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Wie immun sind die Deutschen? "Herdenimmunität wird es nicht geben"


Wie immun sind die Deutschen?
"Der Herbst hängt wie ein Damoklesschwert über uns"


Aktualisiert am 13.05.2022Lesedauer: 5 Min.
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Ein Friedenskonzert für die Ukraine zieht die Massen an (Archivbild). Trotz Corona findet das öffentliche Leben in Deutschland wieder zur Normalität zurück.Vergrößern des Bildes
Ein Friedenskonzert für die Ukraine zieht die Massen an (Archivbild). Trotz Corona findet das öffentliche Leben in Deutschland wieder zur Normalität zurück. (Quelle: imago-images-bilder)

Die meisten Anti-Corona-Maßnahmen sind gefallen. Ist die Pandemie damit hierzulande vorbei? Ein Experte schätzt die aktuelle Lage ein und erklärt, wie es zur hohen Übersterblichkeit in Deutschland kam.

Wie viele Deutsche waren bereits mit dem Coronavirus infiziert? Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) glaubt, dass "deutlich mehr als 25 Millionen" Deutsche sich bereits angesteckt haben. "Aber eine seriöse Schätzung ist nicht möglich", wegen der Dunkelziffer, so der Minister in der ARD-Sendung "Maischberger".

Klar ist: Gezählt werden nur die positiven PCR-Tests, Schnell- und Selbsttests gehen nicht in die Statistik ein. Auch Menschen, die asymptomatisch infiziert waren, werden ohne PCR-Test nicht erfasst. Was bedeuten diese Zahlen nun? Wie hoch ist der Grad der Durchseuchung hierzulande? t-online fragte den Mathematiker Kristan Schneider, der die Corona-Pandemie modelliert.

t-online: Herr Schneider, wie immun sind wir denn nun?

Kristan Schneider: Das hat Lauterbach schon ganz richtig gesagt: Wir wissen es schlicht nicht. Wir haben eine Impfquote von 77,5 Prozent. Realistisch gerechnet, von den verbleibenden 22,5 Prozent kann man annehmen, jeder Zweite war sicherlich schon infiziert.

Das RKI sagt: Sieben Prozent der Deutschen hatten noch keinen Kontakt mit dem Virus – also weder durch Impfung noch durch Infektion.

Ja, genau das würden die Zahlen ergeben. Und ich halte das für durchaus plausibel.

Das wären etwa sechs Millionen Deutsche. Riskant ist es ja im Hinblick auf die über 60-jährigen Ungeimpften. Können die für uns zur Gefahr werden im Herbst? Drohen dann eventuell neue Lockdowns?

Wenn sieben Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre alt sind, sind das ca. zwei Prozent der Gesamtbevölkerung. Geht man zusätzlich davon aus, dass die Impfung nur bei 70 Prozent der Menschen über 60 einen hinreichenden Schutz bietet, sind insgesamt ca. 8,8 Millionen Menschen in der Risikogruppe der über 60-Jährigen ungeschützt.

Sollte im Herbst eine aggressivere Variante als Omikron vorherrschen, birgt das eine enorme Gefahr. Bisher hatten wir bei Omikron das Glück, dass die Bevölkerung durch die Impfung und Booster-Impfung gut geschützt wird und die Omikron-Welle anfing, als das Virus saisonal bedingt sich weniger gut verbreiten konnte. Das wird im Herbst anders sein. Das hängt wie ein Damoklesschwert über uns.

Es ist sicher besser, man geht mit großer Vorsicht in den Herbst. Eine strikte Maskenpflicht wäre wichtig. Ich denke nicht, dass es zu Lockdowns kommen wird, da wir mittlerweile Medikamente zur Behandlung haben.

Kristan Schneider
Kristan Schneider (Quelle: Helmut Hammer)


Kristan Schneider ist Mathematikprofessor an der Hochschule Mittweida, Sachsen. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Modellierung epidemiologischer Prozesse.

Wenn wir jetzt aber aktuell nur noch sieben Prozent der Bevölkerung haben, die noch keinen Kontakt zum Virus hatten – heißt das nicht, dass wir eigentlich schon Herdenimmunität haben?

Es würde bedeuten, dass 93 Prozent der Bevölkerung nicht mehr immunnaiv sind. Man kann davon ausgehen, dass diese Menschen somit eine gewisse Grundimmunisierung haben. Das heißt aber nicht, dass sich die Menschen nicht mehr infizieren können.

Herdenimmunität würde bedeuten, dass so viele Menschen bereits immun gegen das Virus sind, dass sich die verbleibenden immunnaiven Menschen kaum mehr anstecken können. Herdenimmunität wünschen sich viele, dazu wird es, geht es weiter wie bisher, aber nicht kommen. Dazu bräuchten wir andere Impfstoffe. Durchseuchung bringt keine Herdenimmunität – da macht man die Rechnung ohne den Wirt.

Jetzt hat die WHO Deutschland ein schlechtes Zeugnis ausgestellt, was die Übersterblichkeit in der Pandemie hierzulande angeht. Auf 100.000 Einwohner sind in den Jahren 2020 und 2021 bei uns 116 Menschen gestorben. In anderen Ländern, auch solchen wie Schweden, das einen ganz anderen Kurs der Pandemiebekämpfung eingeschlagen hat und zum Beispiel nie einen Lockdown hatte, waren es viel weniger – 56. Wie erklären Sie sich das? Haben wir da versagt?

Erstens berücksichtigen die WHO-Schätzungen nicht die Zeit nach dem Auftreten der Omikron-Welle. Zweitens sollte man besser auf die Zahl der direkten Covid-Toten pro 100.000 Einwohner schauen. Also die Zahl derer, die mit oder an Covid-19 verstorben sind.

Diese Zahl ist aussagekräftiger darüber, wie gut ein Land auf die Pandemie reagiert hat. Hier schneidet Deutschland viel besser als seine Nachbarländer ab, ausgenommen Dänemark. In Schweden ist diese Zahl um 16 Prozent höher als in Deutschland. Deutschland war hier also sehr gut.

Dennoch, so ein Glanzzeugnis scheint das nicht zu sein ...

Deutschland hat viele Fehler gemacht, gerade bei der Maskenpflicht und der Bewerbung der Impfkampagnen. Die USA, Spanien, Großbritannien, Frankreich und Schweden haben noch viel mehr Fehler gemacht. Deshalb steht Deutschland besser da.

Aber klar ist auch: Deutschland hat im Vergleich zu den Nachbarn eine ältere Bevölkerung, also größere Risikogruppe als andere und ist Impfschlusslicht – leider. Nur Dänemark ist besser, aber Dänemark war sehr stringent, bis die Impfquote extrem hoch war. Das Problem ist nicht, dass Deutschland zu viele Lockdowns hatte, sondern dass die Bevölkerung zu undiszipliniert war und die Impfskepsis zu hoch ist.

Dieser Prozess der "rechten Anfütterung" über eine künstlich erzeugte Impfskepsis ist in Dänemark gar nicht so möglich. Einerseits gibt es sicherlich aufgrund der Staatsform einen anderen nationalen Zusammenhalt, andererseits wäre in einem so kleinen Land viel ineffizienter die Infrastruktur aufzubauen, die eine Querdenkerbewegung erzeugt.

Die ältere Bevölkerung zu schützen, war doch aber nun einmal das ausgerufene Ziel. Das ist aber offensichtlich nicht gelungen …

Die Übersterblichkeit als Maß für die Pandemie zu nehmen, halte ich für logisch falsch. Die Übersterblichkeit sagt viel mehr darüber aus, wie vulnerabel eine Gesellschaft gegenüber der Pandemie ist. Korrekt müsste man die Übersterblichkeit mit und ohne die direkten Covid-Toten berechnen und vergleichen.

In Deutschland gibt es ein sehr gutes Gesundheitssystem, das sich im Vergleich zu den USA, Großbritannien, Frankreich und Spanien nicht zu verstecken braucht. Sehr viele Menschen bekommen eine sehr gute Gesundheitsversorgung. In der Pandemie ist eine Infektion mit SARS-CoV-2 ein erheblicher Risikofaktor. Müssen jetzt wichtige Therapien oder OPs verschoben werden, schlägt sich das natürlich auf die Übersterblichkeit.

Ein einfaches Beispiel: Jemand bekommt die Herz-OP nicht rechtzeitig und verstirbt, dann trägt das zur Übersterblichkeit bei. In einem Land, in dem Menschen diese Herz-OP so oder so nicht bekommen würden, schlägt sich das nicht auf die Übersterblichkeit.

Das heißt, weil das deutsche Gesundheitssystem so gut ist und viele Menschen dadurch sehr alt werden, war es in der Corona-Pandemie besonders anfällig?

Ja, je effizienter ein Gesundheitssystem im Kern ist, desto anfälliger ist es natürlich. Werden z.B. OPs verschoben, weil etwa Schutzkleidung fehlt, dann haben Sie sehr schnell bei einer so alten Bevölkerung eine Übersterblichkeit. Dazu kommt: Viele Menschen hatten auch Angst, sich im Krankenhaus zu infizieren, und haben daher in Notsituationen wie Herzinfarkten nicht den Notruf gewählt.

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Das alles klingt aber auch nach Versäumnissen der Regierung. Masken zu spät und dann zu früh ausgesetzt, keine so effektive Impfkampagne wie in anderen Ländern, und wir wissen ja anscheinend bis heute nicht mal, wer genau an Corona verstorben ist – als Geimpfter oder Ungeimpfter…

Es gibt klare Fehler und die sollte man dringend aufarbeiten. Die Masken kamen zu spät und die erfassten Daten haben nicht die Qualität, die man bräuchte. Wir wissen nicht, wer von den Infizierten wie oft geimpft ist, wie viele Menschen trotz Impfung schwere Verläufe haben. Wir wissen auch nicht, wie viele Menschen mehrmals infiziert waren.

Ich habe den Eindruck, es wurden Virologen zu sehr befragt und Statistiker und Epidemiologen zu wenig. Aber eins ist klar: Die WHO-Studie bezieht sich auf 2020 und 2021 und hat die Omikron-Welle nicht untersucht. Lauterbach ist seit Beginn der Omikron-Welle Gesundheitsminister, man sollte ihn also nur dafür belangen, was seither nicht richtig gelaufen ist. Zu den Fehlern von 2020 und 2021 muss man ganz klar sagen: Das geht auf Jens Spahn als Gesundheitsminister zurück. Dass man aber auch seit Jahrzehnten am falschen Platz gespart hat, ist ein anderes Kapitel.

Herr Schneider, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
  • Interview mit Kristan Schneider
  • Eigene Recherche
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