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Drohende Niederlage bei Türkei-Wahl: Erdoğan steht am Abgrund


Drohende Niederlage bei Türkei-Wahl
Erdoğan steht am Abgrund

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 05.08.2022Lesedauer: 8 Min.
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Recep Tayyip Erdoğan: Der türkische Präsident liegt elf Monate vor der nächsten Wahl deutlich hinten.Vergrößern des Bildes
Recep Tayyip Erdoğan: Der türkische Präsident liegt elf Monate vor der nächsten Wahl deutlich hinten. (Quelle: IMAGO/Depo Photos/imago images)

Im nächsten Jahr wählt die Türkei einen neuen Präsidenten, und Erdoğan liegt in Umfragen zurück – er könnte tatsächlich verlieren. Dem Land drohen chaotische Jahre.

Noch nie zuvor war sein politisches Ende so nah. Dabei hat der Wahlkampf noch gar nicht begonnen. Erst in etwas weniger als elf Monaten sind Präsidentschaftswahlen in der Türkei, und Präsident Recep Tayyip Erdoğan steht schon jetzt massiv unter Druck. Sein Land leidet unter einer Hyperinflation, die auch für ihn selbst Folgen hat. Aktuelle Meinungsumfragen zeigen: Erdoğan liegt deutlich zurück.

Die Opposition wartet ab, schaut dabei zu, wie die Regierung keinen Ausweg aus der Wirtschaftskrise findet. Erdoğan dagegen versucht, mit außenpolitischen Erfolgen innenpolitisch zu punkten – er vermittelt zwischen Russland und der Ukraine, ringt um die Ausfuhr des ukrainischen Getreides und trifft an diesem Freitag Wladimir Putin in Moskau. Doch der Applaus von einem großen Teil der Bevölkerung bleibt aus, in einer Zeit, in der viele Menschen darum ringen, ihre Familien ernähren zu können.

Derzeit liegt der türkische Präsident am Boden, unklar ist, ob er aus eigener Kraft wieder aufstehen kann. Nur eins ist derzeit sicher: Erdoğan wird seine Macht nicht kampflos abgeben. Der Türkei drohen in den kommenden Monaten Streit, ein Krieg und eine weitere gesellschaftliche Spaltung. Was ist da los – und wie geht es weiter?

Schlechte Umfragen für Erdoğan

Zunächst einmal ist der Machtverlust von Erdoğan überhaupt nur möglich, weil die Opposition in den vergangenen Jahren ein Bündnis aus mittlerweile sechs Parteien geschmiedet hat, das trotz politischer Unterschiede ein großes Ziel eint: Erdoğan soll weg.

Die regierende AKP ist zwar noch immer die stärkste politische Kraft im Land, und am 24. Juni 2023 wählt die Türkei nicht nur einen neuen Präsidenten, sondern auch das Parlament. Doch Erdoğan und seine Partei sind jeweils weit von absoluten Mehrheiten entfernt. Nach derzeitigem Stand kämpft der Präsident im ersten Wahlgang bestenfalls um 40 Prozent der Stimmen.

Nach jetzigem Stand läuft es allen Meinungsforschungsinstituten in der Türkei zufolge auf eine Stichwahl zwischen Erdoğan und vermutlich dem Kandidaten der größten Oppositionspartei CHP hinaus. Und dabei sieht es für den Amtsinhaber nicht gut aus.

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Denn die CHP hat ein Luxusproblem. Sie hat drei aussichtsreiche Kandidaten, die im direkten Vergleich mit Erdoğan in den Beliebtheitsumfragen jeweils vor dem AKP-Chef liegen:

  • Ekrem İmamoğlu, der seit 2019 Bürgermeister von Istanbul ist.
  • Mansur Yavaş, Bürgermeister von Ankara, der auch konservative Wählerinnen und Wähler anspricht.
  • Kemal Kılıçdaroğlu, Parteichef der CHP und Oppositionsführer im türkischen Parlament.
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Auch angesichts dieser guten Ausgangslage zögert die CHP eine Entscheidung noch heraus. Im Interview mit "Zeit Online" ist İmamoğlu Ende Mai gefragt worden, ob er bereit sei, gegen Erdoğan anzutreten. Er wich aus: "Das ist eine sehr schwierige Frage", sagte der Bürgermeister von Istanbul. "Das Einzige, was ich gerade will, ist, dass die Regierung geht. Das ist es, wofür ich bereit bin, zu kämpfen."

Die Zurückhaltung aller CHP-Kandidaten hat wahrscheinlich einen strategischen Grund: Die AKP hat Justiz und Medien im Land weitestgehend unter Kontrolle. Sollte nun der Gegenkandidat für Erdoğan feststehen, müsste dieser wahrscheinlich mit undemokratischen Praktiken und Verfolgung durch die Justiz rechnen.

Eine Kostprobe dessen bekam İmamoğlu bereits: Er muss sich vor Gericht verantworten, weil er Mitglieder des Hohen Wahlrats in Istanbul als "Idioten" bezeichnet haben soll. Dazu sagte der CHP-Politiker "Zeit Online": "Es ist sehr interessant, dass dann vor einem Jahr Klage gegen mich eingereicht wurde. Obwohl es doch er (der Innenminister, Anm. d. Red.) gewesen war, der mich 'Idiot' genannt hatte."

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Als aussichtsreichster Kandidat für die CHP gilt derzeit Ankaras Bürgermeister Yavaş. Der ehemalige Militärstaatsanwalt ist ein gläubiger Muslim und damit gleichzeitig für konservative wie nationalistische Wähler interessant. Er hat außerdem in den Meinungsumfragen den größten Vorsprung vor Erdoğan.

So schlimm war der Währungsverfall noch nie

Auch wenn Umfragen immer mit Vorsicht zu genießen sind, ist das Bild doch eindeutig. Viele Forschungsinstitute in der Türkei haben zwar eine parteipolitische Färbung, aber der skizzierte Trend findet sich in allen aktuellen Erhebungen. Es ist außerdem auffällig, dass AKP-nahe Institute wie "Saros" und "Optimar" in diesem Jahr noch keine Umfragen veröffentlicht haben.

Das also ist die strategische Ausgangslage. Warum aber ist Erdoğans Beliebtheit so eingebrochen – und lässt sich das reparieren?

Entscheidend sind vor allem wirtschaftliche Gründe. In der Türkei zieht die Inflation auf sehr hohem Niveau weiter an. Im Juli stiegen die Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat um 79,6 Prozent, wie das nationale Statistikamt am Mittwoch in Ankara mitteilte.

Analysten hatten mit einer noch höheren Inflationsrate von im Schnitt 80,2 Prozent gerechnet. Im Vormonat hatte die Inflationsrate 78,6 Prozent betragen. Experten und Expertinnen geben die tatsächliche Inflation allerdings als noch viel höher an. Die Lira ist außerdem weiter im Sturzflug, ein Euro ist derzeit über 18 Lira wert – so schlimm war der Währungsverfall noch nie.

Die Folgen sind fatal: Die Menschen im Land haben Probleme, sich mit Lebensmitteln zu versorgen – große Städte müssen mit öffentlichen Verteilaktionen gegensteuern. Die Türkei ist außerdem auf den Import vieler Produkte und vor allem Technologie angewiesen, was für viele Menschen unbezahlbar geworden ist.

Das wirkt sich auf alle Teile des gesellschaftlichen Zusammenlebens aus. Viele Familien können ihre Kredite nicht mehr bedienen. Paare können nicht heiraten, weil das schlichtweg zu teuer ist. Und die Wirtschaftskrise führt zu einem zunehmenden "Braindrain" – der Abwanderung der Fachkräfte ins Ausland.

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Erdoğan sucht Sündenböcke, ohne Erfolg

Die Probleme sind teilweise von der Regierung verschuldet und Folge einer fehlerhaften Zinspolitik. Erdoğan will weiterhin das wirtschaftliche Wachstum mit niedrigen Zinsen erhöhen, unter Inkaufnahme einer hohen Inflation. Doch die Niedrigzinspolitik und der Einfluss des Staatschefs auf die Notenbank haben ausländische Investoren verschreckt.

Einsichtig ist er nicht, im Gegenteil: Erdoğan machte erst kürzlich die Gezi-Demonstranten für die Krise verantwortlich. Die Türkei stünde heute wirtschaftlich viel besser da, wenn es "diesen Verrat nicht gegeben hätte", sagte er bei einer Parteiveranstaltung. Ohne die Proteste hätte die Türkei heute ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1.500 Milliarden Dollar, behauptete der Präsident. Tatsächlich lag es im vergangenen Jahr bei 806,8 Milliarden. Die Türkei bezahle für "den Verrat von Gezi" einen hohen Preis.

Die Vorwürfe von Erdoğan sind ein Beleg für die Hilflosigkeit, mit der sich die Regierung durch die Wirtschaftskrise bewegt. Der Präsident sucht Sündenböcke im Ausland oder in den Reihen seiner politischen Gegner. Das verfängt jedoch nicht mehr. Laut einer Umfrage des Meinungsforschers Gezici Arastirma Merkezi im Juni geben 62,9 Prozent der Befragten die Schuld an der hohen Inflation "der falschen Regierungspolitik".

Der drohende Machtkampf

Das erklärt die schwierige Ausgangslage von Präsident und Regierungspartei ein Jahr vor den Wahlen. Um den Machtkampf noch zu seinen Gunsten zu entscheiden, könnte Erdoğan nun Manöver zur Ablenkung von der Wirtschaftskrise starten – oder einen erneuten Angriff auf die türkische Demokratie.

Dabei sind folgende Szenarien realistisch:

1. Erdoğan sucht die Weltbühne

Erdoğan hat seinen politischen Gegnern vor allem eine Sache voraus: Erfahrung im Amt. Dieser Faktor ist angesichts der zahlreichen internationalen Krisen enorm wichtig. Die Türkei ist in den Konflikten in Syrien, Berg-Karabach und Libyen direkt involviert. Sollte der Präsident die Wahl verlieren, erbt sein Nachfolger eine Vielzahl an Problemen in der Region, die verwaltet werden müssen.

Bislang halten sich die CHP-Kandidaten in außenpolitischen Fragen eher zurück, um der AKP keine Angriffsfläche zu bieten. Erdoğan wird im Wahlkampf aber seine Kompetenz ins Schaufenster stellen und für sich beanspruchen, die türkischen Interessen im Ausland stark vertreten zu haben.

Auch im Ukraine-Krieg kommt der Türkei eine wichtige Vermittlerrolle zu, denn beide Seiten – Kiew und Moskau – akzeptieren die türkische Regierung in dieser Rolle. So kann Erdoğan zu Gesprächen mit Putin nach Russland reisen und hat vermittelt, dass nun das erste Getreide aus der Ukraine per Schiff bis an die türkische Küste gebracht werden konnte. Wäre Erdoğan nicht in den vergangenen Jahren immer autokratischer geworden, wäre er dafür im Westen gefeiert worden.

Die neue Blockbildung wird für die Türkei allerdings zu einer Zerreißprobe werden. Einerseits ist sie Nato-Mitglied und unterstützt die Ukraine militärisch, andererseits ist das Land energiepolitisch und bei der Zusammenarbeit in einigen Krisenregionen auf Russland angewiesen. Auch die chinesische Seidenstraße läuft durch die Türkei, der wirtschaftliche Einfluss Pekings ist spürbar.

Erdoğan hat in der gegenwärtigen Lage also auch kaum eine andere Wahl, als den Vermittler zu geben. Davon erhofft er sich Prestige für sein Land, von dem er innenpolitisch profitieren kann. Dass er nun seinen russischen Amtskollegen trifft, wird in der Türkei positiv aufgenommen.

2. Krieg und Konflikte

Der türkische Präsident ließ in der Vergangenheit oftmals außenpolitische Konflikte eskalieren, wenn er in seinem Land unter Druck geriet. Das scheint auch diesmal nur eine Frage des richtigen Zeitpunkts zu sein.

So hat die Regierung erklärt, dass sie erneut kurdische Milizen in Nordsyrien angreifen wolle. Erdoğan plant einen Einsatz von Bodentruppen, wahrscheinlich nicht ohne Hintergedanken. Kriege, bewaffnete Konflikte und die damit verbundene Unsicherheit rufen in der Bevölkerung oft den Wunsch nach Stabilität hervor und stärken damit die Position des Machthabers. Der Präsident könnte politisch von einem militärischen Erfolg profitieren.

Zudem könnte es auch wieder Streit mit den westlichen Partnern geben. Erdoğan hat zwar seinen Widerstand gegen den Nato-Beitritt von Schweden und Finnland aufgegeben, könnte den Prozess aber jederzeit wieder unterbrechen.

Mögliche Vorwände für einen erneuten Konfrontationskurs deuten sich an: Der US-Kongress verhindert womöglich den Verkauf von F-16-Kampfflugzeugen an Ankara. Und Schweden sowie Finnland werden nicht – wie vielleicht von Erdoğan erhofft – Mitglieder der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK an die Türkei ausliefern. In der Vergangenheit brachten Konflikte mit dem Westen Erdoğan in der Bevölkerung großen Zuspruch.

3. Angriff auf die Demokratie

Eine weitere entscheidende Frage ist, ob Erdoğan eine drohende Niederlage akzeptieren würde. Nach dem Putschversuch 2016 hat die Regierung über 100.000 Staatsbedienstete entlassen, allein Ende Juli 2022 waren es noch mal Tausende Polizisten. Viele Menschen saßen lange Zeit in Untersuchungshaft, obwohl sie teilweise schon vor der Entlassung gerichtlich entlastet worden waren.

Erdoğan hat in fast 20 Jahren an der Macht die Gewaltenteilung zertrümmert, Justiz und Medien unter seine Kontrolle gebracht. Faire Wahlen sind kaum mehr möglich, weil die AKP meistens mehr Medienpräsenz besitzt als alle anderen Parteien zusammen. Viele Medien in der Türkei sind mittlerweile nur noch das Propaganda-Sprachrohr der Regierung.

Da Polizei, Justiz und Armee mit Getreuen von Erdoğan besetzt sind und Informationsfreiheit nicht existiert, bietet das dem Präsidenten bei einer drohenden Niederlage alle repressiven Möglichkeiten eines Autokraten. Er hat außerdem noch ausreichend Unterstützer, die er mobilisieren könnte. Ein eventueller friedlicher Machtwechsel wäre also auch vom Eingeständnis Erdoğans abhängig.

Eine derzeit starke, geeinte Opposition, enorme wirtschaftliche Probleme und mögliche Krisen, die der Präsident als Ablenkungsmanöver anzetteln könnte – das ist die Lage der Türkei, weniger als ein Jahr vor der Wahl.

Vor allem die Wirtschaftskrise führt dazu, dass die Stabilitätsanker, die der türkische Machthaber in den vergangenen 20 Jahren ausgeworfen hat, nicht mehr greifen. Die Wahlentscheidung vieler Türkinnen und Türken wird vor allem davon abhängig sein, wem sie die größte Wirtschaftskompetenz zutrauen.

Weil sich die Probleme selbst im besten Fall nicht bis zum nächsten Juni lösen lassen, sieht es für Erdoğan schlecht aus. Deshalb ist sein politisches Ende nah – wenn alles demokratisch abläuft.

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