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Attentate in Großbritannien: Putins späte Rache


Attentate in Großbritannien
Putins späte Rache

  • Jonas Mueller-Töwe
Von Jonas Mueller-Töwe

12.03.2018Lesedauer: 5 Min.
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Russlands Präsident Wladimir Putin: Verrätern drohte er unverhohlen mit dem Tod.Vergrößern des Bildes
Russlands Präsident Wladimir Putin: Verrätern drohte er unverhohlen mit dem Tod. (Quelle: Tatayana Makeyeva/getty-images-bilder)

Der Ex-Spion Sergei Skripal ist mutmaßlich nicht das erste Opfer eines russischen Feldzugs gegen Abtrünnige. 15 weitere Todesfälle sollen es allein in Großbritannien sein.

Was er von Verrat halte? Russlands heutiger Präsident Wladimir Putin schaut direkt in die Kamera. "Verräter werden verrecken. Vertrauen Sie mir." Ein kurzer Blick nach rechts, die Zunge fährt schnell über die Lippen, dann wieder der Blick nach vorn. "Diese Leute haben ihre Freunde verraten, ihre Waffenbrüder." Der ehemalige Geheimdienstler blickt für einen Sekundenbruchteil nach unten, dann ziehen sich die Augenbrauen zusammen. "Was immer sie dafür bekommen haben, diese 30 Silberstücke, sie werden daran ersticken."

Amnestie für einen Oberst

Es ist das Jahr 2010 – vor wenigen Monaten haben Russland und die USA gefangene Spione filmreif ausgetauscht. Russlands damaliger Präsident Medwedew hat für den Austausch auch einen Mann begnadigt, dem nachgesagt wird, dem russischen Geheimdienst den schwersten Schaden seit Jahrzehnten zugefügt zu haben: Sergei Skripal lieferte den Briten für 100.000 Dollar angeblich Hunderte Namen russischer Spione in Europa. Dennoch darf er im Juli 2010 die Strafkolonie südlich von Moskau schon nach vier Jahren verlassen. Der ehemalige Oberst der "Hauptverwaltung für Aufklärung" besteigt ein Flugzeug nach Wien. Von dort fliegt er gemeinsam mit drei anderen Spionen nach Großbritannien. Im Gegenzug lassen die USA zehn russische Agenten zurück nach Moskau fliegen.

Acht Jahre später, Anfang März 2018, brechen Skripal und seine erwachsene Tochter nach einem Restaurantbesuch vor einem Supermarkt im südenglischen Salisbury zusammen. "Ihre Augen waren einfach komplett weiß, weit geöffnet, Schaum vor dem Mund – der Mann wurde steif und seine Arme hörten auf sich zu bewegen", berichtet ein Augenzeuge dem Nachrichtensender "BBC". Ermittler werden ein seltenes Nervengift feststellen. Experten zufolge gibt es nur wenige Labore auf der ganzen Welt, die in der Lage sind, es herzustellen. Insgesamt 21 Personen müssen aufgrund des Anschlags ins Krankenhaus, ein Polizist schwebt in Lebensgefahr.

Die Verwicklung staatlicher russischer Stellen scheint höchstwahrscheinlich. Schlugen erneut Putins Agenten zu? Bereits im Jahr 2006 starb Alexander Litwinenko in London an einer Vergiftung. Für den Tod des übergelaufenen Spions machen Scotland Yard und ein Gericht die ehemaligen KGB-Spione Andrei Lugowoi und Dmitrii Kowtun verantwortlich. Sie hätten auf Anordnung des russischen Geheimdienstes gehandelt – wahrscheinlich mit Billigung des Präsidenten. Derzeit halten sich die Beschuldigten in Russland auf. Ein Auslieferungsersuchen wurde abgelehnt.

Auch im aktuellen Fall weist Russland jede Beteiligung zurück, spricht von einer "antirussischen Kampagne". Doch während der übergelaufene Agent Skripal, seine Tochter und ein Polizist weiter in einer Klinik um ihr Leben kämpfen, rückt eine Serie mysteriöser Todesfälle erneut in den Blick. Allein in Großbritannien könnte der russische Geheimdienst laut einer Recherche des Nachrichtenportals "BuzzFeed" 14 weitere Attentate verübt haben. Fast immer – so bezeugen US-Geheimdienstler und Ermittler – sei die britische Polizei den Todesumständen nur unzureichend nachgegangen und habe sogar Indizien und Beweise bewusst ignoriert, um die Beziehungen zu Moskau nicht zu gefährden. Das könnte sich nun ändern.

Ex-Scotland-Yard-Chef verlangt Aufklärung

"Ich bin klar der Meinung, dass dieser außergewöhnliche Fall ein guter Anlass ist, um zu sagen: Lasst uns noch mal einen genauen Blick darauf haben und schauen, ob es ein Muster gibt. Wenn Leute beim Joggen tot umfallen und in ihrem Haus in Surrey tot gefunden werden und so weiter", sagt der frühere Scotland-Yard-Chef Ian Blair gegenüber dem Radiosender "BBC 4". Dieselbe Forderung stellte im Parlament die Labour-Abgeordnete und Vorsitzende des Innenausschusses, Yvette Cooper. Denn nicht nur, dass neben Litwinenko 14 Menschen unter mysteriösen Umständen starben – laut den "BuzzFeed"-Recherchen standen sie auch miteinander in Kontakt.

Beispiel Nummer eins: Matthew Puncher. Er war der Forscher, der entdeckte, dass Litwinenko mit radioaktivem Polonium vergiftet wurde. Als Puncher 2014 starb, sei der Gerichtsmediziner zu dem Schluss gekommen, er habe sich selbst mit zwei Messern Stichwunden in Nacken, Armen, Brust und Unterkörper zugefügt, schreibt "BuzzFeed". Die Schlussfolgerung: Selbstmord.

Beispiel Nummer zwei: Alexander Perepilichnyy. Der russische Bankier floh nach Großbritannien, um eine 230 Millionen Dollar schwere Geldwäsche aufzudecken, in die russische Kriminelle und Offizielle gleichermaßen verstrickt waren. Nach Morddrohungen brach er 2012 beim Joggen zusammen. Die Polizei fand das unverdächtig, ein Experte fand jedoch Giftspuren. Die Akten werden aus Gründen "nationaler Sicherheit" unter Verschluss gehalten. US-Dienste gehen von Mord aus.

Beispiel Nummer drei: Igor Ponomarev. Der russische UN-Botschafter starb wenige Wochen nach Litwinenko. Laut "BuzzFeed" zeigte er in der Nacht seines Todes typische Symptome einer Vergiftung mit Thallium, einem bleiähnlichen Metall. Wenige Tage später hätte er sich mit einem privaten Ermittler getroffen – der ebenfalls mit Litwinenko in Kontakt stand und einer FSB-Spur nachging.

Ungeschriebene Gesetze gelten nicht mehr

Doch wie könnte der Fall Skripal in diese Reihe passen? Bislang galt laut Geheimdienstexperten das ungeschriebene Gesetz: Nachdem Überläufer all ihre Informationen dem fremden Dienst übertragen haben, sind sie kein Ziel mehr. Das scheint nicht mehr zu gelten. "In den letzten Jahren sind die Russen immer mehr bereit, ungeschriebene Gesetze des Spionagespiels zu verdrehen oder direkt zu brechen, die über Jahrzehnte hinweg Gültigkeit besaßen", schreibt Wissenschaftler Mark Galeotti für den "Telegraph". Der britische Historiker forscht und lehrt seit Langem zu organisierter Kriminalität und Geheimdiensten in Russland.

Es kursiert allerdings eine weitere Theorie: Möglicherweise sei Skripal nicht aus dem aktiven Dienst ausgeschieden, schreibt der "Telegraph". Vor seinem Tod habe ein Sicherheitsunternehmen Kontakt zu dem Ex-Agenten gesucht, das auch für das berühmte "Trump-Dossier" verantwortlich war – ein Dokument, das die Beziehungen zwischen US-Präsident Trump und Kreml-Chef Putin beweisen sollte, in weiten Teilen aber auf unsicheren Informationen beruht.

"Eine Warnung an alle Dissidenten"

Möglicherweise sei das Attentat aber auch einfach als Botschaft an andere Überläufer zu verstehen. "Es ist eine Warnung an alle anderen Dissidenten innerhalb der Sicherheitskräfte, dass es eine Weile dauern wird, aber: Wir kriegen dich", sagt der britische Sicherheitsanalyst Glenmore Trenear-Harvey zum Nachrichtensender "NBC News". Derzeit sitzt beispielsweise ein angeblicher russischer Geheimdienstmitarbeiter in deutscher Auslieferungshaft. Die russischen Behörden werfen ihm den Schmuggel von Kokain vor.

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Wie wird die britische Regierung auf den Anschlag reagieren? Am Montag tagte der Nationale Sicherheitsrat, diskutierte die bisherigen Ermittlungsergebnisse – und berief den russischen Botschafter ins Außenministerium ein. Russland sei für die Attacke "höchstwahrscheinlich" verantwortlich oder habe zugelassen, dass das Gift in fremde Hände gerate, sagte Premierministerin Theresa May im Anschluss vor Abgeordneten. Das vom Militär genutzte Mittel sei in Russland entwickelt worden. Bis Dienstag müsse sich Moskau äußern.

Ihre Rede vor Abgeordneten hatte etwas verspätet begonnen. Aufgrund eines verdächtigen Paketes sperrte die Polizei zwischenzeitlich das Parlament ab. Zwei Menschen seien vorsorglich ins Krankenhaus gebracht worden, teilte die Polizei mit.

"Die uns Gift servieren, werden es schließlich schlucken und sich selbst vergiften", antwortete Russlands Präsident Putin vor wenigen Tagen in einem Fernsehinterview, als er auf die Krim-Sanktionen angesprochen wurde. Selbstverständlich war dies nur eine Metapher – aber in Großbritannien kämpfen drei Menschen um ihr Leben. Und dafür soll Russland verantwortlich sein.

Verwendete Quellen
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