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Magersüchtiges Kind: "Iss doch, Marie"


Kindergesundheit
Magersüchtiges Kind: "Iss doch, Marie"

spiegel-online, Nora Gantenbrink, Spiegel Online

15.03.2012Lesedauer: 6 Min.
Magersucht - wenn Kinder nichts mehr essen wollen.Vergrößern des BildesMagersucht - wenn Kinder nichts mehr essen wollen. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)
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Als Marie zehn Jahre alt ist, hört sie auf, Süßigkeiten zu essen. Später zählt sie täglich Kalorien, mit elf Jahren isst sie gar nichts mehr. Sie leidet an Magersucht. In einem Brief an ihre Mutter schreibt sie: "Ich will sterben." In der Psychiatrie soll jetzt alles besser werden. Ein Besuch bei Familie Baumgart.

Brief an die Mutter "Ich will sterben"

8. Januar 2012. Marie* will aus dem Fenster springen. Sie hat bereits gesagt, dass sie nicht mehr leben will. Gestern erst schrieb sie ihrer Mutter einen Brief. "Liebe Mama, ich hatte ein schönes Leben bei euch, aber jetzt müsst ihr mich loslassen. Denn ich will sterben." Neben den Text malt Marie einen Sarg. Auf den Deckel schreibt sie: Marie Sophia Baumgart, gestorben am 8. Januar 2012.

Asthma-Anfälle, einer nach dem anderen schütteln Maries Mutter Anke Baumgart, als sie den Brief liest. Ihr kleines Kind, ein schönes Mädchen mit braunem Haar und schlanken Gliedern, wollte sterben. Das Kind, das einst gern tanzen ging und schwimmen, das gern lachte und Einrad fuhr, wo war es jetzt?

Auf die Fensterbank der kleinen Wohnung im Osten Hamburgs klettert ein trauriges Wesen, 26 Kilo schwer. Durch die Haut am Rücken drückt sich die Wirbelsäule. Es schreit. Es schimpft. Es sagt: "Du bist eine Assi-Mutter". Und: "Du willst mich nur loswerden!" Marie schlägt und beißt. Anke Baumgart weint. Die Großeltern stehen im Türrahmen, sie warten auf Hilfe.

Wie die Magersucht in die Familie einzog

Maries Leid hatte vor Monaten begonnen und seitdem haben sie dagegen gekämpft, dass Marie jeden Tag etwas weniger Marie wurde. Sie hatten Maltodextrin in die Getränkeflaschen gefüllt und Sahne ins Kartoffelpüree gerührt. Sie hatten sie angefleht zu essen, sie hatten es ihr befohlen. Es hatte nichts genützt.

Wenn Anke Baumgart davon erzählt, wie Maries Magersucht in die Familie kam, presst sie die Hände zwischen ihre Beine. Sie sitzt an demselben Tisch, an dem sie Maries Brief las. Sie sitzt in dem Raum, auf dessen Fensterbank ihr Kind kletterte. Manchmal wird ihre Stimme so leise, als würde sie flüstern. "Wir lieben die Marie doch so sehr", sagt sie.

Liegt es am Leistungsdruck in der Schule?

September 2011. Als Marie von der Grundschule aufs Gymnasium wechselt, wiegt sie 34 Kilo. Auf Fotos sieht man ein lachendes Mädchen mit Röckchen und großen Augen. "Marie ist eine ganz intelligente kleine Maus", sagt Oma Baumgart, die auch an dem Kaffeetisch sitzt und die Geschichte ihrer Enkelin erzählt.

Marie sei schon immer sensibel gewesen, ehrgeizig und perfektionistisch. Aber auch lebenslustig und beliebt. Mit dem Wechsel von der Grundschule auf das Gymnasium ändert sich etwas. Marie geht es schlecht, sie bekommt Panik. Zu ihrer Mutter sagte sie: "Ich bekomme in dem Klassenraum keine Luft!" Ob es das ungewohnte Umfeld ist? Der Leistungsdruck? "Wir wissen es nicht", sagt Anke Baumgart.

Ihre Tochter lässt sich morgens von ihren Großeltern aus der Schule abholen. Mal hat sie Kopfschmerzen, mal ist ihr schwindelig. Sie verspricht ihrer Mutter, dass sie am nächsten Tag wieder hingehen wird.

"Damit begann der Kampf", sagt Anke Baumgart. Jeden Morgen ringt sie mit Marie. Mal kommen sie bis zur Kreuzung, dann bis zur Treppe. In den Klassenraum kommen sie nie mehr. Anke Baumgart schaltet die Schulpsychologin ein. Die hält ihre Tochter für bockig.

"Pizza macht fett!"

Baumgart sucht Hilfe bei einer Beratungsstelle, sie spricht mit der Lehrerin, aber niemand weiß weiter. "Wir waren irgendwann so verzweifelt, ich bin mit Marie sogar zur Engeltherapie gegangen", sagt Baumgart. Die Therapeutin erklärt Marie, dass die Engel ihr helfen werden, in den Klassenraum zu gehen. Aber die Engel kommen nicht.

Oktober 2011. Während Anke Baumgart vormittags arbeitet, sitzt ihre Tochter bei der Oma. Sie spielt mit Puppen oder surft im Internet. Was sie dort googelt, versteht ihre Oma zu spät. "Ich wunderte mich, dass sie nicht mehr die Süßigkeiten aß, die ich ihr ins Zimmer stellte", sagt die Oma. Sie wundert sich auch, dass sie zum Mittag immer Reis will oder Suppe. Marie isst keine Pizza mehr. Sie sagt: "Die macht fett!"

Marie googelt nach Kalorientabellen. Sie will wissen, welches Essen wie viel Energie hat. Wie sie auf die Idee kam, das weiß bis heute niemand. Wenn Marie, die jetzt gar nicht mehr zur Schule geht, abends zu ihrer Mutter nach Hause kommt, isst sie nur winzige Happen. Wenn Anke Baumgart sagt: "Iss doch, Marie!", sagt die Zehnjährige: "Ihr wollt mich mästen."

Mutter mischt heimlich Maltrodextrin ins Essen

Eines Tages erwischt die Oma Marie dabei, wie sie auf die Waage steigt, die unter der Kommode im Flur steht, um Koffer vor großen Reisen zu wiegen. "Das tat mir so weh, wie die Lütte da stand", sagt die Oma. Sie schmeißt die Waage weg. Anke Baumgart ist Kinderkrankenschwester. Als Marie das Essen einstellt, steuert sie mit den Mitteln dagegen, die sie von ihrer Arbeit kennt. Sie mischt Maltrodextrin in Maries Essen. Auch der Oma gibt sie Kohlehydrate mit. Baumgart geht mit Marie zum Kinderarzt. Der sagt, man könne erst etwas machen, wenn Marie auf 28 Kilo abmagert.

Marie dokumentiert jede Kalorie in einem Notizbuch

Es gibt ein Notizbuch von Marie, das ihr Leiden dokumentiert. Auf der Vorderseite des Buches ist ein Reh abgebildet. Jeden Tag zählt Marie in der Kladde Kalorien. Sie bestraft sich mit Verzicht. Je weniger sie isst, desto mehr, so scheint es ihr, ist sie wert.

Dezember 2011. Marie isst morgens nur noch eine Laugenstange und zerrupft sie in winzige Stücke. Nahrungsaufnahme in Zeitlupe. "Wie ein Vogel hat sie gegessen", sagt Anke Baumgart. Selbst die Krumen machen Anke Baumgart glücklich.

Marie wird aggressiv. Oft bittet sie die Mutter, mit ihr Radtouren zu machen, um mehr Kalorien zu verbrennen. Anke Baumgart macht keine Radtouren mehr mit Marie. Sie verbietet ihr auch das Internet. Abends liest Anke Baumgart Bücher über Essstörungen. Der Vater von Marie ist mit dem Wesenswandel seiner Tochter überfordert. Längst hat die Familie das Jugendamt eingeschaltet.

Den Hunger wegschlafen

Mutter und Tochter schlafen jetzt jede Nacht zusammen im Bett. Einmal sagt Marie: "Mami, können wir jetzt schon ins Bett? Ich halte es sonst bis morgen früh nicht aus ohne Essen." Dann iss doch Kind, sagt die Mutter, aber das Kind schüttelt den Kopf.

Marie weint oft und friert. Sie sitzt stundenlang apathisch im Kinderzimmer.

Marie: "Mama, ich möchte wieder in die Schule, aber ich kann nicht."

Anke Baumgart: "Marie, es wird alles gut, du bist krank, aber du wirst wieder gesund."

Marie: "Ich bin nicht krank Mama, ich bin nur zu dick."

6. Januar 2012. Marie isst morgens einen Toast und abends einen Toast.

7. Januar 2012. Marie isst gar nichts mehr.

Marie droht, sich umzubringen

8. Januar 2012. Marie rastet aus. Sie will aus dem Fenster springen und gibt ihrer Mutter den Brief, in dem sie ihren Freitod ankündigt. Sie sucht nach Scheren und Messer in der Wohnung. "Du bist eine Assi-Mutter", sagt Marie. Anke Baumgart weint. Sie ruft einen Krankenwagen und ihre Eltern an. Weil Marie sich weigert mit den Rettungskräften ins Krankenhaus zu fahren, wird die Polizei gerufen. Marie wird zwangseingewiesen. Anke Baumgart denkt: "Das ist nicht unsere Marie, das ist diese Krankheit."

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9. Januar 2012. Marie liegt im Krankenhaus auf der Beobachtungsstation. Ihr Herz schlägt zu langsam. Sie wiegt 26 Kilogramm bei einer Größe von 1,47. Ihre Familie betet am Krankenbett.

Diagnose Magersucht - Marie versteht: "Ich bin krank"

23. Januar 2012. Marie kommt von der Beobachtungsstation auf die Kinderpsychiatrie. In die Abteilung der Essgestörten will ihre Mutter sie nicht lassen, weil dort alle Kinder älter sind als sie. Die Ärzte diagnostizieren bei Marie "Anorexie", Magersucht. Es gibt jetzt eine medizinische Erklärung für ihr Leid. Wie viele Kinder wie Marie an Magersucht in Deutschland leiden, dazu gibt es kaum Daten. Die Forschungen über Essstörungen im Kinder- und Jugendalter sind jung. Nach den Ergebnissen einer ersten großen Studie von 2007 weisen mehr als 20 Prozent der Kinder- und Jugendlichen im Alter zwischen elf und 17 Jahren Symptome einer Essstörung auf. Mädchen erkranken fast doppelt so häufig wie Jungen.

Marie muss zur Kunsttherapie, Motopädie, Einzeltherapie. "Die Diagnose war eine Befreiung", sagt Anke Baumgart. Auch für Marie. Sie chattet mit ihren alten Klassenkameraden. Das erste Mal seit Wochen. Sie schreibt: "Ich bin krank."

Lichtblicke in der Kinderpsychatrie

2. Februar 2012. Marie ist seit einigen Wochen in der "Klapse", wie sie sagt. Aber sie isst wieder. Sie nimmt langsam zu und geht in die Klinikschule. Sie erzählt ihrer Familie, dass sie die anderen Kinder mag. Jeder hat hier ein Problem. Mit den Mädchen malt sie sich die Fingernägel bunt. Manchmal lacht sie laut. Für ihre Familie klingt ihr Lachen nach Hoffnung.

Die Ärztin hat gesagt, dass Marie gute Chancen hat, ohne Folgeschäden aus der Klinik zu kommen. Wenn ihre Oma Marie besucht und ihr Illustrierte mitbringt, blättert sie vorher alles durch. "Dass bloß nie was von Abnehmen drinsteht."

Quälende Frage "was habe ich falsch gemacht?"

März 2012. Maries Kinderzimmer in der Wohnung im Osten Hamburgs bleibt leer. Am Kaffeetisch fehlt ein Kind, das kleinste. Den Abschiedsbrief von Marie hat ihr Vater. Er muss ihn immer wieder lesen. Er will verstehen.

Anke Baumgart besucht eine Selbsthilfegruppe für Eltern essgestörter Kinder. Sie quält die Frage: "Was habe ich falsch gemacht?" Es gibt eine Mutter in der Gruppe, deren Tochter war schon drei Mal in Therapie. Wenn alles gut geht, wird Marie im Frühling heimkehren.

*Alle Namen von der Redaktion geändert.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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