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"Zwölf Stämme"-Aussteiger packt aus: So brutal ist die "Sekte"


"Das Nicht-Spielen-Dürfen ist für ein Kind die Schlimmste aller Strafen"

t-online, Simone Blaß

Aktualisiert am 17.11.2014Lesedauer: 6 Min.
Robert Pleyer ist ein Zwölf-Stämme-Aussteiger: Was als Sinnsuche begann, wurde irgendwann zum MartyriumVergrößern des BildesRobert Pleyer ist ein Zwölf-Stämme-Aussteiger: Was als Sinnsuche begann, wurde irgendwann zum Martyrium (Quelle: Wolf Heider-Sawall)
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Den Willen von Kindern brechen, ihnen Freude nehmen, sie züchtigen: All das hat Robert Pleyer als Mitglied der religiösen Gemeinschaft "Zwölf Stämme" getan. Er hat den Absprung geschafft. Seine Frau, die Mutter seiner Kinder nicht. Noch immer leiden er und seine Kinder an den Folgen. t-online.de hat den Aussteiger Robert Pleyer getroffen und mit ihm über die Auswirkungen des religiösen Fanatismus der "Zwölf Stämme" gerade auf die Kinder der Gemeinschaft gesprochen.

t-online.de: Herr Pleyer, Ihre Kinder waren wenige Wochen, drei, fünf und sieben Jahre als Sie die Zwölf Stämme verließen. Wie geht es ihnen heute?

Robert Pleyer: Soweit gut. Aber man merkt den Größeren immer noch an, was sie erlebt haben. Kinder hatten bei den Zwölf Stämmen ernst, still und folgsam zu sein. Sie mussten erst mühsam erlernen, wie man sich in sozialen Strukturen bewegt. Ihr Harmoniebedürfnis ist extrem hoch, Konflikte mit anderen Kindern können sie kaum aushalten. Seitdem ich meine neue Partnerin gefunden habe und wir eine richtige Familie sind, wird es besser. Vor allem meine große Tochter, Asarah, ist dadurch viel zugänglicher geworden.

Ihre Kinder durften, so beschreiben Sie es, nicht lachen und auch nicht spielen. Schon bei den Kleinsten begann man damit, ihnen systematisch den Willen zu brechen. Wie ging das vor sich?

Asarah war gerade mal acht Monate alt, da war es meine Aufgabe, sie dazu zu zwingen, ruhig zu sein und still zu sitzen. Anderthalb Stunden lang musste ich ihre Hände festhalten, ihr, wenn sie sich gewehrt hat, den Kopf auf die Brust drücken. Bis ihr Wille brach. Danach habe ich mich selbst verdammt. Es war einer der schwierigsten Momente in meinen Leben, ich bin da gegen so viel gegangen, was in mir war, wollte aber gleichzeitig alles richtig machen und meiner Frau gefallen.

Als die Kleine endlich ruhig war, habe ich nur noch geweint. Das war der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass mit der Erziehung bei den "Zwölf Stämmen" etwas nicht stimmt. Ganz und gar nicht stimmt. Jeder Selbstzweifel wird von anderen überrumpelt. Und heute weiß ich: Das Nicht-Spielen-Dürfen ist für ein Kind die Schlimmste aller Strafen.

In den derzeit zu verfolgenden Sorgerechtsstreits vor Gericht kann man immer wieder die Stimmen männlicher Gemeindemitglieder hören, die diese Erziehungsmethoden genauso vehement verteidigen wie das Züchtigen mit der Rute. Können Sie das nachvollziehen?

Grundsätzlich ist das angedachte Züchtigungssystem nicht so brutal und dramatisch, wie es nach außen dargestellt wird. Es sollte bewusst und ruhig ablaufen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will da nichts beschönigen. Aber es gibt das, was gelehrt wird, und das, was die Eltern daraus machen. Denn das Problem ist die Auslegung der einzelnen, sind die, mit denen die Wut durchgeht, die ihre Kinder regelrecht verprügeln.

An sich machen sich die Mitglieder der Zwölf Stämme viele Gedanken um Kindererziehung und ihre sozialen Strukturen sind sehr sicher. Die Kinder haben dort einen Halt. Es wird viel mit ihnen geredet. Sich für sie Zeit zu nehmen, sich ihnen zuzuwenden hat eine hohe Priorität. Da vermittelt man ihnen trotz Züchtigung mehr, als wenn sie einem egal sind. So wie die Zwölf Stämme ihre Kinder erziehen, bleibt mehr Harmonie erhalten, mehr Ruhe.

Diskussionen, wie ich sie heute führe, fallen komplett weg, indem die Kinder nichts von dem hinterfragen, was ihre Eltern ihnen vorgeben. Ich sage nicht, dass das der richtige Weg ist, aber ich habe schon auch einiges für mich mitgenommen aus dieser Zeit. Strukturen zum Beispiel finde ich wichtig, um sich zu orientieren.

Sie beschreiben, dass es ihnen sehr viel leichter fiel, als Lehrer die Kinder der anderen zu züchtigen, als später ihre eigenen. Wie erklären Sie sich das?

Bei meinen eigenen Kindern ist mir klargeworden, dass sie die gleichen Probleme mit mir hatten, wie ich mit den Ältesten. Ich konnte verstehen, was sie motiviert. Ich habe ihnen immer wieder Sachen durchgehen lassen, aber das fiel schnell auf, wenn die Kinder unruhig oder albern waren oder gar Widerworte gaben. Dann wurde von anderer Stelle aus durchgegriffen. Entweder übernahm meine Frau die Züchtigung, es gab aber auch Fälle, in denen jemand geschickt wurde, um die "Aufgabe" zu übernehmen.

Wer selbst geschlagen wurde als Kind, der muss als Erwachsener erst lernen, mit Konflikten anders umzugehen. Haben Sie Ihre Kinder jemals wieder geschlagen, seitdem Sie die "Zwölf Stämme" verlassen haben?

Ich war mit mir sehr streng, musste Wege finden, mit der Situation umzugehen. Die Rute kam für mich überhaupt nicht mehr in Frage, genauso wenig wie geplantes Schlagen. Aber die Hand ist mir anfangs schon mal ausgerutscht. Heute passiert mir das nicht mehr.

Haben Sie mit Ihren Kindern über die Schläge gesprochen, die sie erhalten haben, sich möglicherweise auch entschuldigt?

Ja, ich habe mich entschuldigt. Oft. Wir sprechen immer wieder darüber. Immer, wenn etwas hochkommt, versuche ich mir die Zeit zu nehmen, da zu sein, alles andere stehen und liegen zu lassen. Sie beginnen zu verstehen, dass das System so war und es jetzt anders ist. Heute kann ich meinen Kindern in die Augen sehen und sagen: Ich habe alles versucht. Jetzt haben sie mit Diana jemanden, der das Vakuum, das ich als alleinerziehender Vater nie füllen konnte, ausfüllt und den Kindern all das gibt, was ihre Mutter ihnen so nicht geben konnte.

Haben die Kinder noch Kontakt zu ihrer Mutter?

Shalomah ist nach unserem ersten Ausstieg zurück in die Gemeinschaft. Sie ist dort aufgewachsen und kam hier draußen überhaupt nicht zurecht. Inzwischen vermissen wir sie nicht mehr. Jeder Kontakt verwirrt die Kinder nur. Sie darf nicht alleine mit ihnen sprechen, immer ist ein Ältester im Hintergrund. Dann wird versucht, den Kindern ein schlechtes Gewissen zu machen, ihnen einzureden, dass sie sowieso bald zurückkommen werden. Der Schaden, der da angerichtet wird, ist größer, als wenn die Kinder ihre Mutter nicht sprechen.

Inzwischen wurde Shalomah das Sorgerecht entzogen und ich habe auch das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht. Die Kinder kennen ihre Mutter gar nicht richtig, sie ist ihnen fremd. Aber wenn sie Kontakt aufnehmen möchte, stehe ich dem nicht im Weg. Allerdings nur unter meiner Aufsicht. Und allein, ohne die anderen der Gemeinschaft. Die Gefahr einer Entführung in die USA ist zu groß.

Womit kämpfen Sie heute noch?

Die Zeit muss Heilung bringen. Für uns alle. Ich lebe immer noch, auch Jahre später, im ständigen Kampf mit meinem Gewissen, bei den banalsten Dingen. Das ist eine Last. Aber ich bin überrascht, wie stabil meine Kinder sind, auch sozial. Ich bekomme sehr oft ein gutes Feedback, zum Beispiel von Lehrern. Trotzdem kann man sehen, dass Leah, die Kleinste, bereits jetzt schon den Großen in vielem überlegen ist, zum Beispiel im Bereich der Kreativität oder des Sozialverhaltens. Sie ist so frei, so normal. Das ist wunderschön, was sie angeht, aber es tut weh, wenn ich an die anderen denke.

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Ich versuche ganz viel gutzumachen, Wunden zu heilen, Zeit zu haben für sie. Schlimm finde ich, dass manche Eltern Angst vor uns zu haben scheinen. Das Buch scheint dagegen ein wenig zu helfen, viele erkennen jetzt den Hintergrund. Aber es gibt auch ganz viele Stimmen, die sagen, einmal Kinderschänder, immer Kinderschänder, einmal Sekte, immer Sekte, der geht sowieso zurück.

Aber das werden Sie nicht tun?

Nein, es war einer der größten Fehler in meinem Leben, damals nach dem ersten Ausstieg noch einmal zurückzugehen. Allein die Tatsache, dass meine Kinder ihre Kuscheltiere wieder abgeben mussten und wie sie mich dabei angesehen haben, macht mich immer noch traurig. Aber noch viel schlimmer war, dass die Kinder mit aller Gewalt zurück auf den rechten Weg gebracht werden sollten. Vor allem Naarai musste bereits als kleines Kind ganz viel Prügel von meinem Schwiegervater einstecken.

Die Kinder haben viel gelitten in dieser Zeit und ich durfte sie sechs Monate lang nicht sehen, zur Strafe. Als ich sie wiedersah, waren sie wie gebrochen. Das fiel mir noch mehr auf, weil sie in der Zeit draußen so viel freier waren, gespielt haben, eigene Meinungen entwickelten. So etwas will ich nie wieder erleben. Ich liebe meine Kinder und ich bin glücklich, dass wir jetzt frei sind.

Buchtipp: "Der Satan schläft nie. Mein Leben bei den Zwölf Stämmen", Robert Pleyer

Das Interview führte Eltern-Autorin Simone Blaß.

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