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Beraterin von Selenskyj: "Dann wäre der Krieg vorbei"


Beraterin von Selenskyj
"Dann wäre der Krieg vorbei"

  • Daniel Mützel
InterviewVon Daniel Mützel

21.12.2022Lesedauer: 7 Min.
Interview
Unsere Interview-Regel

Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
Gemeinsame Übung von russischen und belarussischen Truppen in der Nähe von Brest.Vergrößern des Bildes
Russischer Schützenpanzer bei einem Wintermanöver (Archivbild): Wie steht es um die Moral der ukrainischen Truppen? (Quelle: IMAGO/Russian Defence Ministry Press O)

Russland versucht, den ukrainischen Widerstand mit Raketenterror gegen Zivilisten zu brechen. Selenskyj-Beraterin Verbytska erklärt, warum sich Putin damit verkalkuliert.

Aljona Verbytska ist Beraterin des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seit Herbst 2021 die Ombudsfrau für die Rechte der ukrainischen Soldatinnen und Soldaten. Vergangene Woche war sie auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung bei der Filmpremiere von "Life to the Limit: Der Kampf der Ukraine für die Freiheit" zu Gast in Berlin. t-online sprach am Rande der Veranstaltung mit ihr über die Situation in ihrer Heimat.

t-online: Frau Verbytska, der Winter ist da, im Donbass tobt eine blutige Schlacht, während Russland weiter ukrainische Städte mit Raketen und Drohnen terrorisiert. Wie ist die Stimmung bei den ukrainischen Soldaten an der Front?

Aljona Verbytska: Der Kampfgeist der ukrainischen Armee wächst mit jedem Tag. Sie wissen, dass sie für ihre Existenz, ihre Familie und ihre Zukunft kämpfen. Die Minusgrade machen uns wenig aus.

Die russischen Raketen haben große Teile der Energie- und Wasserversorgung der Ukraine zerstört. Davon sind auch die Familien von Soldaten betroffen. Hat das keinen Einfluss auf die Kampfmoral?

Natürlich, aber die Veränderungen, die der Winter mit sich bringt, bekommen nicht nur die Soldaten zu spüren, sondern das gesamte ukrainische Volk. Es schlagen ja nicht nur ständig Raketen ein. In vielen Städten gibt es keinen Strom, kein Wasser und keine Heizung. Das geht an niemandem vorbei. Aber die Kampfmoral und der Wunsch, den Feind zu vertreiben, werden dadurch nur stärker.

Sind das nicht Durchhalteparolen?

Nein. Ich bin in ständigem Kontakt mit den Soldaten und ihren Familien. Je schlimmer die Lage, desto mehr wächst der Hass auf die russische Führung, desto stärker wird der Wille, sich gegen den Feind zu wehren. Es gibt Soldaten, die wegen schwerster Verletzungen im Krankenhaus sind, aber als Erstes nach dem Aufwachen fragen, wann sie wieder an die Front dürfen.

Wie erklären Sie sich das?

Die russische Regierung hat die falsche Gleichung aufgestellt: Sie denkt, sie könne unseren Willen brechen, indem sie Raketen auf unsere Städte losschickt. Doch sie erreicht das Gegenteil. Jede Rakete erinnert uns daran, warum wir weiterkämpfen müssen: Frieden und Sicherheit gibt es für uns nur, wenn wir die russische Armee in der Ukraine besiegen.

Als Ombudsfrau der Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj müssen Sie häufig schlechte Nachrichten überbringen. Was erzählen Sie den Familien von getöteten oder gefangen genommenen Kämpfern?

Das ist tatsächlich die größte Herausforderung meines Jobs. Zum einen helfe ich ihnen dabei, staatliche Hilfen zu bekommen und die nötigen Dokumente auszufüllen. Zum anderen spreche ich mit ihnen und versuche, ihnen klarzumachen, dass der ukrainische Staat alles tut, damit sie Gerechtigkeit erfahren.

Was heißt Gerechtigkeit, wenn der Sohn oder die Tochter getötet wurde oder in russische Gefangenschaft gerät?

Bei gefallenen Soldaten versuchen wir, die Leichen wiederzubekommen, was nicht immer einfach ist. Bei Soldaten in russischer Gefangenschaft ist natürlich die Hauptfrage der Angehörigen, wann sie ihren Liebsten wieder zurückbekommen.

Was antworten Sie?

Leider kann ich oft nur sagen, dass der Staat auf allen Ebenen alles dafür tut, die Gefangenen freizubekommen, aber dass es schlussendlich im Ermessen Russlands liegt.

Gibt es einen Fall, der Sie nicht losgelassen hat?

Ich spreche mit zahllosen Familien. Jeder Schmerz ist einzigartig und groß. Aber ich hatte zum Beispiel zuletzt Kontakt mit einer Familie, bei der der Vater und zwei Söhne, 20 und 24 Jahre, in der Armee kämpften. Vor Kurzem musste der Vater die Leichen beider Söhne von der Front abholen. Es ist furchtbar, so etwas zu hören. Zuletzt habe ich mit einer Mutter von zwei Söhnen gesprochen, die beide in der Armee waren. Der eine war so entstellt, dass er nur anhand von DNA-Spuren identifiziert werden konnte. Der andere wird vermisst, wir haben keine Informationen über ihn. Es gibt Tausende solcher Geschichten.

Wie sehr belastet Sie das persönlich?

Natürlich ist es schwer für mich, weil ich auch Mutter bin und es nicht ertragen könnte, wenn meine Kinder tot nach Hause gebracht würden. Aber ich bin auch Offizierin und Menschenrechtlerin. Ich weiß, was mein Job von mir verlangt, und werde mich weiter um die Familien kümmern.

Hin und wieder gelingt ein Gefangenenaustausch mit Russland: Vor wenigen Tagen kamen 64 Ukrainer und ein US-Bürger frei. Moskau bekam dagegen unter anderem einen orthodoxen Priester und mehrere Leichen der Söldnergruppe Wagner. Wer entscheidet, wer nach Hause darf und wer nicht?

Dafür gibt es spezielle Stellen bei der ukrainischen Armee und beim Inlandsgeheimdienst SBU, die entsprechende Listen mit Namen erstellen. Ich kann nur so viel sagen: Die Ukraine versucht, alle Vermissten, Gefangenen und Leichen gefallener Soldaten zurückzubekommen. Die Listen schicken wir den russischen Behörden, auch die Namen derer, die Russland gar nicht offiziell gefangenhält. Was dann passiert, liegt in der Hand des Angreifers.

Kann die ukrainische Regierung Kontakt zu den Gefangenen aufnehmen, bevor ein Austausch stattfindet?

Es ist sehr schwer, überhaupt Informationen von Russland zu bekommen. Das gilt selbst für Schwerverletzte. Zum Beispiel hält Russland derzeit über 160 ukrainische Soldaten gefangen, die im März die Atomanlage in Tschernobyl verteidigt haben. Diese Menschen sind verstrahlt und müssen dringend medizinisch versorgt werden. Wir haben darauf gepocht, dass die Betroffenen wenigstens an ein Drittland ausgeliefert werden, um dort behandelt zu werden. Aber bisher ohne Erfolg.

Wo befinden sich die verstrahlten Soldaten derzeit?

Das wissen wir nicht. Russland verstößt leider permanent gegen das Völkerrecht und die Genfer Konvention. Wir erhalten keine Informationen über den Gesundheitszustand der Soldaten. Nur das Internationale Rote Kreuz hat hin und wieder Zugang zu den Gefangenen. Russland spielt ein Versteckspiel: Die Gefangenen werden innerhalb weniger Monate vier- bis fünfmal verlegt. Wir können nur hoffen, dass es ihnen gut geht und sie noch leben.

Erreichen Sie auch Berichte von Soldaten, die von ihren Ängsten erzählen?

Die größte Angst ist die, sich nicht mehr verteidigen zu können. Dass die Invasoren uns überrennen, weil unsere Munition alle ist, oder wir nicht genügend Waffen haben, um uns zu verteidigen. Hätten wir ausreichend Panzer und Haubitzen, dann wäre der Krieg womöglich in wenigen Wochen vorbei. Die russische Armee ist militärisch besiegbar. Aber wir brauchen die Mittel dazu. Das ist in meinen Augen eine recht banale Erkenntnis, die leider nicht alle teilen.

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Ein Vorwurf an den Westen lautet, er liefere gerade so viele Waffen, dass die Ukraine überleben, aber nicht siegen kann. Was sollte das Kalkül hinter einem solchen Verhalten sein?

Diese Frage stelle ich mir seit Kriegsbeginn. Vielleicht denken manche westlichen Regierungsvertreter, damit eine atomare Eskalation zu verhindern. Andere hoffen vielleicht insgeheim, dass der Krieg von selbst endet, wenn uns nicht genug geholfen wird. Aber ich glaube, das ist eine falsche Denkweise. In achteinhalb Jahren Krieg haben wir gelernt, dass keine Feuerpause, kein Waffenstillstand und keine Berücksichtigung russischer Interessen Putin davon abbringt, sich mehr von unserem Territorium einzuverleiben. Das einzige, was gegen Russlands imperialen Ambitionen hilft, ist, sich ihm in den Weg zu stellen. Das geht nur mit Waffen.

In Deutschland sind die Meinungen gespalten, ob die Bundesregierung mehr Waffen an die Ukraine liefern sollte. Manche argumentieren, Russlands "Sicherheitsinteressen" seien zu respektieren, andere fürchten sich vor dem Dritten Weltkrieg. Können Sie solche Ängste verstehen?

Diese Ängste in Europa und den USA haben genau zu der Lage geführt, in der sich die Ukraine heute befindet. Die Russland-Politik des Westens seit 2014 war angstgetrieben. Das Argument lautete, Putin dürfe für seinen Krieg im Donbass und die Krim-Annexion bloß nicht zu sehr zu bestraft werden, damit er nicht noch mehr Unruhe stiftet. Aber als Juristin weiß ich, dass ungestraftes Verbrechen, ungestraftes Böses von sich aus nicht aufhört. Es wächst nur und wird gefährlicher.

Seit Februar 2022 reagiert der Westen so entschlossen wie nie zuvor.

Das stimmt, und zum Glück sind wir nicht mehr im Jahr 2014, sondern werden heute vom Westen mit Waffen unterstützt, auch von Deutschland. Ich möchte daher den Deutschen für ihre Unterstützung danken und sie zugleich bitten, diese Hilfe nicht einzustellen. Wir haben 50 Prozent der illegalen russischen Besetzungen seit Februar zurückerobert, den Rest der Ukraine schaffen wir auch noch.

Russland begeht systematisch Kriegsverbrechen in der Ukraine. Doch es gibt Hinweise, dass auch ukrainische Soldaten in Einzelfällen Kriegsverbrechen begangen haben sollen. Zuletzt tauchte ein Video aus der Region Donezk auf, wo ukrainische Soldaten zehn russische Kriegsgefangene getötet haben sollen, weil einer das Feuer auf sie eröffnete. Wie gehen Sie mit solchen Berichten um?

Es ist richtig, es gibt vereinzelt Fälle von Kriegsverbrechen durch ukrainische Soldaten. Sobald so ein Fall bekannt wird, wird eine strafrechtliche Ermittlung gegen die mutmaßlichen Täter eröffnet. Das Gesetz gilt für alle, niemand steht darüber.

Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, hat kürzlich in einem Interview gesagt, "dass Russen und alle anderen Feinde getötet werden müssen, einfach getötet, und am allerwichtigsten, dass wir keine Angst haben sollten, das auch zu tun" Ist das nicht eine gefährliche Verrohung?

Krieg ist die Gegenüberstellung von zwei Kräften, die das Ziel haben, einander zu vernichten. Du tötest oder wirst getötet. Es gibt keinen dritten Weg. Wenn du als Soldat an der Front bist und Feindkontakt hast, spürst du sofort, dass aus diesem Kampf nur einer lebend herauskommt. Philosophische Überlegungen haben keinen Platz auf dem Schlachtfeld.

Experten sagen, Russland habe seine Mobilisierung von rund 300.000 neuen Soldaten abgeschlossen und in den russischen Arsenalen stünden noch Tausende Panzer. Zugleich gibt es keine Anzeichen für Verhandlungen. Das sieht nach einem langen Krieg aus.

Ich verstehe, dass manche sich vor einem langen Krieg fürchten, aber den Großteil der Kosten trägt die Ukraine. Wenn der Westen die Unterstützung der Ukraine einfriert – Gott behüte – und die Ukraine fällt, dann zerbricht die gesamte demokratische Weltordnung der Nachkriegsära. Dann beginnt eine neue Zeitrechnung, in der das Recht des Stärkeren gilt und internationale Abkommen das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben sind. In dieser Welt möchte ich nicht leben.

Frau Verbytska, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Aljona Verbytska
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