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Michail Gorbatschow: Sein Vermächtnis hat auch dunkle Seiten


Gedenken an Michail Gorbatschow
Gorbis dunkle Seiten


31.08.2022Lesedauer: 4 Min.
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Michail Gorbatschow: In Deutschland galt er als Held. Doch seine prorussische Einstellung sorgte für Aufsehen. (Quelle: t-online)

Am Tag nach dem Tod von Michail Gorbatschow dominieren die Lobpreisungen. Doch sein Vermächtnis hat auch Schattenseiten.

Am Dienstagabend ist der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow im Alter von 91 Jahren gestorben. Am Tag danach dominieren in vielen Ländern bewundernde Nachrufe auf den Staatsmann.

"Michail Gorbatschow hat unsere Welt verbessert", sagt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. Die Deutschen hätten ihm viel zu verdanken – denn ohne ihn wären die Deutsche Einheit und das Ende des Kalten Krieges so nicht Wirklichkeit geworden. Er habe versucht, eine "neue Zeit der Transparenz, der Rechte und der Freiheit zu schaffen", sagt Italiens Ministerpräsident Mario Draghi.

Viele im Westen verehren Gorbatschow für seine Rolle bei der Beendigung des Kalten Krieges. Die Verleihung des Friedensnobelpreises 1990 war der Höhepunkt der weltweiten Anerkennung für seine Rolle beim Ende des Eisernen Vorhangs. Im Westen haben sie Gorbatschow geliebt, hofiert, schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl, ihm in der DDR sogar den Spitznamen "Gorbi" gegeben.

Doch da ist nicht nur Licht, sein Vermächtnis hat auch dunkle Seiten. Viele Experten weisen etwa auf die gewaltsamen Niederschlagungen im Baltikum und im Südkaukasus hin, rund um den Zerfall der Sowjetunion.

Als etwas weniger "Edles" entpuppt

So etwa der Osteuropaexperte Sergej Sumlenny, der seine Kritik an einer konkreten Aussage des ehemaligen Kanzlerkandidaten der Union, Armin Laschet, aufhängt. Dieser schrieb auf Twitter zum Tod von Gorbatschow: "Kann ein einzelner Mensch die Welt verändern? Ja. Er kann. Keine Gewalt, keine Panzer". Das will der bis 2021 langjährige Leiter des Kiewer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung so nicht stehen lassen: "In Wirklichkeit schickte Gorbatschow Panzer nach Riga, Vilnius, Tiflis, Baku und Almaty und verhaftete, verwundete und tötete Hunderte", schreibt Sumlenny auf Twitter.

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In den chaotischen Jahren der zerbröckelnden UdSSR massakrierten sowjetische Truppen unter der Verantwortung Gorbatschows im April 1989 22 Demonstranten in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Dort hatten Gegner des Sowjetregimes friedlich demonstriert, aufgelöst wurde die Proteste mit Klappspaten und Giftgas. Beim Massaker des "Schwarzen Januars" 1990 töteten sowjetische Truppen 150 Menschen.

Auch in der litauischen Hauptstadt Vilnius wurden Zivilisten getötet. Der baltische Staat war die erste Sowjetrepublik, die im März 1990 ihre Unabhängigkeit erklärte. Um das rückgängig zu machen, überfielen am 13. Januar 1991 Spezialeinheiten die Hauptstadt. 14 Zivilisten wurden getötet, mindestens 700 Menschen verletzt, als die Militärs das Parlament und einen Fernsehsender stürmten.

Diese Ereignisse gäben neue Antworten auf die Fragen danach, wer der Mensch und Reformführer Gorbatschow war, schrieb der Journalist Robert G. Kaiser bereits 1991 in "Foreign Affairs". "Es sind entmutigende Antworten, insbesondere für diejenigen in der Sowjetunion und in der ganzen Welt, die sich erlaubt hatten, diesen Mann zu romantisieren." Er habe sich dadurch als etwas weniger "Edles" entpuppt.

"Die Litauer werden Gorbatschow nicht verherrlichen"

Als eine "Schande" bezeichnet nun Wissenschaftler Sumlenny, dass deutsche Politiker in den Chor einstimmten und eine Person bejubelten, "die Panzer schickte, um Zivilisten in einem halben Dutzend Städten, den Hauptstädten künftiger Länder, zu töten. Und dies sogar noch im Januar 1991 tat, d.h. als sein Spiel vorbei war und es überhaupt keinen Sinn mehr hatte", schreibt Sumlenny. Gorbatschow trat als Präsident der Sowjetunion 1991 zurück, bevor sich der Staat wenig später selbst auflöste.

Und so unterscheidet sich das Andenken in den betroffenen Ländern deutlich von den Stimmen, die man beispielsweise in Deutschland hört: "Die Litauer werden Gorbatschow nicht verherrlichen", schreibt der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis auf Twitter. "Wir werden niemals die einfache Tatsache vergessen, dass seine Armee Zivilisten ermordete, um die Besetzung unseres Landes durch sein Regime zu verlängern." Gorbatschows Soldaten hätten auf unbewaffnete Demonstranten geschossen und sie unter Panzern zerquetscht. "So werden wir ihn in Erinnerung behalten", sagt der Minister.

Verschleierungstaktiken bei Tschernobyl-GAU

Auch die größte Nuklearkatastrophe der Geschichte fällt unter Gorbatschows Zeit an der Spitze der Sowjetunion. Am 26. April 1986 explodierte der Reaktorblock 4 des sowjetischen Kernkraftwerks Tschernobyl. Vor allem der Umgang der damaligen Führung mit der Katastrophe steht in der Kritik: Weder die internationale Öffentlichkeit noch die Menschen in der UdSSR, die nicht direkt bei Tschernobyl lebten, erfuhren von der Katastrophe. Erst als schwedische Kernphysiker zwei Tage später eine deutlich erhöhte Strahlung maßen, bestätigte Moskau in verharmlosenden Worten eine "Havarie in Tschernobyl", so die "Zeit".

Dass Informationen verheimlicht worden seien, stritt Gorbatschow 2006 in einem Gastbeitrag in der "Welt" ab. "Dem Politbüro lagen nicht sofort die relevanten und vollständigen Informationen vor, die die Lage nach der Explosion widergespiegelt hätten", schrieb er dort. Es habe allerdings Konsens darüber gegeben, dass Informationen herausgegeben werden sollten, sobald man welche erhalte. "Erst einige Tage später erfuhren wir, dass das, was passiert war, kein einfacher Unfall war, sondern eine wirkliche nukleare Katastrophe."

Doch auch im Nachgang wurden von den sowjetischen Behörden zahlreiche Verschleierungstaktiken angewendet. Als im Mai die Opferzahlen stiegen, wuchs offiziell auch die Zahl jener, die angeblich unversehrt die Krankenhäuser verlassen konnten.

"Gorbatschow ist eine komplizierte Figur"

Wie aus Dokumenten hervorgeht, die das National Security Archive 2019 zugänglich machte, liegt das an einem Trick des sowjetischen Gesundheitsministeriums: Der als kritisch erachtete Grenzwert für radioaktive Strahlung, der eine Person maximal ausgesetzt sein darf, wurde schlicht um ein Vielfaches heraufgesetzt. Zehn bis fünfzig Mal so hoch wie zuvor durfte die Dosis fortan sein. Mehr dazu lesen Sie hier. Der Kreml unternahm große Anstrengungen, das Ausmaß des Strahlungsdebakels zu verdecken", schreibt die Journalistin Alla Yaroshinskaya in einem Essay zur Veröffentlichung der Dokumente.

Was bleibt also von Michail Gorbatschow? Angesichts der Lobpreisungen auf der einen und der Verurteilungen auf der anderen Seite schreibt die Wissenschaftlerin Minna Ålander von der Stiftung Wissenschaft und Politik auf Twitter: "Gorbatschow ist eine komplizierte Figur, und die Wirklichkeit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte."

Verwendete Quellen
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