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Narkolepsie: Das Hirn ist bei hundert Prozent, nur die Muskeln reagieren nicht


Narkolepsie
Narkolepsie: Plötzlich im Tiefschlaf

Ina Brzoska/ spiegel-online

05.09.2012Lesedauer: 4 Min.
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Narkolepsie: Betroffene schlafen in den unpassendsten Situationen ein.Vergrößern des Bildes
Bei Narkolepsie schlafen Betroffene in den unpassendsten Situationen ein. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)

Die Beine sacken weg, die Augen fallen zu, der Schlafdrang ist unbezwingbar: Wer an Narkolepsie leidet, wird oft als faul verkannt - und als erwerbsunfähig aussortiert. Claudia Schitto-Osthues ist eine von Tausenden Betroffenen. "Mein Hirn ist bei hundert Prozent, nur die Muskeln reagieren nicht."

Kürzlich überkam Claudia Schitto-Osthues wieder dieses Gefühl, als hätte sie 72 Stunden nicht geschlafen. Sie musste sich zu einer Parkbank schleppen, schon sackte ihr Körper weg. "Wie kann man so früh am Tage schon so betrunken sein?", schimpfte eine Passantin.

Schlaflähmung kommt plötzlich

Schitto-Osthues hört diese hämischen Kommentare oft. "Mein Hirn ist bei hundert Prozent, nur die Muskeln reagieren nicht", beschreibt sie den Zustand, der sie ganz plötzlich überkommt. Sie würde sich in dem Moment gern wehren, doch sie ist gefangen in ihrem eigenen Körper. Nicht mal einen Finger kann sie rühren, geschweige denn aufstehen oder das passende Kontra geben. Mehrere Minuten kann die Schlaflähmung anhalten.

Claudia Schitto-Osthues hat Narkolepsie, wie Mediziner die Schlaflähmung nennen, ihr Schlaf-Wach-Rhythmus ist aus dem Takt. In der Nacht fällt sie binnen weniger Minuten in den Tiefschlaf - normale Menschen brauchen 90 Minuten -, nach spätestens drei Stunden ist sie wieder fit. Am Tage ereilt sie dafür eine unüberwindbare Müdigkeit, alle drei Stunden muss sie sich für gut eine Stunde hinlegen. Ihr Schlafpensum verteilt sich auf Tag und Nacht.

Rund 40.000 Menschen, schätzt die Deutsche Gesellschaft für Schlafmedizin (DGSM), leiden hierzulande an Narkolepsie. Viele wissen gar nicht, dass sie betroffen sind, oft deuten Ärzte die Symptome nicht richtig, verwechseln Narkolepsie mit Epilepsie oder mit Depressionen. Eltern oder Lehrer besonders schläfriger Kinder nehmen erste Anzeichen nicht ernst, stigmatisieren Betroffene vielleicht sogar als Faulpelze.

"Je größer die Angst, desto eher breche ich zusammen"

Ein unangenehmes Symptom der Schlaflähmung ist die sogenannte Kataplexie. Dieser totale oder teilweise Verlust der Muskelspannung wird oft durch starke Emotionen verursacht. Manche Narkoleptiker sacken nach einem Lachanfall zusammen, andere verlieren bei Angst oder Panik die Körperspannung.

Schitto-Osthues hat inzwischen eine Phobie gegen Treppen entwickelt. Nachdem sie dort mehrfach Kataplexien erlitt, mussten Ärzte bei ihr schon Bänderrisse oder Brüche versorgen. "Es ist paradox, aber je größer die Angst vor den Stufen, desto eher breche ich dort zusammen", sagt sie.

Als Mutter von drei fast erwachsenen Kindern ist Schitto-Osthues froh, dass die Krankheit erst spät ausbrach. Vor fünf Jahren erhielt die 42-Jährige nach Tests im Schlaflabor die Diagnose. Dabei zeigten sich die typischen Symptome schon früh: "Bei mir kam die Krankheit schleichend, sie wurde immer schlimmer", sagt Schitto-Osthues.

Mit 18 Jahren kämpfte sie zunehmend gegen bleierne Müdigkeit. Beim Videogucken nickte sie weg, beim Autofahren fing sie an zu schlummern. Bemerkenswert: Früher arbeitete sie selbst als medizinisch-technische Assistentin ausgerechnet in einem Schlaflabor. Heute sagt sie: "Ich habe die Anzeichen heruntergespielt." Erst als sie mit Beule an der Stirn am Küchentisch aufwachte, erst als ihr Mann ihre Gereiztheit kaum mehr ertrug, unterzog sie sich einem Test. Und stellte sich der Diagnose.

Narkolepsie gilt als unheilbar

Aber die Ursachen sind gut erforscht, und es gibt Maßnahmen und Medikamente, die helfen: Bei Narkoleptikern ist der Teil des Gehirns, der den Schlaf-Wach-Rhythmus steuert, dauerhaft gestört. Die betreffende Hirnregion produziert zu wenig Orexin, einen Botenstoff, der zusammen mit anderen Schlafhormonen bestimmt, wann wir wach sind und wann wir schlafen. Betroffene erhalten deshalb Stimulanzien, um die Wachphasen zu verstärken und Narkosemittel, um den Schlaf in der Nacht zu verbessern. Außerdem helfen geplante Tagschlafepisoden und Schlafhygiene.

Schitto-Osthues' Spezialist sitzt 350 Kilometer entfernt, an der Hephata Klinik in Schwalmstadt. Der Nervenarzt Geert Mayer befasst sich seit Mitte der achtziger Jahre mit Ursachen und Therapie dieser seltenen Krankheit. An der Hephata-Klinik gründete sich Ende der siebziger Jahre auch die Deutsche Narkolepsie-Gesellschaft (DNG), Schitto-Osthues ist stellvertretende Vorsitzende.

Rund 1000 Fälle kennt Mayer in Deutschland, viele sind frühverrentet oder als schwerbehindert eingestuft. "Viele werden depressiv, weil Angehörige oder Kollegen im Beruf zu wenig Verständnis für die Krankheit aufbringen", sagt Mayer. In Japan, wo ein Nickerchen am Tage vielmehr toleriert wird, blieben Narkoleptiker viel häufiger berufstätig.

Wie Domino: Einer fängt an zu lachen, alle fallen um

"Narkolepsie hat keinen Einfluss auf die Lebenszeit oder den Intellekt", sagt Mayer. Wenn Betroffene ihre Ruhephasen einhielten, seien sie genauso leistungsfähig wie Gesunde. Wichtig aber sei, dass Narkolepsie früh erkannt werde. Kinder etwa bleiben sonst häufig sitzen. "Narkoleptiker müssen einen Rhythmus finden, damit sie die Krankheit dominieren und nicht die Krankheit sie dominiert", sagt Mayer. Er kennt viele, die damit gut leben - darunter Hochschulprofessoren, Lehrer, Bibliothekare.

In Finnland haben Forscher einen fraglichen Zusammenhang zwischen Narkolepsie und der Impfung gegen Schweinegrippe beobachtet. Dort sind nach der Schweinegrippe-Welle mehr Kinder und Jugendliche an der Schlafstörung erkrankt. Ob das allerdings ursächlich mit der Impfung zusammenhängt, ist noch umstritten. "Die europäische Impfbehörde wird ihr endgültiges Fazit im September ziehen", sagt Mayer.

Das Immunsystem leidet

Bei Narkolepsie handelt es sich vermutlich um eine Autoimmunerkrankung. Wissenschaftler gehen davon aus, dass ein Immundefekt die Zellen zerstört, die das Hormon Orexin produzieren. Bei Betroffenen funktionieren zudem jene Gene nur unzureichend, die dafür zuständig sind, Entzündungen oder Infektionen abzuwehren. Auch Schitto-Osthues leidet heute an Rheuma. Vor einem Jahr ging sie in Frührente.

Kürzlich trafen sich Verbandsmitglieder zur Jahrestagung. Auf der Tagesordnung stand ganz oben ein Witz. "Alle lachten, dann sah es aus, als spielten wir Domino", sagt Schitto-Osthues, "einer nach dem anderen fiel um." Humor, betonen Narkoleptiker, habe heilende Kräfte. Das helfe auch, mit hämischen Kommentaren klarzukommen, wenn mal wieder ein Nickerchen auf der Parkbank nötig ist.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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