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Gaza: Der Streit um die Zahl der Opfer


Krieg um Opferzahlen
Krankenhäuser in Gaza geben codierte Listen frei

Von t-online, wan

Aktualisiert am 27.10.2023Lesedauer: 4 Min.
Palästinenser stehen in einem Krankenhaus neben Opfern israelischer Luftangriffe (Archivbild): Um die Zahl der Toten wird gestritten.Vergrößern des BildesPalästinenser stehen in einem Krankenhaus neben Opfern israelischer Luftangriffe (Archivbild): Um die Zahl der Toten wird gestritten. (Quelle: IMAGO/Saeed Jaras \ apaimages)
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Mehr als 7.000 Menschen sollen bei israelischen Angriffen im Gazastreifen gestorben sein. Doch wie verlässlich sind diese Zahlen?

Die von der islamistischen Hamas kontrollierte Behörde hat eine 212 Seiten lange Liste mit den Namen aller Getöteten veröffentlicht. Das Dokument enthält auch Angaben zu Alter, Geschlecht und Personalausweisnummer der Palästinenser, die seit dem 7. Oktober im Gaza-Krieg ums Leben gekommen sein sollen. Laut der Liste beträgt die Anzahl der durch israelische Angriffe getöteten Menschen mindestens 7.028. Die Angaben konnten bisher nicht unabhängig überprüft werden.

US-Regierung: Nichts von der Hamas für bare Münze nehmen

Die US-Regierung hatte die Opferzahlen zuvor in Frage gestellt. "Wir können nichts, was von der Hamas kommt, für bare Münze nehmen, auch nicht das sogenannte Gesundheitsministerium", sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, im Weißen Haus. Die Behörde werde von einer terroristischen Organisation geleitet. Die US-Regierung bestreitet demnach aber nicht, dass es viele Opfer gebe. Zuvor hatte bereits US-Präsident Joe Biden gesagt, dass er kein Vertrauen in die vom Gesundheitsministerium veröffentlichten Zahlen habe.

 
 
 
 
 
 
 

Die Opferzahlen in Konflikten können aus unterschiedlichen Gründen schwanken und ungenau sein. Zum einen fehlt oftmals der genaue Überblick, zum Beispiel wenn Menschen noch verschüttet sind oder bestimmte Bereiche nicht zugänglich sind. Zum anderen können sie auch der Propaganda dienen.

"Propagandistischer Anreiz"

Nach einer Explosion an einem Krankenhaus in Gaza hatte die Hamas schnell von einem israelischen Angriff gesprochen. Das von der Terrororganisation kontrollierte Gesundheitsministerium nannte zunächst 500 Tote, dann 471 Opfer. US-Geheimdienste hingegen gingen von bis zu 300 Toten aus. Beide Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Zweifel an den Zahlen der Gesundheitsbehörde hat auch Luke Baker, ehemaliger Chef der Nachrichtenagentur Reuters in Jerusalem. "Hamas hat einen klaren propagandistischen Anreiz, die Zahl der zivilen Opfer so weit wie möglich zu erhöhen. Ich leugne nicht, dass Zivilisten getötet werden", schrieb er auf der Plattform X.

Menschenrechtler: Zahlen stimmen mit unseren Beobachtungen überein

Doch es gibt auch Gegenstimmen. Omar Shakir, Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in Israel und Palästina, sieht keine Manipulation. "Wir beobachten seit drei Jahrzehnten Menschenrechtsverletzungen im Gazastreifen, darunter mehrere Runden von Feindseligkeiten. Wir haben im Allgemeinen festgestellt, dass die Daten des Gesundheitsministeriums zuverlässig sind", sagte er laut dem britischen "Guardian". Man habe auch eigene Untersuchungen durchgeführt und keine großen Abweichungen festgestellt. Er beruft sich auch auf Satellitenaufnahmen von Gebäuden nach israelischen Angriffen. Daraus ziehe man ebenfalls Schlüsse auf mögliche Opferzahlen.

Ein Mitarbeiter der UN, der ungenannt bleiben wollte, sagte dem "Guardian": "Ich habe nichts gesehen, was mir sagt, dass sie die Zahlen erfinden. Wir haben uns einige der israelischen Bombenanschläge angesehen und die Zahlen der Todesopfer, die das Ministerium für einen bestimmten Angriff angibt, stimmen im Großen und Ganzen mit denen überein, die wir in früheren Kriegen gesehen haben." Die derzeitigen Opferzahlen seien höher, weil die Angriffe größer seien.

"Die Zahlen sind von Minute zu Minute möglicherweise nicht ganz genau", sagte Michael Ryan vom Programm für gesundheitliche Notfälle der Weltgesundheitsorganisation der Nachrichtenagentur AP. "Aber sie spiegeln weitgehend das Ausmaß an Todesfällen und Verletzungen wider."

Krankenhäuser erfassen alle Verwundeten und Toten per Computer

Die Krankenhäuser in Gaza haben ein System eingeführt, mit dem sie die ankommenden Verwundeten verwalten. Es gebe Aufzeichnungen über jede verwundete Person, die ein Bett belegt, und über jeden toten Körper, der in einer Leichenhalle ankommt. Sie geben diese Daten in ein Computersystem ein, das sie mit dem Gesundheitsministerium verbinde. Laut Screenshots, die Krankenhausdirektoren an die Nachrichtenagentur AP geschickt haben, sieht das System wie eine farbcodierte Tabelle aus, die in Kategorien unterteilt ist: Name, ID-Nummer, Datum der Krankenhauseinweisung, Art der Verletzung, Zustand. Die Zahlen des Ministeriums geben aber nur eine Gesamtübersicht: So wird nicht zwischen Zivilisten und Hamas-Angehörigen unterschieden,

Für Journalisten ist ein weiteres Problem bei der Überprüfung von Opferzahlen, dass Israel sie nicht mehr in den Gazastreifen lässt. "Die Kommunikation mit journalistischen Kontakten vor Ort ist massiv erschwert, weil Israel die Infrastruktur der lokalen Telekommunikationsbehörden bombardiert und das Internet lahmgelegt hat", schreibt der "Spiegel".

Lokalen Journalisten und internationalen Helfern sei es nicht einfach, sich im Gazastreifen zu bewegen und sich direkt ein Bild zu machen. Israel meldete zuletzt Hunderte Angriffe auf das recht begrenzte Gebiet im Norden des Gazastreifens. Die Uno meldete, dass 38 ihrer Angestellten getötet worden seien, die Organisation CPJ berichtet von mindestens 27 getöteten Journalisten.

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Nach Angaben des Spiegel würden auch Kontakte vor Ort bestätigen, dass es seit dem Hamas-Angriff auf Israel mehr Opfer in Gaza gebe als bei vorherigen Auseinandersetzungen. Francesca P. Albanese, die für die UN über die Menschenrechtslage in Palästina berichtet, sprach in einer Stellungnahme am 24. Oktober von 5.000 Toten auf palästinensischer Seite seit dem 7. Oktober.

Muhammad Shehada, der in Gaza geboren ist und Kommunikationschef des Euro-Mediterranean Human Rights Monitor, bestätigt diese Einschätzung. Er sagte dem US-Magazin Time", dass von all den israelischen Militäreinsätzen, die er und seine Familie erlebt haben, nichts dem Ausmaß, der Schwere und dem Ausmaß dieses aktuellen Krieges entspricht.

"Im Moment werden 7.000 Menschen getötet, das ist weit mehr als die Zahl der Palästinenser, die in den letzten vier Jahrzehnten in jedem Krieg, jeder Gräueltat oder jeder Eskalation getötet wurden", sagt Shehada.

Israel warnt dagegen immer wieder, den Zahlen aus Gaza keinen Glauben zu schenken.

Verwendete Quellen
  • theguardian.com: "How does Gaza’s health ministry calculate casualty figures?" (englisch)
  • spiegel.de: "Was wir über die Opferzahlen in Gaza wissen" (kostenpflichtig)
  • press.un.org: "As Civilian Casualties Reach Record Levels in Gaza, Third Committee Underscores Need to End War" (englisch)
  • apnews.com: "What is Gaza’s Ministry of Health and how does it calculate the war’s death toll?" (englisch)
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
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