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Klimakrise: Der Mensch ist ein Herdentier – handeln wir deshalb nicht?


Klartext Klima
Wie unser Gehirn uns beim Klimawandel austrickst

MeinungVon Sara Schurmann

Aktualisiert am 16.02.2024Lesedauer: 5 Min.
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Rauch in einem U-Bahnschacht (Archivbild): Bei der Klimakrise reagieren Menschen häufig so, wie in der Rauchstudie.Vergrößern des Bildes
Rauch in einem U-Bahnschacht (Archivbild): Bei der Klimakrise reagieren Menschen häufig so wie in der Rauchstudie. (Quelle: imago-images-bilder)

Die jüngsten Klimanachrichten sind an Dringlichkeit kaum zu übertreffen, dennoch haben sie kaum ein öffentliches Echo. Woran liegt das?

Vor ein paar Wochen stieg ich in Berlin in die U-Bahn und hatte direkt den beißenden Geruch von etwas Verschmortem, etwas Verkohltem in der Nase. Ich war spät dran, musste zu einem Termin und nur ein paar Stationen mitfahren. Der Gestank war so stark, dass ihn jede Person im Waggon riechen musste. Ich hatte keine Ahnung, woher er kam, dachte aber kurz darüber nach, ob vielleicht die Bremsen der Bahn überhitzt seien oder es sich um einen Kabelbrand handeln könnte.

Der Waggon war relativ weit hinten am Zug, sodass der Fahrer es vermutlich nicht riechen konnte. Sollte ich irgendetwas tun? Jemandem Bescheid geben? Aber ich hatte es eilig und niemand anderes schien sich großartig für den Geruch zu interessieren, also beschloss ich, das Problem zu ignorieren. Die wenigen Minuten, die ich mitfahren würde, würde schon nichts Schlimmes passieren.

Was ich in dem Moment tat, ist in der Psychologie gut untersucht. 1968 etwa fanden Forscher in der sogenannten Rauchstudie heraus, wie Menschen reagieren, wenn gefährlich aussehender Rauch in einen Raum eindringt, in dem sie warten müssen. Waren sie allein, meldeten 75 Prozent den Rauch, warteten sie zusammen mit anderen, waren es nur noch 38 Prozent. Waren sie zusammen mit eingeweihten Testpersonen im Raum, die den Rauch bewusst ignorierten, reagierten nur noch 10 Prozent.

Der Mensch ist ein Herdentier

Die Studie machte klar: Um eine Situation zu beurteilen, orientieren sich Menschen an dem Verhalten anderer – und wenn die meisten anderen ruhig bleiben, bleiben wir es auch. Oft selbst dann, wenn es rational betrachtet gar keinen Grund dazu gibt.

In der Klimakrise machen wir das ständig, der Kinofilm "Don’t Look Up" parodierte dieses globale kollektive Ignorieren sehr gut. Ich selbst habe sicher schon hunderte Male anderen von der Rauchstudie erzählt, um unser Verhalten in der Klimakrise ein bisschen verständlicher zu machen. Jedes Mal muss ich dabei ungläubig lachen, und dann stehe ich in der U-Bahn und beobachte das gleiche Muster an mir selbst.

Video | Kipppunkt schon bald erreicht? Massiver Temperatursturz droht
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Quelle: t-online

Die aktuellen Klimanachrichten sind an Dringlichkeit kaum zu übertreffen, dennoch hatten sie kaum ein öffentliches Echo. Schon länger gibt es Studien, die nahelegen, dass die Meeresströmung im Atlantik früher aus dem Gleichgewicht kommen könnte, als bisher angenommen, Anfang dieser Woche kam die neueste heraus. Demnach könnte die Atlantikströmung, die unter anderem für das milde Klima in Europa sorgt, sich schon in diesem Jahrhundert deutlich abschwächen.

Das würde das Klimasystem in relativ kurzer Zeit grundlegend verändern, in Deutschland könnte es zu einer starken Abkühlung kommen. Das mag in Zeiten der Erderhitzung auf den ersten Blick gut klingen, hätte aber unter anderem massive Folgen für unsere Landwirtschaft und damit auch der Lebensmittelversorgung.

Mechanismus institutionalisiert sich im Journalismus

Ende vergangener Woche meldete das europäische Erdbeobachtungsprogramm Copernicus, dass die Erderhitzung erstmals 12 Monate hintereinander 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau überschritten hatte. Wir kratzen also an der 1,5-Grad-Marke, diese dauerhaft zu überschreiten, wird verheerende Folgen haben. Dass die Meeresoberfläche in diesem Jahr noch mal mit Abstand heißer ist als im vergangenen, hat es bisher ebenfalls noch nicht zu größerer Aufmerksamkeit gebracht – und das, obwohl der Zustand schon im vergangenen Jahr alarmierend war.

Das 1,5-Grad-Ziel

Die Weltgemeinschaft hatte sich 2015 bei der Klimakonferenz in Paris darauf geeinigt, die Erderhitzung möglichst auf 1,5 Grad, auf jeden Fall aber auf 2 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Die 1,5 Grad gelten dabei als Grenze, um die sich schon jetzt verschärfenden Naturkatastrophen infolge der Klimakrise – zum Beispiel Dürren, Hitzewellen oder Überschwemmungen – in einem Rahmen zu halten, der von der Menschheit bewältigt werden kann.

Der Mechanismus, der in der Rauchstudie untersucht wurde, ist im Journalismus nicht nur beobachtbar, er ist mehr oder weniger institutionalisiert. Wenn Journalistinnen und Journalisten sich auf eine Redaktionskonferenz vorbereiten, dann tun wir dies auch, indem wir uns andere Medien anschauen. Wir hören etwa unter der Dusche die Nachrichten im Radio, lesen in der Bahn, welche Themen die Konkurrenz behandelt und schauen in der Redaktion als Erstes in die Agenturmeldungen.

Wenn kaum ein anderes Medium den Studien zu der abgeschwächten Atlantischen Umwälzströmung, dem möglichen Erreichen von klimatischen Kipppunkten oder der erhöhten Meerestemperatur mehr Aufmerksamkeit schenkt – dann kann es ja gar nicht so relevant sein, so die Wahrnehmung.

Das neue Normal?

Redaktionen orientieren sich an anderen Redaktionen, und an deren Berichterstattung orientieren sich – unter anderem – Politik und Gesellschaft. Auch wenn wir unsere Arbeit gegenseitig kritisch beobachten, ist das grundsätzliche Vertrauen in die Kolleginnen hoch. Meinem eigenen Gefühl, dass eine Klimameldung mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, habe ich früher oft weniger vertraut, wenn ich bei Kollegen und Konkurrenz dazu nichts fand.

Zusätzlich setzt ein Gewöhnungseffekt ein, sowohl bei den Leserinnen, Zuschauern und Zuhörenden, als auch in den Redaktionen. Es wird ja auch tatsächlich ständig berichtet: Höchsttemperaturen, Kipppunkte, Atlantikströmung, alles schon x-fach gehört, die Entwicklungen sind wenig überraschend. Anstatt die Meldungen als Anlass für Verhaltensänderungen zu nehmen, wird die Entwicklung als neues Normal behandelt. Was dabei oft vergessen wird, ist, dass es kein neues Normal geben kann, solange die Erderhitzung nicht gestoppt wird. Mit jedem Zehntelgrad mehr werden die Auswirkungen drastischer.

Sara Schurmann
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Die Lage ist extrem ernst, aber nicht hoffnungslos. Nach diesem Motto erklärt die freie Journalistin Sara Schurmann die großen Zusammenhänge und kleinen Details der Klimakrise so, dass jede und jeder sie verstehen kann.
Etwa in ihrem Buch "Klartext Klima!" – und jetzt in ihrer Kolumne bei T-Online. Für ihre Arbeit wurde sie 2022 vom Medium Magazin zur Wissenschaftsjournalistin des Jahres gewählt.

Ein weiterer Grund, warum Klimameldungen oft wenig bei uns auslösen, ist der sogenannte "Confirmation Bias", ein Abwehrmechanismus unseres Gehirns, der uns im Alltag vor Überlastung schützen soll. Im Deutschen wird das kognitive Verzerrung genannt. Die "Bestätigungs-Verzerrung" sorgt dafür, dass wir neue Informationen so interpretieren, dass sie in unser bestehendes Weltbild passen. Auch dann, wenn sie dazu geeignet sind, unser Weltbild zu erschüttern. Unser Gehirn nimmt neue Informationen also nicht neutral auf, sondern interpretiert sie direkt.

Der "Wusste ich ja schon"-Haken

Anstatt genauer darüber nachzudenken, was eine Klimainformation, die ich gelesen habe, mit meinem eigenen Leben zu tun hat und wie sie mit meinen Zukunftsplänen zusammenpasst, habe auch ich in der Vergangenheit oft gedanklich lieber den "Wusste ich ja schon"-Haken dran gemacht. Ich tue die Reaktionen anderer als "zu emotional" oder "alarmistisch" ab, wenn ich die Dringlichkeit selbst nicht spüre.

Bei Themen, die nichts mit Klima und Umwelt zu tun haben, erwische ich mich selbst regelmäßig dabei. Mit den aktuellen Kriegen oder den rasanten Entwicklungen im Bereich künstlicher Intelligenz etwa beschäftige ich mich nur am Rande, weil sie mich emotional und in ihrer Komplexität überfordern und ich das Gefühl habe, da eh nichts ausrichten zu können. Ein Gefühl, das viele auch in Bezug auf die Klimakrise spüren.

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Konstruktiver Journalismus kann helfen

Solche Mechanismen zu kennen, macht uns nicht komplett immun gegen sie, es hilft aber dabei, die eigenen Reflexe und Reaktionen kritisch zu hinterfragen. Was unserem Gehirn helfen würde, bedrohliche Meldungen nicht direkt abzuwehren, ist, Handlungsoptionen mit aufzuzeigen. Konsequent nicht nur das Problem anzuschauen, sondern auch die Frage zu beantworten: Was nun?

Im Journalismus nennt sich dieser populärer werdende Ansatz konstruktiv oder lösungsorientiert, aus meiner Sicht ist es einfach ganz normaler, guter Journalismus. Wenn eine Situation ernsthaft als dringliche Krise wahrgenommen wird, fragen Journalistinnen und Journalisten automatisch auch nach weiteren Schritten und recherchieren mögliche Lösungen. Solche Ansätze müssen nicht nur aufgezeigt, sondern auch fundiert und kritisch eingeordnet werden. Wie angemessen ist eine Maßnahme? Inwiefern ist sie hilfreich und ausreichend? Wogegen kann sie etwas bewirken, wofür nicht?

Wenn wir von Klimakipppunkten wie dem der Atlantikströmung so weit wie möglich entfernt bleiben wollen, ist die Antwort eindeutig. Dann müssen wir die Emissionen so schnell wie möglich senken, deutlich schneller als bisher. Technisch ist das möglich. Aber es braucht mehr Menschen, die sich dafür einsetzen.

Verwendete Quellen
  • psycnet.apa.org: "Group inhibition of bystander intervention in emergencies" (englisch)
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