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Dystonie: Tim leidet an der seltenen Bewegungsstörung


Selten und sehr schmerzhaft
Tim leidet an Dystonie

t-online, Anja Speitel

Aktualisiert am 15.02.2016Lesedauer: 5 Min.
Trotz seiner Krankheit genießt Tim das Leben.Vergrößern des BildesTrotz seiner Krankheit genießt Tim das Leben. (Quelle: privat)
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Seit dem Kindergarten ist Tim (12) an den Rollstuhl gefesselt. Lange wussten seine Eltern nicht, was ihrem Sohn fehlt.

Dystonien sind neurologische Bewegungsstörungen, die schlimmstenfalls den gesamten Körper betreffen können. Diese schwerste Form - generalisierte Dystonie genannt - beginnt im Kindesalter und wird aufgrund ihrer Seltenheit meist erst spät diagnostiziert. In Deutschland gibt es insgesamt rund 160.000 Menschen, die unter verschiedensten Ausprägungen der Dystonie leiden.

Bis zur Diagnose dauerte es Jahre

Siebeneinhalb Jahre lang wussten Janina und Thomas nicht, was genau ihrem Sohn fehlt: "Mit zweieinhalb Jahren zeigte Tim Gangauffälligkeiten. Erst lief er auf Zehenspitzen, dann wurde sein Gang immer unsicherer und er fiel oft hin. Mit knapp sechs Jahren brauchte er seinen ersten Rollstuhl", erzählen die Eltern.

Kurz darauf konnte Tim auch nichts mehr mit den Händen greifen, fast zeitgleich nahm ihm seine seltene Erkrankung zudem die Stimme. Denn Tim leidet unter einer generalisierten Dystonie. Die Liste der möglichen Ursachen dieser Bewegungsstörungen ist lang. Bei Tim beruhen sie auf einer Eisenspeicher-Erkrankung, für die wiederum eine extrem seltene Genmutation verantwortlich ist. Erst 2013, als Tim bereits zehn Jahre alt war, fanden Spezialisten dies heraus.

Eine Dystonie ist schwer zu erkennen

Die generalisierte Dystonie beginnt meist im Kindesalter, örtlich begrenzt an einem Fuß oder - deutlich seltener - an der Hand. "Es zeigen sich zuerst unspezifische Symptome: Eine Mischung aus Schmerz, Verspannung und einem Ziehen, was bei Kindern ja schnell durch Spiel, Sport oder selbst nach einem langen Spaziergang auftreten kann", sagt der Neurologe und Neuropädiater Florian Heinen.

Eine Dystonie erkenne man durch ihren Verlauf. "Wenn die Schmerzen über mehrere Wochen zunehmen, der Fuß nicht mehr in die normale Position gebracht werden kann und das Kind dadurch etwa nur noch humpelt, sollte man dies immer genauer unter die Lupe nehmen", rät der Leiter der Pädiatrischen Neurologie im Dr. von Haunerschen Kinderspital in München.

"Viele Ärzte haben das Krankheitsbild noch nie gesehen"

Doch selbst wenn Kinderärzte Kollegen hinzuziehen, vergehen meist Jahre, bis eine Dystonie als Ursache der Bewegungsstörungen erkannt wird: Die generalisierte Dystonie sei mit circa. 3,5 bis zehn Betroffenen auf 100.000 Menschen so selten, dass viele Ärzte dieses Krankheitsbild noch nie an einem ihrer Patienten gesehen haben, sagt Heinen. "Also wird erstmal ein orthopädisches Problem vermutet oder die Bewegungsanomalie als psychische Störung fehldiagnostiziert."

Bizarre Fehlhaltungen sind die Folgen

Die Folgen einer Dystonie sind Fehlhaltungen und Fehlbewegungen, die bizarr aussehen und sehr schmerzhaft sein können: Muskeln verkrampfen sich, Gliedmaßen bewegen sich unwillkürlich, das Gesicht verzieht sich zu Grimassen, den Kopf oder Hals zieht es zur Seite, die Stimme versagt oder Patienten können nicht mehr schlucken. Teilweise treten diese Beschwerden nur einzeln auf, bei Patienten wie Tim fast alle zusammen.

Eine Dystonie beruht auf verschiedensten Ursachen

So unterschiedlich eine Dystonie in ihrer Ausprägung sein kann, so verschieden sind auch die Gründe, weshalb es zu der Funktionsstörung im Gehirn kommen kann: Rund 45 Prozent der Dystonie-Fälle entwickeln sich auf Basis einer bestimmten Grunderkrankung ("sekundäre" Dystonie) - so wie bei Tim mit seiner genetisch bedingten Eisenspeicher-Erkrankung.

Die weiteren 55 Prozent der Fälle werden als "primäre" beziehungsweise "idiopathische" Formen der generalisierten Dystonie bezeichnet. Weltweit wird daran geforscht, dystone Bewegungsstörungen besser zu verstehen. Bislang ist die Dystonie nicht heilbar, man kann nur die Symptome lindern.

Verschiedene Therapien sind möglich

Je nach Ursache kommen verschiedene Medikamente und Verfahren zum Einsatz. Das reicht von der Substitution fehlender Stoffe im Stoffwechsel des Gehirns (wie L-Dopa), über alltagsunterstützende Physio- oder Ergotherapie, Orthesen und Haltungskontrollen bis zu Botulinumtoxin, Medikamentenpumpen und der Tiefen Hirnstimulation in spezialisierten neurochirurgischen Zentren.

Therapien erleichtern das Leben mit Dystonie

Als durch eine Expertenrunde und aufwändige Gentests klar wurde, woher Tims ausgeprägte Spastiken und Lähmungen kommen, wurde seine Therapie so angepasst, dass der Junge leichter mit seiner Erkrankung leben kann.

"Tim bekam eine Medikamenten-Pumpe unter die Bauchdecke implantiert, die rund um die Uhr das Medikament Baclofen direkt in sein Nervenwasser abgibt. Das hilft sehr gut gegen die schlimmen Spastiken seiner Beine", berichtet seine Mutter Janina. Zuvor hatte Tim lokale Injektionen von Botulinumtoxin in die Beinmuskeln erhalten. "Deren Wirkung war anfangs zwar auch gut, nahm aber im Laufe der Zeit ab und brachte schließlich leider gar nichts mehr gegen die Spastiken."

Tim ist zart, aber stark

Seit November 2013 hat Tim auch eine Magensonde: "Durch seine Schluckbeschwerden hat jede Mahlzeit rund eineinhalb Stunden gedauert und war mit viel Stress verbunden. Die Magensonde entlastet uns und sorgt dafür, dass Tim genug Nahrung aufnimmt", so die Mutter. Denn der Junge aus der Nähe von Göttingen feiert bald seinen 13. Geburtstag, wiegt jedoch gerade mal 28 Kilogramm bei einer Größe von 1,40 Metern.

So zart seine Person anmutet, so stark ist Tim charakterlich: "Alleine kann Tim so gut wie nichts mehr", sagt Janina. "Er kann gerade noch seinen Kopf kontrollieren und die Arme nach vorne bringen. In seinem Rollstuhl ist Tim mit einem Gurt angeschnallt, sonst würde er herausfallen. Tim trägt all dies mit Fassung", sagt die Mutter stolz. "Er ist im Kopf ja völlig fit, kann sich aber weder bewegen noch sprechen. Trotzdem jammert er nie, sondern lacht viel und genießt, was er noch kann."

"Man darf nicht denken, dass Dystonie-Betroffene nichts können"

Wegen ihrer Bewegungsstörungen werden Dystonie-Erkrankten oft auch geistige Einschränkungen unterstellt. "Man darf nicht denken, dass Betroffene nichts können, nur weil sie sich anders bewegen oder verbal schwer bis gar nicht zu verstehen sind", appelliert Heinen. "In der Regel sind sie geistig ausgesprochen fit, und wenn man sich die Zeit nimmt, wirklich Kontakt zu Betroffenen herzustellen, wird man wunderbare Menschen kennenlernen."

Das Leben genießen, so gut es geht

Tim ist besonders gerne unter Menschen: In seiner Körperbehinderten-Schule hat er viele Freunde. Wenn er um 16 Uhr nach Hause kommt, lässt er sich von Mama oder Papa am liebsten noch durch die Stadt, den Bau- oder Technikmarkt schieben oder sie machen eine kleine Radtour mit dem Spezialfahrrad, wo Tim wie in einem Rollstuhl vorn sitzt. Ist das Wetter dafür zu schlecht, heißt es vor allem kuscheln: "Tim braucht viel Körperkontakt", sagt Janina. "Er möchte immer Hand halten oder auf dem Sofa von hinten umarmt werden. Dann schauen wir so fern, hören Musik, lesen etwas oder kuscheln einfach nur."

Obwohl Tims Krankheit und seine Therapien viel Zeit in Anspruch nehmen und Tims Lebenserwartung durch die schweren körperlichen Behinderungen stark eingeschränkt ist, versucht die Familie, ein möglichst normales Leben zu führen. "Wir achten darauf, positiv zu bleiben", sagen die Eltern. "Deshalb halten wir an unseren Hobbys fest und gehen hin und wieder als Paar essen, ins Kino oder zu einem Konzert. Dann betreut ein Babysitter oder die Oma Tim."

Tim liebt den Strand

Außerdem hat sich die Familie einen Kraftort geschaffen: Ihr Wohnwagen mit spezieller Ausstattung für Tims Bedürfnisse steht auf einem behindertengerechten Campingplatz kurz vor Fehmarn. "Tim liebt es dort", sagt Thomas. "Er sitzt so gerne am Strand und beobachtet, was die Menschen alles so treiben." So ist Tim mittendrin im Leben.

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Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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