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Rentenreform? Wirtschaftsweise fordert: "Rente mit 63 muss abgeschafft werden"


Wirtschaftsweiser Werding
"Die Rente mit 63 muss abgeschafft werden"


Aktualisiert am 29.06.2023Lesedauer: 8 Min.
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Martin Werding (Archiv): "Bis dahin wird es um reine Krisenbewältigung gehen", sagt der Ökonom t-online. (Quelle: IMAGO/Stefan Boness/Ipon)

Deutschlands Rentner bekommen ab Juli mehr Geld. Zugleich steht die gesetzliche Rente vor dem Zusammenbruch. Der Wirtschaftsweise Martin Werding erklärt, was sich ändern muss.

Für die rund 17 Millionen Rentner in Deutschland ist es eine gute Nachricht. Ab Juli gibt es für sie deutlich mehr Geld, die Rentenbezüge steigen.

Für das Rentensystem insgesamt jedoch heißt das: Die Finanzierung der gesetzlichen Rente wird absehbar noch schwieriger, der Kollaps des Umlagesystems rückt näher. Die Ampelregierung will mit einem umfassenden Rentenpaket gegensteuern, das bislang aber noch auf sich warten lässt.

Doch was genau müsste eigentlich passieren, um die Rente zu retten? Der Wirtschaftsweise und Rentenexperte Martin Werding fordert im Interview mit t-online einschneidende Reformen.

t-online: Herr Werding, die Ampel will die Rente anpacken, und an Pathos mangelt es nicht: FDP-Finanzminister Christian Lindner spricht von "der größten Rentenreform seit Bismarck". Hat er damit recht?

Martin Werding: Mit dieser Aussage übertreibt er. Reichskanzler Otto von Bismarck erfand 1889 die deutsche Rentenversicherung, 1957 wurde diese dann mit der Einführung des Umlageverfahrens auf eine neue Schiene gesetzt. An solch grundsätzliche Neuausrichtungen können die jetzigen Pläne nicht anknüpfen.

Aber es soll doch tatsächlich etwas ganz Neues kommen: Erträge von Geldanlagen am Finanzmarkt sollen die Rentenkasse auffüllen.

Das stimmt – und das ist spannend.

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Martin Werding (Quelle: IMAGO/Stefan Boness/Ipon)

Martin Werding ist seit September 2022 einer der fünf Wirtschaftsweisen. Der Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr-Universität Bochum studierte Philosophie und Volkswirtschaftslehre. Vor seiner Berufung auf den Lehrstuhl im Jahr 2008 war er unter anderem am Münchner ifo Institut tätig. Er forscht seit Jahren zum deutschen Sozialsystem und zu den Auswirkungen des demografischen Wandels.

Aber?

Die genauen Pläne, die Herr Lindner dazu vorlegt, gehen nicht weit genug und können unsere Probleme nicht lösen. In diesem Jahr sollen 10 Milliarden in einen Fonds fließen. Das ist eine mickrige Summe.

Klingt aber doch erst mal nach viel Geld.

Es klingt so, doch das ist es nicht. Selbst wenn wie geplant 15 Jahre lang pro Jahr 10 Milliarden hinzukommen, wird die Rendite, die davon realistischerweise abfällt, im unteren zweistelligen Milliardenbereich liegen. Das reicht nicht, um dafür zu sorgen, dass wir ohne zusätzliche Anhebung der Beitragssätze das aktuelle Rentenniveau konstant halten können – was ja ein erklärtes Ziel dieser Koalition ist. Dafür bräuchte es eher rund 40 Milliarden Euro Einzahlung pro Jahr, über 15 Jahre also 600 Milliarden.

Die Reform ist also nicht der große Wurf.

Nein, aber gleichzeitig ist klar: Die demografischen Probleme sind massiv. Mit einem einzelnen Reformschritt bekommen wir sie sowieso nicht in den Griff. Wir müssen an allen Stellschrauben des Rentensystems drehen – nur dann gibt es noch einen Ausweg.

Gehen wir die Stellschrauben einmal durch. Was das Renteneintrittsalter angeht, hat sich die Regierung bereits festgelegt und eine weitere Erhöhung ausgeschlossen. Lässt sich dieses Versprechen halten?

Nein. Wenn die Lebenserwartung weiter steigt – und das wird sie voraussichtlich –, muss auch das Renteneintrittsalter weiter angehoben werden.

Sobald jemand mit dieser Forderung vorprescht, gibt es, eigentlich automatisch, einen Aufschrei.

Es geht hier nicht um ein "sofort". Es geht darum, nach 2031, wenn die längst beschlossene Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre voll in Kraft ist, weiterzumachen. Meinetwegen auch langsam.

Wir müssen das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung koppeln. Ansonsten gerät unser Umlagesystem unter zu großen Druck. Das gilt übrigens in beide Richtungen: Sollte die Lebenserwartung wider Erwarten nicht steigen, braucht auch die Altersgrenze nicht erhöht zu werden. Die Rentnerinnen und Rentner dürfen nicht über den Tisch gezogen werden.

Um wie viele Jahre wird das Renteneintrittsalter angehoben werden müssen?

Das hängt davon ab, wie alt wir alle werden. Dafür gibt es verschiedene Szenarien. In den realistischsten brauchen wir eine Anhebung der Altersgrenze um ungefähr einen Monat pro Jahr.

Damit könnten Menschen Mitte der 2050er-Jahre erst mit 69 Jahren aufhören zu arbeiten.

Genau. Das betrifft dann die Menschen, die um 1990 herum geboren wurden.

Sozialverbände und Parteivertreter aus dem linken Spektrum warnen: Eine solche Anhebung bedeute eine versteckte Rentenkürzung für viele. Die Menschen, die hart körperlich arbeiten, könnten gar nicht so lange durchhalten und müssten damit Abschläge in Kauf nehmen.

Wir sollten die allgemeinen Regeln nicht an den Härtefällen ausrichten. Ich bin nicht dagegen, für solche Personen Sonderregelungen zu finden. Wir könnten beispielsweise für sie die Abschläge senken, wenn sie früher in Rente gehen wollen.

Doch wie realistisch ist es in der Praxis, diese Menschen zu identifizieren?

Wir haben unterschiedliche Indikatoren – die Länge der Beitragszeit, wer Niedrigverdiener ist und so weiter. Aber ich gebe zu: Die sind alle nicht perfekt. Darüber muss die Politik jetzt nachdenken.


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Die 'Rente mit 63' war ein Fehler und muss abgeschafft werden


Martin Werding


Bereits jetzt hält der Trend zur Frührente an. Was bringt es, das Eintrittsalter auf dem Papier zu erhöhen, wenn dann trotzdem viele früher aufhören?

Unser Rentenrecht ist bewusst flexibel und lässt Menschen die Wahl, früher in Rente zu gehen – mit Abschlägen. Doch die Abschläge für Frührentner sind zu niedrig. Wir sollten sie also erhöhen, um Anreize fürs längere Arbeiten zu setzen. In Deutschland liegen die Abschläge bei 3,6 Prozent je Jahr eines früheren Renteneintritts. In Ländern, die genauer rechnen, betragen sie eher fünf oder sechs Prozent. Daran sollten wir uns orientieren.

Nein, wir können uns diese Regelung nicht mehr leisten. Die Begünstigten sind auch keine Härtefälle. Die "Rente mit 63" war ein Fehler und muss abgeschafft werden. Nicht sofort, aber innerhalb eines bestimmten Zeitraums darf es diese Möglichkeit nicht mehr geben.

Warum?

Weil sie die Rentenkasse zu stark belastet. Die abschlagsfreie "Rente mit 63" läuft dem Trend einer längeren Arbeitszeit zuwider. Natürlich sollte niemand, der jetzt schon mit 63 Jahren in Rente gegangen ist, wieder arbeiten müssen. Aber die Neuzutritte über diese Regel sollten wir unterbinden.

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Kommen wir zur zweiten Stellschraube: der Höhe der Renten. Ihre Kollegin, die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer, hat kürzlich in einem Interview unter anderem gefordert, hohe Renten perspektivisch abzuschmelzen. Würde das helfen?

Es ist eine von mehreren Möglichkeiten, über die wir ernsthaft nachdenken müssen. In den kommenden 20 Jahren wird es tatsächlich eng, was bedeutet, dass die Rentenausgaben etwas eingedampft werden müssen. Wollen wir dann sicherstellen, dass es nicht diejenigen trifft, die ohnehin schon wenig Geld haben, könnten wir höhere Renten etwas abschmelzen, ohne die niedrigeren anzutasten. Das ist aber nur eine Möglichkeit von vielen.

Ab welcher Höhe müsste das dann gelten?

Das ist schwierig zu sagen, das habe ich noch nicht durchgerechnet. Wichtig ist aber: Wenn das Niveau der gesetzlichen Rente sinkt, entweder für alle oder für manche Personengruppen, müssen wir parallel etwas aufbauen, was diese Kürzungen wieder ausgleichen kann.

Das sollte die 2002 eingeführte Riester-Rente eigentlich leisten. Nur war die ein Flop.

Die Reform ist leider nicht richtig zum Fliegen gekommen. Das muss jetzt besser gemacht werden.

Heißt?

Wir müssen unter anderem darauf achten, dass die jüngeren Leute, die jetzt ergänzend vorsorgen sollen, überhaupt die Mittel haben, etwas zusätzlich zur Seite zu legen.

Das dürfte nicht so einfach sein.

Stimmt, denn: Je länger wir nichts am momentanen Rentensystem ändern, desto höher müssen die Beitragssätze steigen. Damit hätten die jungen Leute automatisch weniger Möglichkeiten, ergänzend vorzusorgen – weil das Geld in die höheren Beiträge fließt. Das ist eine gefährliche Einbahnstraße und einer der Gründe, warum es dringend Reformen braucht.

Wir sprechen über hohe Renten. Aber was ist mit den – im Vergleich eher hohen – Pensionen der Beamten?

Hier muss die Politik ebenfalls ansetzen: Das aktuelle Pensionssystem ist langfristig nicht tragfähig. Auch die Beamtinnen und Beamten werden immer älter. Die Kosten dafür müssen vor allem die Länder stemmen, und die sind darauf nicht ausreichend vorbereitet.

Heißt, wir brauchen eigentlich nicht nur eine Renten-, sondern auch eine Pensionsdebatte.

Ja. Gleichzeitig gilt: Wir dürfen Beamtenpensionen und Renten nicht eins zu eins vergleichen. Rentnerinnen und Rentner bekommen zusätzlich zur gesetzlichen Versicherung oft auch noch eine Betriebsrente. Die steckt in den Beamtenpensionen mit drin.


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Nur wenn wir durch diese harte Phase gehen, kann es hinterher wieder besser werden.


Martin Werding


Kommen wir zur dritten und letzten Stellschraube, die Sie bereits erwähnten: Warum erhöhen wir nicht einfach den Rentenbeitrag?

Das wäre immerhin ehrlicher als das, was die Politik im Moment überlegt: nämlich Rentenbeiträge einzufrieren und stattdessen Steuermittel zuzuschießen.

Und das schon jetzt in großem Umfang: Bereits ein Viertel des Bundeshaushalts fließt in die Rentenkassen. Ist ein höherer Steuerzuschuss Teil der Lösung?

Das wäre Augenwischerei. Ein höherer Steuerzuschuss verlagert das Problem nur, weil höhere Steuern ebenfalls die Generation stark belasten, die arbeitet. Gleichzeitig ist es auch keine Lösung, die Beiträge ins Unermessliche steigen zu lassen. Deshalb brauchen wir grundlegende Reformen.

Und bis dahin?

… wird der Beitragssatz, der momentan bei 18,6 Prozent liegt, ansteigen müssen. Daran führt kein Weg vorbei. Bereits 2025 wird dieser wohl 20 Prozent erreichen. Es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis er bei 23 Prozent liegen wird.

Das ist den meisten Bürgerinnen und Bürgern wohl nicht bewusst. Macht die Politik uns was vor?

In gewisser Weise. Es lohnt sich für Politikerinnen und Politiker mehr zu suggerieren: Wir haben alles im Griff – und so die nächste Wahl zu gewinnen. Deshalb werden die langfristigen Probleme nicht angegangen. Dass der demografische Wandel zum Problem für unser System wird, wissen wir ja eigentlich schon lange.

Trotzdem tut sich so wenig. Wie sehr frustriert Sie das?

Ich weiß einfach, dass meine Kolleginnen und ich das Spiel fortsetzen müssen.

Das Spiel?

Wir müssen immer wieder darauf hinweisen, was sich ändern müsste – auch wenn das von der Politik erst mal abgebügelt wird. Die Politik ist immer zu langsam und zu wenig einschneidend in dem, was sie durchsetzt. Das führt zu der Situation, in der wir jetzt sind.

Und das heißt konkret?

Wir haben nicht rechtzeitig für einen Renten-Mix gesorgt, also das Umlageverfahren um genügend kapitalgedeckte Vorsorge ergänzt.

Das erinnert an die Klimapolitik. Auch da werden wichtige Maßnahmen auf die lange Bank geschoben.

Ja. Die Renten- und die Klimapolitik haben große Ähnlichkeiten. Mit einem Unterschied: Was den Klimawandel angeht, sind viele junge Leute engagiert. Sie haben aber noch nicht begriffen, dass ihnen hier an ganz anderer Stelle etwas Ähnliches angetan wird.

Sie meinen eine Politik, die die Interessen der jungen Menschen nicht einbezieht?

Ja. Junge Menschen müssen die Rente als Thema für sich entdecken. Und wir müssen jetzt dringend in eine kapitalgedeckte Vorsorge einsteigen.

Und bis dahin? In den nächsten 15 Jahren drängen die vielen Babyboomer in die Rente. Da hilft die Kapitaldeckung nichts, weil die schließlich erst angespart werden muss.

Das stimmt. Bis dahin wird es um reine Krisenbewältigung gehen – heißt: die Beitragssätze werden in der Zeit weiter hoch, die Renten weiter runter müssen. Nur wenn wir durch diese harte Phase gehen, kann es hinterher wieder besser werden.

Herr Werding, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview hat t-online bereits im Januar geführt und erstmals veröffentlicht. Anlässlich der Rentenerhöhung zum 1. Juli hat unsere Redaktion es inhaltlich geprüft und aktualisiert.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch per Videokonferenz am 16.1.2023
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