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Übergewicht bei Kindern: Mirko muss abnehmen


Mirko (4) kämpft gegen Übergewicht
"Das darfst du nicht, sonst wirst du noch dicker"

t-online, Anja Speitel; Bettina Rackow-Freitag

29.01.2014Lesedauer: 6 Min.
Kinder mit Übergewicht leiden nicht nur unter ihrem Gewicht, sondern auch unter den Hänseleien.Vergrößern des Bildes"Na, Möppelchen!" Kinder mit Übergewicht leiden sehr unter Hänseleien. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)
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Rund jedes fünfte Kind in Deutschland hat Übergewicht. Der vierjährige Mirko ist einer von ihnen. Seine Mutter versucht alles, damit ihr Sohn abnimmt. Doch es ist ein mühsamer Weg. Spezielle Programme, Ernährungsberatung oder Selbsthilfegruppen können helfen.

Wenn es Eis für alle gibt, soll Mirko* zuschauen. Wenn bei einem Kindergeburtstag Torte und Schokoküsse auf den Tisch kommen, kriegt der Vierjährige nur ein kleines Stück ab. Und wenn seine Oma ihm ein Bonbon gibt, weiß sie, das er es eigentlich nicht haben darf. Sonst schafft es Mirko nicht, abzunehmen. Bei einer Körpergröße von 110 Zentimetern wiegt er bereits 35 Kilo. Zwischen 17 und 21 Kilo wiegen in der Regel seine Altersgenossen. Mirkos Body-Mass-Index liegt rein rechnerisch bei 28. Bei einem BMI von mehr als 30 spricht man bei Erwachsenen von Adipositas, also Fettleibigkeit. Doch der BMI eines Kindes lässt sich nicht so einfach errechnen, er muss mit der Wachstumskurve des Kindes verglichen werden, zudem spielen Alter und Geschlecht eine Rolle.

Hänseleien im Kindergarten

Mirko kämpft nicht nur mit seinen Pfunden, sondern auch mit seinem Umfeld. "Na, Möppelchen", begrüßt ihn der Hausmeister im Kindergarten. Wegen seines Körperumfangs erduldet er ständig Hänseleien. Gibt es mal Pommes, nehmen ihm die anderen Kinder die Mayonnaise weg: "Das darfst du nicht, sonst wirst du noch dicker." Auch wenn es nicht immer böse gemeint ist - Mirko trifft es hart.

Seine Mutter Renate* versucht, ihren Sohn aus der Übergewichtsspirale rauszuholen. Ihre beiden älteren Töchter sind ebenso schlank wie sie, nur der Kleinste in der Familie hat starkes Übergewicht. Der Junge hat ständig Appetit. Holt ihn seine Mutter vom Kindergarten ab, ist die erste Frage: "Was gibt es zu essen?" Daheim schaut er sofort in die Küche und wird ärgerlich, wenn noch nichts auf dem Tisch steht. Es wird rationiert, portioniert und diskutiert, was für die ganze Familie anstrengend ist. Und abends macht die Mutter öfters eine Bettkontrolle, um zu schauen, ob Mirko Essen unter dem Kopfkissen gebunkert hat.

Trotz Bewegung steigt das Gewicht

Renate kann es sich nicht erklären, warum ausgerechnet Mirko so dick geworden ist. "Lag es an der H-Milch, die wir ihm schon als Baby in die Flasche gegeben haben?" Ihre drei Kinder bekommen das gleiche Essen, Süßes gibt es nur in Maßen und die Bewegung kommt nicht zu kurz. Im Sommer sind die Kinder viel draußen unterwegs. Im Garten steht eine Schaukel, Inline-Skates und Fahrräder stehen in der Ecke. "Wir haben uns sogar einen Hund angeschafft", erzählt die Mutter.

Kampf mit Anträgen, Vorurteilen und Finanzen

Als die 30-jährige in ihrer Verzweiflung in eine Klinik geht, stellt der Kinderarzt bei Mirko Bluthochdruck fest. "Der Junge sitzt sicher den ganzen Tag mit Chips vor dem Fernseher", mutmaßt der Mediziner. Doch die Familie besitzt noch nicht mal einen Fernsehapparat und Chips gibt es sehr selten. Man schickt Renate mit Mirko zu einem Psychologen. Als die Altenpflegerin es aus zeitlichen Gründen nicht schafft, die Therapiestunden aufzusuchen, wird ein Antrag für eine Reha-Maßnahme für sie und ihren Sohn abgelehnt. "Mit meinem Beruf und drei Kindern sind wöchentliche lange Fahrten ohne Hilfe nicht zu bewältigen", klagt Renate. Die Familie wohnt in einem Vorort von Hamm auf dem Land. Andere Bemühungen, wie die Anmeldung in einem Sportverein scheiterten am Geld. "Die Krankenkasse wollte uns nur einen kleinen Zuschuss geben. Den Restbetrag konnten wir uns einfach nicht leisten."

Eine Selbsthilfegruppe hilft Mirko

Als die Ernährungsberaterin Stefanie Thouret eine Selbsthilfegruppe für übergewichtige Kinder in der Nähe von Hamm anbietet, meldet Renate sich und ihren Sohn sofort an. Mirko ist der Jüngste in der Gruppe, die älteste Teilnehmerin ist 17 Jahre alt.

Thouret erklärt den Eltern und Kindern die Ernährungspyramide. Süßes und Fettreiches steht ganz oben in der Pyramide, sie gehören nur in geringen Mengen zu einem ausgewogenen Speiseplan. Gemüse, Obst, Wasser und Tee bilden den breiten unteren Teil der Pyramide. Sie sollten den Großteil der täglichen Ernährung ausmachen. Jede Woche kocht Thouret mit den Kindern. Toben und Sport stehen ebenfalls auf dem Plan. In dieser Runde können die Kinder ohne Druck und Spott lernen, wie sie richtig mit Essen umgehen.

Eine Magenverkleinerung ist häufig der letzte Ausweg

Stefanie Thouret kennt das Problem ihrer Schützlinge aus eigener Erfahrung. Sie war selbst seit ihrer Kindheit adipös. Vor rund drei Jahren entschloss sie sich zu einem Magenbypass. Dabei wird ein großer Teil des Magens abgetrennt und der Dünndarm an den kleinen Restmagen angeschlossen. Der Patient kann danach nur noch geringe Mengen Nahrung pro Mahlzeit aufnehmen. Für die Fleischfachverkäuferin begann nach der leidvollen Zeit im Krankenhaus ein neues Leben: Erst nahm sie drastisch ab. Doch sie änderte nicht nur ihr Essverhalten, sondern auch ihren Beruf. 2013 schloss sie ein Studium als Ernährungsberaterin ab.

Jetzt schickt das Jugendamt sie zu Familien mit adipösen Kindern, um diese zu beraten. "Höchstens bei drei Prozent der Kinder liegt eine hormonelle oder gesundheitliche Störung zugrunde. Meist ist falsches Essverhalten der Grund, anerzogen durch die Eltern", stellt sie immer wieder fest. Dazu gehört eine zu kalorienreiche Babykost. "Viele Eltern drücken ihren kleinen Kindern ständig Brezeln oder Kekse in die Hand. Oft gibt es keine festen Essenszeiten und Erfolge werden mit Süßigkeiten belohnt." So lernen Kinder nicht, mit Hungergefühlen umzugehen.

Ohne eine Umstellung des Speiseplans klappt es nicht

In ihren Beratungsstunden setzt sich Thouret erst mal mit den Familien zusammen. Oft sind mehrere von Adipositas betroffen. Dann wird der Speiseplan umgestellt. Bei Mirko kommt seitdem statt Weißbrot nur noch Vollkornbrot auf den Teller - das stillt länger den Hunger und ist gesünder. Butter wird durch Frischkäse ersetzt, dazu gibt es keine Billigsalami mehr, sondern magere Putenbrust. Kleine Veränderungen, die in der Summe große Wirkung zeigten. Mirko nahm innerhalb von zwei Monaten fünf Kilo ab.

Doch seitdem die Selbsthilfegruppe pausiert, geht das Gewicht wieder hoch. Ein Grund ist die mangelnde Unterstützung im Kindergarten. "Ich habe keine Kontrolle, was Mirko im Kindergarten isst. Getränke wie Kakao stehen den Kindern frei zur Verfügung", klagt Renate. "Da können es auch mal fünf Tassen pro Tag werden." Leider sind die Kindergärtnerinnen mit dem Thema überfordert und schauen nicht nach Mirko.

In der Schulzeit nehmen die Probleme zu

Bald kommt Mirko in die Schule - dort wird es meist noch schwieriger für Kinder wie ihn. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung spricht von bis zu 23 Prozent übergewichtiger Schulanfänger. Rund drei bis fünf Prozent sind adipös. Bei vielen übergewichtigen Kindern entsteht ein Teufelskreis: Mehr Körpergewicht führt oft zu weniger Bewegung, dadurch werden weniger Kalorien abgebaut. Durch die Passivität entwickeln sich Motorik und Koordination schlechter, Sport macht dann weniger Spaß und wird vermieden.

Hinzu kommen meist seelische Probleme. Je mehr übergewichtige Kinder unter Hänseleien von Mitschülern leiden oder ausgeschlossen werden, umso größer ist die Gefahr, dass sich die Kinder zurückziehen und noch mehr essen. Gesundheitliche Folgen des Übergewichts: Bluthochdruck, Diabetes, orthopädische Probleme wie Knieschmerzen, Bandscheibenbeschwerden, Leberverfettung und Herz-Kreislauferkrankungen - und zwar schon im jungen Alter.

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Es gibt viele Gesundheitsprogramme

Spezielle Gesundheitsprogramme sollen den Kindern helfen: FITOC, Moby Dick , Obeldicks oder Adi-Fit heißen solche Kurse, die meist von den Krankenkassen bezuschusst werden. Dabei soll das Gewicht nachhaltig reduziert und Motivation und Selbstbewusstsein gestärkt werden. Es geht darum, neue Verhaltensweisen in Bezug auf das Essen zu lernen oder die Selbstkontrolle zu schulen, damit ein Rückfall in alte Muster die Fortschritte nicht wieder zerstört. Die Programme laufen mindestens über ein Jahr. Meist kümmern sich Ernährungsberater (Oecotrophologen), Kinder- und Jungendärzte, Diätassistenten, Physiotherapeuten oder Sportlehrer um die Kinder.

Die ganze Familie muss mitmachen

Zusätzlich werden die Eltern eingebunden. "Ohne das familiäre Umfeld gelingt der Weg aus dem Übergewicht nicht", erklärt der Kinder- und Jugendarzt Martin Wabitsch. Er arbeitet an der Universität Ulm in der Adipositasforschung und leitet das Projekt "Jugendliche mit extremer Adipositas". Seine Erfahrung: Bei allem Einsatz und guten Vorsätzen, haben die Programme nicht immer den gewünschten Effekt. Übergewicht ist eine extrem vielschichtige Krankheit.

"Die Jugendlichen haben oft eine Odyssee hinter sich", weiß der Professor. Bisher gab es keine individuelle Anlaufstelle für Übergewichtige in dieser Altersspanne. An der sogenannten "JA-Studie" nehmen bundesweit 300 Jugendliche teil, die älter als 14 Jahre alt sind und meist eine Berufsausbildung suchen. "Als übergewichtiger Mensch ist es sehr schwer, überhaupt eine Stelle zu finden." Wenn die Adipositas extrem ausgeprägt ist, bleibt eine gewichtsreduzierende Operation meist als einziger Ausweg. "Wir beraten und begleiten die jungen Menschen auf diesem schweren Weg", so Wabitsch.

Abnehmen beginnt im Kopf

Diskriminierung ist bei Jugendlichen mit Übergewicht an der Tagesordnung. "Meist wird ihnen die Schuld zugewiesen, dass sie so dick geworden sind", bedauert Wabitsch. "Doch Abnehmen ist extrem schwer", stellt der Wissenschaftler klar. Dreh- und Angelpunkt ist die Psyche des jungen Menschen. "Wir versuchen, erstmal das Selbstvertrauen und das Selbstbild zu stärken. Es geht nicht allein um die Reduktion des Übergewichts." Abnehmen beginnt im Kopf und nicht nur im Bauch. Und es ist ein sehr harter, schwerer Weg, der Jahre oder gar ein ganzes Leben dauert.

Auch Mirko hat diese Erfahrung schon gemacht. Mit der Unterstützung seiner Familie hat er frühzeitig den Anfang geschafft. Seine Eltern und Geschwister helfen ihm auf dem Weg zu einem Normalgewicht. "Es braucht viel Durchhaltevermögen für uns alle", sagt seine Mutter.

*Name von der Redaktion geändert

Weitere Infos zu Übergewicht bei Kindern

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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