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Alternativer Nobelpreisträger: In Indien droht Faschismus


Menschenrechtler Colin Gonsalves
"Die ganze Welt schaut weg"

t-online, Jonas Schaible

07.12.2017Lesedauer: 7 Min.
Colin Gonsalves in seinem Büro in Neu Delhi: Hoffen auf den Massenaufstand.Vergrößern des BildesColin Gonsalves in seinem Büro in Neu Delhi: Hoffen auf den Massenaufstand. (Quelle: Aayush Goel/Human Rights Law Network/The Right Livelihood Award/dpa)
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Gegen Hunger, Armut und Folter in Indien kämpft Colin Gonsalves als Menschenrechtsanwalt. Wirklichen Wandel könne nur ein Massenaufstand bringen, sagt er. Könnte er ihn anführen?

Interview von Jonas Schaible

Mit dem Alternativen Nobelpreis, der offiziell Right Livelihood Award heißt, werden jedes Jahr Menschen ausgezeichnet, die oft unbeachtet von der Öffentlichkeit für eine bessere Welt kämpfen. In diesem Jahr sind das: die aserbaidschanische Journalistin Khadija Ismayilova, die äthiopische Aktivistin für Behindertenrechte Yetnebersh Nigussie – und Colin Gonsalves.

Der indische Menschenrechtsanwalt hat vor dem Obersten Gerichtshof des Subkontinents ein Recht auf Nahrung erstritten, er hat es geschafft, dass Soldaten zum ersten Mal für Morde an Zivilisten verurteilt wurden, seine Nichtregierungsorganisation beschäftigt mehr als 200 Mitarbeiter.

Man könnte meinen, er glaube an die Entwicklung zum Besseren.

Während des Gesprächs in der Lobby eines Hotels in Berlin-Mitte lacht er, scherzt, wirkt ganz und gar unaufgeregt. Aber seine Diagnose ist verheerend: In Indien herrsche Verachtung der Armen vor, Folter sei Routine, der Nationalismus grassiere. Er spricht sogar von Faschismus.

Herr Gonsalves, Sie haben vor mehr als dreißig Jahren begonnen, als Menschenrechtsanwalt zu arbeiten, und seitdem zahlreiche wichtige Urteile vor dem Obersten Gerichtshof erkämpft. Ist Indien heute ein besserer Ort für arme Menschen, Frauen und Minderheiten als damals?

Colin Gonsalves: Im Gegenteil. Für Arme ist es viel schlimmer geworden! Hunger und Mangelernährung sind verbreitet: 700 Millionen gehen jeden Tag hungrig ins Bett. Die Hälfte der Frauen und Kinder sind unterernährt und schwach.

Dabei gilt Indien als Erfolgsgeschichte. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist in den vergangenen drei Jahrzehnten von etwa 200 auf rund 1.700 Dollar gestiegen.

Einer der größten Fehler von Ökonomen ist es, zu glauben, dass die Menschen besser leben, weil die Wirtschaft wächst. Die Sozialausgaben sind radikal gekürzt worden. Da sickert kein Wohlstand nach unten durch, wie in sozialen Systemen. Indien ist ein besserer Ort nur für Industrielle, Kapitalisten und Reiche geworden.

Weil die Wirtschaft wächst, gäbe es die Möglichkeit, etwas gegen Armut zu tun. Wenn das nicht passiert – woran liegt es?

Die indische Politik hat die Idee übernommen, der Staat müsse nicht für Wohnungen, Essen und Bildung bezahlen. Das mache alles der Markt. Aber der macht es nicht.

Die Demokratie in Indien funktioniert, da sind sich internationale Beobachter einig. Gibt es keinen politischen Druck, gegen Armut vorzugehen?

Gegenfrage: Ist Indien wirklich eine Demokratie?

Alle Studien, die ich kenne, sagen: Ja. Sie sehen das anders?

Ja, das sehe ich komplett anders. Wir sagen zum Beispiel, wir haben eine freie Presse, aber die ist so etwas wie Fox News in den USA. Fast alle TV-Stationen und Zeitungen werden von der Regierung kontrolliert oder von Unternehmen, die der Regierung nahe stehen.

Wen meinen Sie, wenn Sie „Regierung“ sagen? Indien ist ja keine Diktatur, kein Einparteienstaat. Es müssen doch verschiedene Parteien und Positionen vertreten sein.

Das sollte man annehmen. Aber beide wichtigen Parteien teilen dieselbe autoritäre Ideologie: Sie verachten die Arbeiter und die Armen. Die Armen, denken sie, sind arm, weil sie faul sind. Es ist schlimmer als während des britischen Kolonialismus.

War das Ihrer Meinung nach seit der Unabhängigkeit immer so?

Nein, als ich anfing, hatten wir so etwas wie ein sozialdemokratisches System. Arme und Reiche haben irgendwie zusammengelebt, wenn auch nicht auf Augenhöhe. Aber seit den Neunzigern, seit die Globalisierung Fahrt aufgenommen hat, gehen beide große Parteien gegen die Menschen vor.

So ähnlich wie in Europa, wo sich sozialdemokratische Parteien in den Neunzigern auch einer liberalen Wirtschaftspolitik zugewandt haben?

Nicht wirklich. Ich beobachte den Rechtsruck in Europa – und der ist nicht mal ansatzweise vergleichbar mit dem, was in Indien passiert ist. Es ist ja nicht nur die Wirtschaftspolitik, die verheerend ist.

Sondern?

Slums werden platt gemacht, wie im Südafrika der Apartheid kommt der Staat in die Slums und reißt Häuser ab, ohne guten Grund. Menschenhandel blüht. Folter und außergerichtliche Tötungen durch die Polizei sind an der Tagesordnung.

Lassen Sie mich da kurz einhaken: Sie haben gegen außergerichtliche Tötungen durch die Armee gekämpft. Wie üblich sind die?

Es gibt leider keine verlässlichen Studien. Aber bekannt ist, dass die Polizei routinemäßig Menschen sexuell missbraucht, Knochen bricht, Zigaretten auf Menschen ausdrückt. Das ist eine sadistische Truppe, die über Jahre nie in Frage gestellt wurde. Alle Politiker dulden Folter stillschweigend. Wir haben in einem winzigen der dreißig Bundesstaaten einen Prozess geführt, allein dort wurden 1.528 Fälle von außergerichtlichen Tötungen in drei Jahrzehnten dokumentiert. In nur einem Staat! Der Oberste Gerichtshof hat nun endlich entschieden, dass Sicherheitskräfte bestraft werden können.

Sie haben als Anwalt zahlreiche entscheidende Urteile wie dieses vor dem Obersten Gerichtshof durchgesetzt. Wie ist das möglich, wenn angeblich alles so korrumpiert ist, wie Sie sagen?

Viele Richter sind offen und froh, dass wir ihnen die Fälle vorlegen. Dazu kommt, dass das Rechtssystem in den Achtzigern geöffnet wurde für Leute, die es sich vorher nicht leisten konnten. Das Prinzip heißt „Public Interest Litigation“ – man kann riesige Menschenmengen durch eine Organisation vertreten. In Europa kennt man das in dieser Form bis heute nicht. Dieses System lebt glücklicherweise weiter, obwohl das Rechtssystem verfallen ist.

Können Sie also als Anwalt sogar mehr erreichen als in ihrer Rolle als politischer Aktivist?

Der beste Weg, etwas zu verändern, sind immer Aufstände der Menschen. Leider sind wir sehr duldsam und halten noch still, obwohl die Situation längst untragbar geworden ist. Ich selbst bin vor allem Anwalt. Die beste Möglichkeit für mich, den Menschen zu helfen, ist vor Gericht.

Jetzt reden wir zum ersten Mal in diesem Gespräch darüber, wie man Dinge verändern kann. Ist vielleicht doch nicht alles so hoffnungslos?

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Es ist sogar noch schlimmer. Ich bin noch nicht fertig.

Na dann: bitte.

In Indien breitet sich extremer Nationalismus aus. Die Regierungspartei von Ministerpräsident Narendra Modi baut nur auf einer Idee auf: Dass Hindus die besseren Menschen sind. Unsere Nationalisten sind um ein vielfaches hasserfüllter als etwa Marine Le Pen. Vor Jahren habe ich gesagt, dass wir uns auf den Faschismus zubewegen. Damit hatte ich Recht. Wir sind mittendrin im Faschismus.

Wie bitte, Faschismus? Sie übertreiben.

Doch, Faschismus. Menschen haben das Sagen, die an die Überlegenheit einer bestimmten Rasse glauben. Die finden, Muslime gehören in die Schranken gewiesen, im Zweifel auch mit Gewalt. Wir erleben die Ghettoisierung von Muslimen. Im vergangenen Jahr haben militante Hindus vierzig Menschen gelyncht, weil sie Rindfleisch essen. Hitler, Mussolini, Franco werden verehrt. Die ganze Welt schaut weg, dabei sind wir die größte Demokratie der Welt.

Viel Unterstützung werden Sie kaum bekommen. In den vergangenen Jahren wurden die Unesco, der Internationale Strafgerichtshof, die UN geschwächt. Die EU ist mit sich selbst beschäftigt. Der Höhepunkt der internationalen Zusammenarbeit scheint überschritten.

Wir leben in sehr düsteren Zeiten. Ich fürchte, dass Indien, China und Russland die aufstrebenden Tyranneien der Welt werden könnten. Sie haben alle keinen Respekt vor Organisationen wie den Vereinten Nationen. Sie nutzen die Bühne für ihre eigenen Interessen, aber niemand sollte sich täuschen: Indien hat keinerlei Interesse an starken Menschenrechten.

Nehmen wir an, es ist, wie Sie sagen, und Indien wird wirklich zu einem faschistischen Staat: Müssten Sie nicht mehr tun als ein paar Prozesse zu führen? Eine Bewegung starten zum Beispiel? Oder das System revolutionieren?

Ich habe weder die körperliche Stärke noch den Mut, um zu tun, was viele Menschen in meinem Land tun. Das kann ich nicht ignorieren. Wir haben viele extrem mutige Menschen im Land, die nichts haben und trotzdem kämpfen. Die versuchen, Bewegungen zu starten. Es gibt sie im ganzen Land. Sind sie fragmentiert? Ja. Sind sie manchmal geschwächt durch Folter und Morde? Ja. Machen sie trotzdem weiter? Absolut.

Würden Sie für ein Amt kandidieren?

Nein, niemals. Ich wäre nicht in der Lage dazu.

Weil es körperlich zu anstrengend wäre?

Ich arbeite sieben Tage die Woche, ich habe nie frei. Das ist kein Problem. Doch man braucht für ein Amt Fähigkeiten, die ich nicht habe. Ich kann den Kampf der Menschen in Rechtstexte übersetzen, aber ich bin kein Politiker. Sollte ich eines Tages die Chance haben, zum Teil einer mächtigen Bewegung zu werden, würde ich sofort meine Arbeit aufgeben. Aber die Zeit ist nicht reif.

Wenn nicht einer der erfolgreichsten Menschenrechtsanwälte und Träger des Alternativen Nobelpreises – wer könnte die Opposition einen?

Niemand, den Indien bisher kennt.

Klingt wie das Warten auf den Heiland.

Nein, nein, wir brauchen keinen Heiland. Keine einzelne Person. Sondern kleine Gruppen von jungen Menschen, von Männern und Frauen.

Vielleicht sogar eher von Frauen als von Männern?

Ja, auf jeden Fall eher von Frauen als Männern. Mit einem ganz anderen Denken. Mit nicht korrumpierbaren Ideen.

Es gibt eine Partei in Indien, die berühmt wurde, weil sie die Gesellschaft revolutioniert hat, weil sie mit für die Unabhängigkeit gekämpft hat: die Kongresspartei, die danach über Jahrzehnte regierte. Kann sie noch einmal eine solche Rolle spielen?

Nein. Deren Zeit ist um. Aus und vorbei. Da ist keine einzige Person mehr mit Integrität, niemand, der mit den Leuten eine Verbindung hätte. Nur noch die Fassade steht – innen ist alles ausgebombt.

Ein bisschen Optimismus zum Ende: Was ist gut in Indien?

Die Widerstandskraft der Menschen, die oft unglaublich arm sind, die nicht wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen – und die trotzdem jeden Tag aufstehen und nicht verzweifeln.

Und wird aus dieser Widerstandskraft auch Widerstand erwachsen? Wagen Sie noch einmal eine Prognose!

Ich glaube, dass es passieren wird. Ja, es wird passieren, wie ein magisches Feuer. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich es nicht mehr erleben werde. Aber es wird passieren.

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