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Ex-Verfassungsrichter Kirchhof: "Strafzinsen enteignen die deutschen Sparer"


Ex-Verfassungsrichter Kirchhof
"Strafzinsen enteignen die deutschen Sparer"


Aktualisiert am 06.07.2021Lesedauer: 4 Min.
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Das Euro-Symbol vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt: Die EZB verlangt von den Geschäftsbanken Strafzinsen.Vergrößern des Bildes
Das Euro-Symbol vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt: Die EZB verlangt von den Geschäftsbanken Strafzinsen. (Quelle: imago-images-bilder)

Postbank, ING, Commerzbank: Immer mehr Banken reichen die negativen Zinsen der Europäischen Zentralbank an ihre Kunden weiter. Der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof hält das für unvereinbar mit dem Grundgesetz.

Es sind Worte, die Gewicht haben. Der frühere Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof hält die Strafzinsen für verfassungswidrig, die die Banken von der Europäischen Zentralbank (EZB) immer öfter an ihre Kunden weitergeben.

Der Grund: Millionen Sparer in Deutschland würden durch diese Gebühren enteignet. "Ein klarer Rechtsbruch", sagt Kirchhof. Denn: "Die EZB hat dafür gar kein Mandat, sie handelt ohne Auftrag und ohne demokratische Kontrolle."

Seine Gedanken hat der Staatsrechtler, der von 1987 bis 1999 Richter in Karlsruhe war, jetzt in einem neuen Buch zusammengetragen, das er am Montag gemeinsam mit Ex-Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) vorgestellte. Der Titel: "Geld im Sog der Negativzinsen". Nachdem zuletzt große Banken wie die Postbank oder die Direktbank ING sogenannte "Verwahrentgelte" für Sparer mit hohen Summen auf dem Konto eingeführt hatten, erfährt die Debatte um die Legitimität solcher Strafzahlungen neuen Aufwind.

"Das Vermögen der Sparer schrumpft zusammen"

"Strafzinsen enteignen die deutschen Sparer", sagt Kirchhof. "Sie schränken die individuelle Freiheit ein, mit meinem Geld zu machen, was ich will." Was er damit meint: Durch den negativen Einlagenzins sorgt die EZB dafür, dass die Geschäftsbanken dafür zahlen müssen, wenn sie Geld bei der EZB parken. Mehr dazu lesen Sie hier. Diese Ausgaben holen sich die Banken inzwischen immer öfter bei den Sparern zurück.

Kirchhof: "Indirekt beraubt die EZB die Sparer damit der Möglichkeit, ihr Geld einfach auf einem Sparkonto zu belassen, denn dort schrumpft das Vermögen zusammen." Wo genau dabei der Rechtsbruch beginnt, den der Staatsrechtler sieht, ist schnell erklärt:

Normalerweise obliegt es einzig dem Staat, in Deutschland also der Bundesregierung und dem Bundestag, in die Vermögensverhältnisse seiner Bürger einzugreifen; etwa über Steuern, die den Reichtum umverteilen. "Die EZB wiederum darf das nicht", so der Staatsrechtler. "Ihre Aufgabe ist es allein, für Geldwertstabilität zu sorgen, also dafür, dass die Inflation nicht außer Kontrolle gerät."

Die EZB senkt Zinsen und druckt Geld

Tatsächlich rechtfertigen zahlreiche Experten und Ökonomen die negativen Zinsen der EZB genau mit diesem Argument. Die Corona-Krise und ihre jüngsten Folgen ausgenommen, lag die Inflation in den vergangenen zehn Jahren weit unter dem von der Notenbank avisierten Wert in Höhe von jährlich zwei Prozent. Um die Preise anzukurbeln, fährt die EZB deshalb seit Jahren eine ultralockere Geldpolitik, senkt also die Zinsen für Kredite und pumpt über den Ankauf von Staats- und Unternehmensanleihen frisches Geld in den Markt.

Kirchhof findet das nicht gut. "Damit verlässt die EZB den Rahmen der Geldpolitik", sagt er. "Sie betreibt Wirtschaftspolitik. Und das ohne jegliche demokratische Legitimierung, also ohne Zustimmung eines Parlaments."

Doch könnten die Sparer ihr Geld nicht einfach anders anlegen als auf dem Sparkonto, zum Beispiel in Aktien oder Fonds? Der Jurist lässt diesen Einwand nicht gelten:

Der Winzer, der Brauer werden soll

"Stellen Sie sich einen Winzer vor, der Wein anbaut. Wie viel Gewinn er macht, entscheiden seine Kunden, also der Markt." Nun aber komme die Zentralbank, beschneide seine Rebstöcke, sodass zunächst weniger, dann gar keine Trauben mehr wüchsen. "Das ist ein rechtswidriger Eingriff in seine Eigentümerfreiheit", sagt Kirchhof. "Und daran ändert sich auch nichts, wenn man dem Winzer sagt: 'Dann bau doch Hopfen an, werde Brauer und verkaufe Bier.'"

Ähnlich wie Kirchhof sieht das alles auch Peer Steinbrück. Der frühere Finanzminister unterstützt sein Anliegen und schließt sich den zentralen Thesen des Buches an:

  • Negative Zinsen seien ein "eigentumswidriger Eingriff" in das Geldvermögen der Bürger.
  • Die Leitzinspolitik der EZB befördere die weitere Verschuldung der EU-Mitgliedsstaaten.
  • Die Staaten würden durch das billige Geld der Notenbank zunehmend abhängig von der EZB.
  • Die EZB habe – von Ausnahmesituationen wie der Corona-Krise einmal abgesehen – nicht die Aufgabe, die Staaten zu finanzieren.
  • Europas Banken würden durch die Belastung negativer Zinsen im Vergleich zu den asiatischen und amerikanischen Banken weniger wettbewerbsfähig.
  • Die Strafzinsen sorgten dafür, dass Bürger mit Immobilien- oder Aktienkapital besser gestellt sind als jene, die ihr Geld lediglich auf dem Sparkonto halten.

"Das Buch von Professor Kirchhof hat rechtlich und politisch Wucht", sagt Steinbrück. "Wer auch immer nach der Wahl in der kommenden Bundesregierung vertreten ist, muss sich damit auseinandersetzen."

Konkret schwebt beiden vor, dass die kommende Bundesregierung sich für eine "Wende" bei den Zinsen starkmachen soll. Gemeinsam mit anderen Staaten, etwa der Gruppe der "sparsamen vier" EU-Länder Österreich, Dänemark, Niederlande und Schweden, könnte Deutschland über den EZB-Rat, in dem Vertreter der nationalen Notenbanken sitzen, Druck ausüben, sodass die Zentralbank nicht länger negative Zinsen erhebt.

Ob das klappt, ist jedoch fraglich. Schon jetzt äußert sich Bundesbank-Chef Jens Weidmann regelmäßig kritisch über die Geldpolitik von EZB-Präsidentin Christin Lagarde. Meist vergebens.

Letzter Ausweg Verfassungsbeschwerde?

Eine weitere Möglichkeit wäre entsprechend der juristischen Ableitung aus Kirchhofs Buch eine Verfassungsklage – zu deren Ausgang sich der 78-Jährige mit Verweis auf sein früheres Amt jedoch nicht äußern will. Auch Steinbrück ist zurückhaltend, er hält ein solches Verfahren für schwierig: "Das würde zu neuen Auseinandersetzungen zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof führen. Das wäre nicht hilfreich."

Womöglich aber braucht es die Unterstützung einer solchen Verfassungsbeschwerde durch die beiden auch gar nicht. Der Bundesverband der Verbraucherzentrale (Vzbv) prüft bereits Klagemöglichkeiten vor mehreren Gerichten gegen die jüngst verhängten Strafzinsen von Geschäftsbanken.

Heiko Dünkel, Leiter des Team Rechtsdurchsetzung beim Vzbv sagte t-online am Montag: "Der Vzbv hält Verwahrentgelte oder auch Negativzinsen auf Giro- und Tagesgeldkonten generell für unzulässig. Ob wir mit dieser Auffassung recht haben, wollen wir derzeit an fünf Gerichtsstandorten klären lassen." Dabei beschränke sich der Verband nicht allein auf Bestandsverträge.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräche mit Paul Kirchhof und Peer Steinbrück
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