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Experten erklären: Darum gibt es immer mehr Verkehrs-Rowdys


Experten erklären
Darum gibt es immer mehr Verkehrs-Rowdys

dpa, Ulrike von Leszczynski

Aktualisiert am 20.01.2020Lesedauer: 4 Min.
Stinkefinger am Steuer: Die Sitten im Straßenverkehr werden rauer, bestätigen Experten.Vergrößern des BildesStinkefinger am Steuer: Die Sitten im Straßenverkehr werden rauer, bestätigen Experten. (Quelle: Jens Büttner/dpa-bilder)
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Der Umgang im Straßenverkehr wird immer aggressiver, die Rücksicht weniger. Experten nennen die Gründe und was man dagegen tun kann.

Die Meldungen über Aggression und Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr häufen sich. Ist das nur ein Zufall? Oder gibt es mehr Rowdys und Pöbler? Statistiken dazu führt in Deutschland niemand. Die Einschätzungen von Verkehrsrichtern, Psychologen und Verbänden gehen alle in eine Richtung: Ja, es ist gefährlicher geworden auf den Straßen.

Holger Randel kann da mitreden. Der Verkehrsberufungsrichter im Ruhestand meint, dass die Missachtung von Regeln im Straßenverkehr gravierend zunehme. "Ich erlebe den Straßenverkehr wie den Rest der Gesellschaft: als rücksichtsloser", ergänzt er. Menschen lebten ihren Frust auch stärker über ihr Auto aus als früher.

Autofahrer erleben schlechte Vorbilder

"Die Klagen über das Verkehrsklima nehmen zu", bestätigt Verkehrspsychologe Wolfgang Fastenmeier. Untersuchungen dazu hätten immer eine subjektive Komponente, dennoch seien sie ein Indikator. "Wir leben in einer Zeit der moralischen Verrohung", sagt er. "Staaten und Unternehmen sind schlechte Vorbilder. Warum sollten sich dann ausgerechnet Verkehrsteilnehmer wie moralische Saubermänner verhalten?"

Rechtsmedizinerin Saskia Etzold von der Charité beschreibt die Situation in Berlin drastisch: "Das geht über Rücksichtslosigkeit weit hinaus, das ist pure Gewalt. Und die Hemmschwelle sinkt", sagt sie. "Die Nerven liegen einfach blanker", sagt Unfallforscher Siegfried Brockmann. Brutale Delikte seien für ihn nicht neu. Möglicherweise steige aber gar nicht ihre Zahl, sondern sie würden mehr wahrgenommen. "Vielleicht sind die Leute einfach nicht mehr bereit, das länger so hinzunehmen."

Was tun bei Gefährdung?
Am besten wählt man so schnell wie möglich den Notruf 110, rät Svenja Mischel vom Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport. Wer keine Freisprechanlage oder keinen Beifahrer hat, hält für den Anruf bei der nächsten geeigneten Gelegenheit an. "Die Leitstelle stellt dann die wichtigsten Fragen und gibt weitere Anweisungen", sagt Mischel. Ein Beifahrer kann vielleicht Fotos oder Filmaufnahmen vom anderen Auto machen. Autofahrer sollten sich so viele Details wie möglich merken: das Kennzeichen, die Marke, das Modell und die Farbe des Autos sowie eventuell die Beschreibung des Fahrers und zwingend auch Ort sowie den Zeitpunkt der Tat. Hilfreich seien auch Hinweise zu weiteren Zeugen, welche die eigenen Beobachtungen ebenso bestätigen können. Also hier mindestens auch deren Kennzeichen merken. "Die Polizei wird dann versuchen, auch diese zu ermitteln und zu befragen", sagt Mischel.

Der Frust hat viele Gründe

  • Die Infrastruktur in Städten hält dem Verkehr kaum noch stand.
  • Steigende Mieten drängen Menschen aus den Metropolen ins Umland – damit schwellen Pendlerströme weiter an.
  • Online-Bestellungen befeuern den Lieferverkehr, Billig-Bus-Flotten werben der Bahn Kunden ab.

Die Straßen werden immer voller

Im Januar 2018 gab es 63,7 Millionen Fahrzeuge auf Deutschlands Straßen – rund 1,1 Millionen mehr als zum vorigen Stichtag. Dazu zählt alles vom Laster über den Kleinwagen bis zum Motorrad und Anhänger.
2016 legten Fahrzeuge 726 Milliarden Kilometer zurück, 2017 meldete der ADAC eine Rekordzahl von 723.000 Staus. Im Durchschnitt bildete sich jeden Tag eine Blechlawine von knapp 4.000 Kilometern. Auch die Gesamtzahl der Unfälle erreichte 2017 einen Höchststand, die Polizei nahm rund 2,6 Millionen Unfälle auf. Es wird alles immer mehr.

Moderne Technik entspannt die Situation nicht unbedingt. E-Bikes erhöhen das Tempo der Radfahrer. Selbst auf neuen, breiten Radwegen wird es ungemütlicher. Und selbst kleine Autos beschleunigen inzwischen in wenigen Sekunden auf mehr als 100 km/h. Viele Autos wiegen fast zwei Tonnen. Ex-Richter Randel hat nichts gegen schnelles Fahren, wo es möglich und erlaubt ist. Aber die Technik führe neben Imponiergehabe auch zu aggressivem Fahren – bis hin zur Gewalt. Eine Art Panzer-Gefühl.

Wer sind die aggressivsten Fahrer?

"Es gibt nicht den typischen Verkehrsrowdy. Das geht durch alle Bevölkerungsschichten und alle Ethnien", sagt Randel. Jüngere Fahrer seien häufiger Täter als Ältere. Frauen seien weniger aggressiv als Männer, aber seit rund 15 Jahren führen auch sie rücksichtsloser.

Polizei, Fahrschulen – sie alle signalisieren dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat, dass die Rücksichtslosigkeit zunehme, sagt Sprecherin Julia Fohmann. Belegt sei, dass überhöhte Geschwindigkeit heute häufiger Unfallursache sei als früher. "Ob dahinter aber ein besonders aggressives Verhalten steht, ist schwer nachzuweisen", ergänzt sie.

Aufklärung im Internet

Die Polizei setzt unter anderem auf Prävention. Etwa in Berlin: Mitte April twittert sie das Foto eines Kinderrads, das zerquetscht unter dem Vorderreifen eines Autos liegt. In der Erklärung des Bildes werben die Beamten für mehr Rücksicht im Straßenverkehr.

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Prävention wünscht sich Forscher Fastenmeier auch für Fahrschulen: eine Art Pflicht-Training für soziale Kompetenz. "Es geht darum, immer auch die Perspektive anderer Verkehrsteilnehmer wahrzunehmen", sagt er. Österreich habe das Training erfolgreich eingeführt – leider bisher nur nach Verstößen. "In Deutschland läuft diese Diskussion seit Jahrzehnten, aber nichts passiert", kritisiert er.

Die zwei Typen der Aggression

Zu Rüdiger Born in Hamburg kommen viele, die ihren Führerschein verspielten – oder sie haben andere Gründe wie ein laufendes Strafverfahren nach einem Verkehrsdelikt. Born ist Verkehrspsychologe und teilt seine Klienten beim Thema Aggressivität im Straßenverkehr in zwei große Gruppen ein: "Die einen sind emotional erregt. Und dann geht irgendwas so mit ihnen durch, dass sie zum Beispiel anfangen, richtig aufs Gas zu gehen und zu drängeln." Impulsdurchbruch nennt Born das.

Bei der anderen Gruppe hat Aggressivität für ihn psychologisch gesehen von Anfang an etwas mit dem bewussten Schädigen von anderen zu tun. "Da schneidet dann jemand mit völlig neutralen Gefühlen anderen den Weg ab oder nimmt einem anderen den Parkplatz weg. Weil er – mal ganz unpsychologisch gesprochen – in dem Moment ein Egoist ist", ergänzt er.

Etwa 10.000 Menschen im Jahr bekämen acht Punkte in Flensburg voll und würden damit ihren Führerschein los, sagt Born. Er begrüßt das. "Es gibt Untersuchungen, dass gerade sie besonders viele Unfälle verursachen." Born nennt sogar einen erwiesenen Zusammenhang zwischen Auffälligkeiten im Straßenverkehr und sonstiger Kriminalität.

Wie therapiert man Verkehrsrowdys?

"Wir schauen: Wie ist es ihnen gegangen an diesem Tag? Wie sind sie an diese Kreuzung gekommen?", beschreibt Born eine Sitzung. "Und oft kommen dabei Eskalationsgeschichten heraus. Da war jemand schon mit einer schlechten Grundstimmung unterwegs, bevor etwas passierte."
Born gibt Verhaltenstipps. "Wenn ich mich gerade mit meinem Ehepartner gezofft habe, sollte ich nicht gleich ins Auto steigen. Und wenn ich mich angurte, dann prüfe ich meine Stimmung, ob die wirklich zum Fahren gut ist."

Ein Grundbedürfnis können auch Psychologen Verkehrsteilnehmern nicht abtrainieren: Die meisten wollen auf direktem Weg von A nach B, möglichst schnell und möglichst sicher. Dabei werden sie automatisch zu Rivalen. Andere werden dabei zum Störfaktor. Mit immer mehr Verkehr steigt die Wahrscheinlichkeit, beim eigenen Vorwärtsstreben geärgert und frustriert zu werden, sagt Unfallforscher Brockmann.

Brauchen wir härtere Gesetze?

Was fehlt, sind für den langjährigen Richter Randel nicht die Gesetze. Es fehlt an ihrer erschöpfenden Anwendung. "Niemand will es hören, aber alle Behörden sind unterbesetzt. Das beginnt bei der Polizei, geht weiter über die Staatsanwaltschaft bis zu den Gerichten", sagt er.

"Die Anzeigehäufigkeit und die Verfolgungshäufigkeit können nicht mehr den Fakten auf der Straße entsprechen." Ist diese Form von Aggression ein typisch deutsches Phänomen? Randel überlegt. "Vielleicht", sagt er schließlich. "Weil wir ein Volk der Rechthaber zu sein scheinen. So viele Rechthaber wie bei uns erlebe ich selten in der Welt, privat und als Jurist."

Verwendete Quellen
  • dpa
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