegin Annika Leister war darum sehr aufmerksam. Was sie in Magdeburg bei der AfD beobachtet hat, lohnt sich, in ihren Analysen hier und hier nachzulesen. Denn so professionell und glatt, wie inzwischen oft behauptet, läuft es in dieser Partei nicht ab.

Wir sollten uns nicht zu lange mit dieser Partei und ihrem Programm aufhalten. Wir haben Wichtigeres zu tun. Die AfD versucht uns aufzuhalten in einer Zeit, in der wir keine Zeit verlieren dürfen. Sie gefährdet, was ihren Vertretern angeblich so sehr am Herzen liegt: unseren Wohlstand, unser Land und unsere Zukunft. Man stelle sich vor, wir müssten nicht nur die globalen Riesenprobleme Krieg, Klima und Konjunktur bewältigen, sondern auch noch die EU auflösen. Machen wir uns trotzdem einmal Folgendes klar:

In seiner Analyse agiert Björn Höcke nicht genial, aber geschickt. Er kopiert Strategien von Viktor Orbán in Ungarn und anderen Rechtspopulisten in Europa. Er greift ein Gefühl auf, das existiert. Die EU wirkt oft dysfunktional und unübersichtlich, dazu uneinig und entfernt von unseren Alltagsproblemen. Das liegt auch daran, dass wir Medien uns oft zu wenig mit EU-Prozessen beschäftigen. Menschen wie Herr Höcke oder Herr Orbán leugnen oder ignorieren jedoch, wie sehr Ungarn, Deutschland und die anderen Mitgliedstaaten finanziell von der EU profitieren.

Einfacher ist es, einfach draufzuhauen. Höckes Antwort auf dieses Gefühl ist ein populistischer Plan, aus dem er ebenfalls keinen Hehl macht: Er will seine AfD mit den anderen rechtsextremen Parteien in Europa stärker vernetzen, ihre Vertreter demokratisch ins Parlament wählen lassen, um selbiges dann abzuschaffen.

Aus Vertretern werden Verräter an der gemeinsamen Sache. Ihr Ziel ist ein sogenanntes "Europa der Vaterländer". Klingt verlockend?

Fragen wir die Briten. Sie haben im Zuge des Brexits die EU im Jahr 2020 verlassen. Seither liegt deren Bruttoinlandsprodukt auf einem Niveau von vier bis sechs Prozentpunkten weniger als zuvor. Import und Export leiden, das Handelsvolumen ist um etwa 15 Prozentpunkte zusammengebrochen. Das britische Pfund hat massiv an Wert verloren. Herr Höcke und seine Parteifreunde antworten darauf mit Ausflüchten, Verzerrungen, Unwahrheiten und Beschwichtigungen.

Zahlen hingegen lügen nicht. Aus Brexit wird Bregret, abgeleitet aus "Britain" und "regret", also bereuen. Die Anzahl der Briten, die den Brexit als eine falsche Entscheidung sehen, wird immer größer. In diesem Juli hielten laut repräsentativen Umfragen bereits 55 Prozent der Menschen in Großbritannien den Austritt aus der Europäischen Union für falsch. Nur noch 33 Prozent finden den Brexit nach wie vor gut.

Wer die EU abschaffen will, zerstört auch unseren mühsam über Generationen erarbeiteten Wohlstand und damit unser aller Zukunft. Denn das "Europa der Vaterländer", das Herrn Höcke vorschwebt, wurde von unseren Vätern und Müttern Hand in Hand mit den anderen Nationen aufgebaut. Das Fundament für diesen historisch einmaligen Wohlstand-Erfolg ist unsere gemeinsame Europäische Union.

Der ehemalige verbeamtete Geschichtslehrer Herr Höcke hat jedoch zum Totengräber umgeschult. Die Abschaffung der Europäischen Union würde nicht nur den Wohlstand beeinträchtigen, sondern auch unseren seit Jahrzehnten stabilen Frieden gefährden. Wir sehen dies schnell durch einen Rückfall zu rein nationalen Interessen in der Ukraine und erneut auf dem Balkan. Das ist eine Lehre, die jedes Kind aus der Geschichte ziehen kann. Herr Höcke aber ließ in seinem Unterricht laut Aussagen ehemaliger Schüler die Nazizeit einfach unter den Tisch fallen.

Es ist nötig, über Reformen dieses bewundernswerten Projekts Europa nachzudenken und sie umzusetzen. Bundeskanzler Olaf Scholz denkt darüber ziemlich laut nach. In seiner Grundsatzrede in Prag im April und in seiner Rede im EU-Parlament im Mai dieses Jahres forderte er große Veränderungen der EU. Das erklärte Ziel: "Europa einen guten Platz zu sichern in der Welt von morgen." Vielleicht hätte er noch präziser sein müssen. Denn morgen ist eigentlich schon heute.

"Wir brauchen eine geopolitische EU, eine erweiterte und reformierte EU, und nicht zuletzt eine zukunftsoffene EU", sagte der Bundeskanzler. Dazu gehört für Scholz eine viel stärker abgestimmte, gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik unserer befreundeten Nachbarn. Dazu die dauernd blockierenden Vetorechte im alles entscheidenden Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs zu schwächen. Nicht Bürokratie, sondern Querulanten, wie der ungarische Bruder im Geiste Björn Höckes, Viktor Orbán, halten uns hier auf. Ohne Blockierer ließe sich auch endlich eine gemeinsame Antwort auf die Migrationskrise finden.

Liebe Leserin, lieber Leser, ich möchte Ihnen an diesem Morgen aus Washington nicht belehrend gegenübertreten. Ich möchte Sie an meiner Perspektive teilhaben lassen. Was mir nach zwei Jahren als Ihr USA-Korrespondent für t-online auf der anderen Seite des Atlantiks am stärksten aufgefallen ist: Die Welt wartet nicht auf uns. Im Vergleich zu den USA, aber auch China und anderen aufstrebenden Nationen, wirkt unser geopolitisches Denken in Europa ziemlich verkümmert. Das hat historische Gründe und die liegen auch in unseren kleinen, noch immer nationalstaatlichen Strukturen.

Dieser geopolitische Rückstand ist gefährlich. Denn Europa wird als Akteur nicht ausreichend ernst genommen. Das Ergebnis: Es wird zu oft über unsere Köpfe hinweg entschieden. Zu glauben, wie Rechtspopulisten es uns glauben machen wollen, wir könnten das als Einzelstaaten besser, verkennt unsere Bedeutung. Hier in Washington kämpfen fast 200 Nationen täglich um die Aufmerksamkeit der Weltmacht. Indiens Präsident Narendra Modi bekam hier neulich einen mehrtägigen Staatsempfang. Je größer und bedeutender, desto schneller bekommt man einen Termin. Das gilt auch für Peking, Moskau oder Neu-Delhi. Lassen wir uns spalten, warten wir mit gebrochenem Rückgrat länger als beim Orthopäden.

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Ein Beispiel: Die geopolitische Dysfunktionalität der EU-Strukturen führte schon 2014 zu Aussagen, wie sie einst die US-Diplomatin Victoria Nuland in einem aufgedeckten Telefonat mit dem damaligen ukrainischen Botschafter Geoffrey Pyatt tätigte. Als die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland schon im Gange war und händeringend nach Lösungen gesucht wurde, sagte sie zu ihm "You know, Fuck the EU."

Diplomatisch war das nicht. Es zeigte aber, wie geopolitisch unbedeutend, weil handlungsunfähig, Europa schon damals wahrgenommen wurde. Der Rest ist bekannt und mündete in der todbringenden russischen Imperialpolitik in der Ukraine. Die EU konnte das nicht verhindern.

Wir Deutschen konnten uns über Jahrzehnte politisch hinter unseren extrem erfolgreichen Unternehmen verstecken. Wir hatten Interessen, aber keine ausformulierte Strategie. So können wir nicht weitermachen und holen das mühsam nach. In Europa hinken wir aber noch immer hinterher. Dabei ist diese Erkenntnis alles andere als neu:

Wir müssen uns solidarisieren und engagieren, um weiterhin zu profitieren. Wir müssen die Europäische Union nicht nur erweitern, sondern unsere internationalen Partnerschaften mit Staaten wie den USA, Japan, Südkorea, Indien oder Brasilien viel stärker ausbauen. Über Handel, aber auch über geopolitische und technologische Abstimmung unserer Strategien. Wir sind auf dem richtigen Weg.

Herr Höcke dagegen ist auf dem Holzweg. Die Deutschen sollen auch in den kommenden Jahrzehnten noch eine Chance auf Wohlstand und Frieden haben. Das schaffen wir nur gemeinsam und in enger Abstimmung mit unseren europäischen Freunden, deren Urlaubsorte, deren Sprachen, deren Essen und deren Mentalitäten wir so schätzen. Herr Höcke gefährdet das alles. Er führt uns mit seinen Europa-Plänen ins Verderben. Die Aufgaben, die vor uns liegen, sind größer als dieser Kleingeist.

Würden wir Herrn Höcke und seinen Kameraden wie dem Scharfmacher Maximilian Krah folgen, hieße es bald nicht mehr: "Fuck the EU", sondern "The EU is fucked". Das dürfen wir nicht geschehen lassen. Lassen Sie es mich aber diplomatischer als Victoria Nuland ausdrücken: Dann sind wir alle aufgeschmissen. Denn die uns feindselig gesinnten Akteure dieser Welt warten nur darauf.

Warten wir also besser nicht, sondern wagen wir etwas, im Vertrauen auf unsere schon so oft bewiesenen, gemeinsamen Stärken!


Kommende Termine

Am Montag legt das EU-Statistikamt die vorläufigen Verbraucherpreisdaten der Eurozone für Juli vor. Experten erwarten, dass sich die Inflation weiter abschwächt und die Teuerungsrate auf 5,2 Prozent fällt. Diese läge aber noch immer über der von der Europäischen Zentralbank angestrebten Rate von 2,0 Prozent.

Dazu veröffentlicht das EU-Statistikamt eine Schnellschätzung zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im zweiten Quartal. Ökonomen erwarten, dass es immerhin ein Mini-Wachstum von 0,1 Prozent gegeben hat. Das könnte zumindest ein Ende der Talfahrt der Wirtschaft bedeuten.

Am nächsten Wochenende startet in der saudi-arabischen Hafenstadt Dschidda eine hoffentlich vielversprechende Friedensinitiative zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Eingeladen hat das Königreich dazu nicht nur die Ukraine und westliche Staaten, sondern auch einflussreiche Länder wie Indien oder Brasilien. Russland ist nicht dabei.


Lesetipps

Immer extremere Hitze, immer extremere Waldbrände – die Klimakrise eskaliert. Die großen Ölkonzerne als Haupttreiber der Emissionen halten aber an ihren fossilen Profiten fest. Dabei wussten sie schon vor Politik und Öffentlichkeit, was ihr Geschäftsmodell für die Welt bedeutet, berichtet meine Kollegin Sonja Eichert.

Mein Kollege Noah Platschko ist derzeit im australischen Sydney und hat dort das Spiel der deutschen Fußball-Frauen gegen Kolumbien mitangesehen. Er berichtete über die knappe Niederlage, über verblüffende Aussagen nach dem Spiel und über die Konsequenzen.

Die Ukraine beginnt nach eigenen Angaben in den kommenden Tagen ihre Gespräche mit den USA über zugesagte Sicherheitsgarantien. Der Putin-Vertraute Dmitri Medwedew hat der Ukraine derweil erneut mit einem Atomschlag gedroht. Die aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg können Sie in unserem aktuellen Newsblog meiner Kolleginnen und Kollegen verfolgen.

Wissenswerte historische Einordnungen der Worte von Björn Höcke habe ich außerdem im "Tagesspiegel" gelesen. Der Historiker Matthäus Wehowski seziert dort den "völkischen Kitsch", den sich der AfD-Politiker offenbar bei den Nazis abgeschaut hat.


Was mich amüsiert

In diesem Sinne, Ihnen allen einen möglichst verkehrsfreien Start in den Tag!

Ihr

Bastian Brauns
Washington-Korrespondent
Twitter @BastianBrauns

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Mit Material von Reuters.

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