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Kinder als Propagandamaschinen: Russland schreckt vor nichts zurück


"Ich war angewidert"
Putin führt Krieg im Kindergarten

Von Liesa Wölm

12.05.2022Lesedauer: 6 Min.
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Russland: Im Vorfeld der Militärparade zogen kostümierte Kinder durch die Straßen – mit verstörenden Verkleidungen. (Quelle: t-online)

Russland hat beispiellose Schritte unternommen, um die Invasion der Ukraine vor dem eigenen Volk zu rechtfertigen. Sogar Kinder werden zu Propagandazwecken instrumentalisiert. Das Schulsystem lässt keinen Raum für Alternativen.

Die Aufnahmen wirken verstörend: Ein Kind trägt ein Panzerkostüm aus Pappe, versehen mit einem großen weißen "Z". Es führt eine Parade von Jungen und Mädchen an, die ebenfalls verkleidet sind: als Kriegsflugzeuge, Soldaten oder Krankenpfleger. Die Kinder sehen nicht älter aus als sechs.

Ein weiteres Video zeigt einen Kinderchor, der lautstark singt: "Wenn der Chefkommandeur zum letzten Kampf drängt, Onkel Wowa, dann sind wir mit dir!" – Onkel Wowa, damit ist der russische Präsident Wladimir Putin gemeint. Wowa ist eine Koseform seines Vornamens.

Die Bilder entstanden kurz vor den Feierlichkeiten zum "Tag des Sieges" am 9. Mai, an dem Russland an den Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg erinnert. In den Sozialen Medien sorgten die Aufnahmen für Empörung: "Wenn man mit Kindern spielt, um Kriegszwecke zu lehren, kann die Welt auseinanderfallen", hieß es unter anderem auf Twitter. Sehen Sie die Szenen oben im Video.

Doch die in einem Kindergarten nachgespielte Militärparade ist lediglich die Spitze des Eisbergs. Ein Blick auf das russische Schulsystem zeigt, dass die Kinder von klein auf gedrillt werden – und nahezu keine Wahl haben.

Nationalhymne zum Unterrichtsbeginn

Das Bildungsministerium, in Russland Aufklärungsministerium genannt, hat bereits Pläne, wie Schülerinnen und Schüler künftig schon in der Grundschule mit dem Thema Krieg vertraut gemacht werden sollen. Geschichte soll ab der ersten Klasse zum Pflichtfach werden. "Wir werden niemals zulassen, dass wir so dastehen, als hätten wir andere Staaten – unsere brüderlichen Nationen Ukraine und Weißrussland – irgendwie schlecht behandelt", sagte Bildungsminister Sergej Krawzow bei der Eröffnung einer Ausstellung mit dem Titel "Alltäglicher Nazismus" im April. "Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, damit die historische Erinnerung bewahrt wird."

Lehrende sollen im Unterricht den Einmarsch in die Ukraine rechtfertigen. Auch der Vorschlag, dass die Schulen ab September jeden Morgen die russische Flagge hissen und die Nationalhymne singen sollen, steht vonseiten des Aufklärungsministeriums im Raum. Berichten zufolge setzt ein russischer Schulbuchverlag eine Software ein, die positive Verweise auf die Ukraine aus den Schulbüchern entfernen soll.

Dass die geschichtlichen Fakten in Russland verdreht werden, um das eigene Land mit Ruhm zu überhäufen, ist nicht erst seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Problem. Einseitig werde auch mit den Ereignissen rund um den Zweiten Weltkrieg umgegangen, sagte die Historikerin Natalja Potapowa von der Europäischen Universität in St. Petersburg der "Wiener Zeitung". Der Krieg werde ausschließlich im Kontext des Sieges dargestellt: "Unsere Soldaten sterben und töten nicht, sondern vollbringen Heldentaten", sagt die Expertin. Seit Beginn der Invasion im Februar nehmen die russischen Erziehungsmethoden noch extremere Ausmaße an.

Sonderunterricht für siebte bis elfte Klassen

Der Druck auf das Schulpersonal ist enorm: Die Lehrenden erhalten Berichten zufolge Handbücher, "Metoditschki" genannt, deren Inhalte sie in Sonderunterrichtsstunden den Schülerinnen und Schülern zwischen der siebten und elften Klasse vermitteln sollen. Diese Inhalte bestehen jedoch nicht aus Fakten, sondern aus propagandistischen Ansichten.

Die Lehrkräfte werden demnach angewiesen, den Schülerinnen und Schülern zu erklären, dass Russland nicht in die Ukraine einmarschiert sei, sondern sich stattdessen in "Selbstverteidigung" übe. Die Invasion solle keinesfalls als Krieg, sondern als "spezielle friedenserhaltende Mission" bezeichnet werden. Je nach Schule werden die Sonderunterrichtsstunden deshalb auch "Friedensstunden" genannt.

Unklar, ob Handbücher verpflichtend sind

Die Ukraine habe den Handbüchern zufolge bis zum 20. Jahrhundert nicht als Nation existiert, 2014 habe es einen blutigen Staatsstreich im Donbass gegeben. Die selbsternannten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk, die kürzlich von Putin als unabhängig anerkannt wurden, seien acht Jahre lang einem "Völkermord" ausgesetzt gewesen, heißt es in den "Metoditschkis". Zudem wird in den Büchern Berichten zufolge davor gewarnt, dass die Ukraine, unter ihrer "rabiat antirussischen Führung", fähig sei, Atomwaffen zu bauen.

Die Handbücher seien bislang nicht verpflichtend, sagte ein Geschichtslehrer einer Moskauer Privatschule dem britischen "Guardian". Aber viele Lehrende und Verwaltungsangestellte an staatlichen Schulen haben sich offenbar aus eigenem Antrieb dazu entschieden, sie zu nutzen – entweder, weil sie den Krieg unterstützen oder weil sie denken, "der große Bruder", also Kremlchef Putin, schaue zu. Zudem müsse nachgewiesen werden, dass der Unterricht so gestaltet wird, dass er mit den Propagandainhalten übereinstimmt. Eine Schule berichtete dem Nachrichtenportal "Al Jazeera" hingegen, dass die Lehrkräfte keine andere Wahl hätten, als die Inhalte der Handbücher im Unterricht durchzunehmen.

Fotoshootings mit den Buchstaben "Z" und "V"

Auch in Vorschulen sollen Mitarbeitende dazu gezwungen werden, Kleinkindern beizubringen, die russische "Spezialoperation", wie der Krieg in Russland genannt werden muss, zu unterstützen. Erzieherinnen und Erzieher werden Berichten zufolge angewiesen, mit den Kindern an "patriotischen" Aktivitäten teilzunehmen. Dazu gehört etwa das Zeichnen von militärischem Gerät, das Besprühen von Schnee mit russischen Flaggen, Unterricht über Präsident Putin und Fotoshootings mit den Buchstaben "Z" und "V", die zu Loyalitätssymbolen mit der russischen Invasion geworden sind.

Auf Twitter kursiert ein Bild, das in einem Kinderhospiz in Russland aufgenommen worden sein soll. Die jungen Patientinnen und Patienten bilden darauf ein "Z":

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Eine Kindergärtnerin aus Nischni Nowgorod berichtete dem US-Magazin "Vice", einige ihrer Kolleginnen hätten die Kinder angewiesen, Zeichentrickfiguren zu erfinden, die einen "bösen Feind" besiegen könnten. "Ich bin kategorisch dagegen", sagte die Frau. Solch militärisch-patriotische Arbeit sei für Kinder in diesem Alter inakzeptabel. Ebenso schockierend sind Fotos, die in einem russischen Kindergarten aufgenommen worden sein sollen – von Soldaten, die Kindern ihre Waffen präsentieren und erklären.

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Lehrkräfte müssen mit Konsequenzen rechnen

Zu Beginn der russischen Invasion haben "Vice" zufolge rund 5.000 Lehrkräfte im Westen des Landes ein Protestschreiben unterzeichnet, das sich dagegen ausspricht, die russische Invasion zum Unterrichtsgegenstand werden zu lassen. Eine von ihnen sagte dem Medium, sie habe den örtlichen Behörden deutlich gemacht, dass sie nicht mehr an der Schule arbeiten würde, wenn man sie aufforderte, diese Art von Unterricht durchzuführen.

Doch Mitarbeitende, die sich gegen die Propagandakampagne der Regierung stellen und den Angriffskrieg öffentlich kritisieren, müssen ohnehin mit schwerwiegenden Konsequenzen rechnen: weniger Gehalt oder gar einer Entlassung, heißt es in Berichten von Betroffenen.

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Neben protestierendem Lehrpersonal stellen sich auch manche Eltern gegen die patriotische Erziehung. Ein Vater in St. Petersburg, der von dem Sonderunterricht seines Sohnes erfuhr, sagte dem britischen "Guardian", er habe der Schule gesagt, dass es "lächerlich" sei. "Wir sind die Eltern, und wir sind es, die den Kindern etwas über Patriotismus und die 'besondere Operation' erzählen sollten, nicht die Schulen", so der Mann. Er sei besonders wütend über Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg, die er als "unverzeihlich" bezeichnete. Die Lehrenden hätten mit den Schultern gezuckt und gesagt, dass dies die Anweisungen seien. "Ich war angewidert", sagte der Vater der Zeitung.

"Wir werden eine Lektion über den Weltfrieden erhalten"

Anfang März, wenige Tage nach Beginn der Invasion, sorgte in Russland außerdem ein Aufklärungsvideo für Kinder zur "Spezialoperation" in der Ukraine für Aufsehen. In dem 30-minütigen Video des Bildungsministeriums spricht eine 12-jährige Sängerin mit zwei Moderatoren. In der Einleitung sagt sie: "Wir werden eine Lektion über den Weltfrieden erhalten."

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Youtube

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Der Moderator Denis Polunchukov erklärt dem Kinderstar, dass viele Bilder, die im Internet über den Einsatz in der Ukraine kursieren, in Wirklichkeit von anderen Konflikten stammten. Einige Aufnahmen seien sogar aus Computerspielen. Er warnt vor Desinformation im Internet und merkt an, dass Kinder nicht allen Fotos im Netz Glauben schenken sollten. Als Beispiele für Fehlinformationen nennt er Behauptungen, wonach Raketen in einen ukrainischen Kindergarten eingeschlagen oder Flugzeuge aus dem Himmel geschossen worden seien. Aufnahmen aus dem Kriegsgebiet beweisen jedoch, dass es sich nicht um falsche Informationen handelt – sondern um die Realität.

Zudem rechtfertigen die Moderatoren die russische "Militäroperation": Man müsse Frauen und Kinder in der Ostukraine schützen. Die Nato wird in dem Video als Aggressor dargestellt – also so, wie es auch Kremlchef Putin in seinen Propagandareden kommuniziert. Die Vereinigten Staaten seien Kriegstreiber, sagen die Moderatoren.

"Der Sieg wird unser sein"

Auch russische Politiker sollen in Schulen die Überlegenheit Russlands gegenüber der Ukraine propagieren. Andrej Turtschak, Vorsitzender der Regierungspartei Einiges Russland, sagte bei einem Besuch zu den Schülerinnen und Schülern: "Der Sieg wird unser sein." Der Feind werde besiegt und es werde ein friedliches Leben auf dieser Erde geben. "Wir werden dieses Gebiet befreien und von den faschistischen Dämonen säubern", so Turtschak dem "Guardian" zufolge.

Mit Blick auf die Erziehungsmethoden verwundert es nicht, dass der Krieg in der Ukraine bei vielen erwachsenen Russinnen und Russen auf Zustimmung stößt – und dass sich ein so großer Teil der Bevölkerung Wladimir Putin beugt.

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