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Skandal in Ukraine: Haben Sie Vergewaltigungen erfunden, Frau Denisowa?


Skandal in der Ukraine
Haben Sie Vergewaltigungen erfunden, Frau Denisowa?

  • Daniel Mützel
InterviewVon Daniel Mützel

23.07.2022Lesedauer: 7 Min.
Interview
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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Ljudmyla Denisowa, die ehemalige Ombudsfrau für Menschenrechte, sieht sich von der Selenskyj-Regierung getäuscht.Vergrößern des Bildes
Ljudmyla Denisowa, die ehemalige Ombudsfrau für Menschenrechte, sieht sich von der Selenskyj-Regierung getäuscht. (Quelle: Alexander Reka/Tass)

Die frühere Ombudsfrau des ukrainischen Parlaments wurde wegen ihrer Äußerungen über Vergewaltigungen entlassen. Nun schießt Ljudmyla Denisowa zurück.

Dass russische Soldaten in der Ukraine Frauen, Kinder und Männer misshandeln, ist belegt. Ein Skandal aber spaltet die Ukraine: Eine Menschenrechtsbeauftragte soll Fälle geschildert haben, die es nie gab, wie die ukrainische Onlinezeitung "Ukrajinska Prawda" berichtete. Bereits zuvor war Ljudmyla Denisowa vom ukrainischen Parlament entlassen worden. Mehr dazu lesen Sie hier.

Denisowa hatte später zugegeben, übertrieben zu haben. Nun aber will sie davon nichts mehr wissen. Im Interview mit t-online spricht sie über ihre frühere Arbeit, über angeblich politische Motive hinter ihrer Entlassung und darüber, wie es für sie weitergeht.

t-online: Frau Denisowa, haben Sie der Ukraine geschadet?

Ljudmyla Denisowa: Nein, wieso?

Das wirft Ihnen der Abgeordnete Pavlo Frolov von den Dienern
des Volkes vor, der Partei von Präsident Selenskyj. Sie hätten Ihre Aufgaben vernachlässigt und verbreiteten Informationen über "unnatürliche Sexualverbrechen" russischer Truppen. Das Parlament entließ Sie Ende Mai.

Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe seit 2021 kein gutes Verhältnis zum Präsidenten, weil ich sein sogenanntes Anti-Oligarchengesetz kritisierte. Aus meiner Sicht verstieß es gegen die ukrainische Verfassung. Seitdem wollten Selenskyjs Leute mich loswerden. Meine Entlassung war ein abgekartetes Spiel. Dagegen klage ich.

Nicht nur in der Politik war man über Ihr Auftreten empört: Ukrainische Journalistinnen forderten Sie in einer Petition auf, sprachlich abzurüsten. Ihre Berichte über Kleinkinder, die von russischen Soldaten mit Kerzen und Teelöffeln vergewaltigt worden sein sollen, seien "skandalisierend".

Tu, was Du tun musst, was immer auf Dich zukommen mag – nach diesem Prinzip arbeite ich. Die Welt muss von diesen grausamen Verbrechen erfahren. Viele internationale Medien besuchten nur wegen meiner Schilderungen die Tatorte und berichteten über diese Verbrechen.

Sie wurden mehrfach gebeten, nicht öffentlich über Fälle zu sprechen, für die es keine Beweise gibt.

Wir sind im Krieg. Russland tötet jeden Tag, vergewaltigt, vernichtet Existenzen. Wenn mir Opfer die grausamsten Dinge erzählen, schweige ich nicht und warte, bis die Strafverfolgungsbehörden genug Beweise gesammelt haben, falls sie überhaupt so weit kommen.

Wäre das nicht das korrekte Verfahren?

Ich bin keine Staatsanwältin. Als Ombudsfrau im Auftrag des ukrainischen Parlaments war es meine Aufgabe, Ansprechperson für Betroffene zu sein und auf die Kriegsverbrechen aufmerksam zu machen.

Ohne Beweise bleiben die Täter straffrei. Stören Sie nicht die Ermittlungsarbeit der Polizei, wenn Sie öffentlich Details ausplaudern?

In vielen Fällen gibt es gar keine Ermittlungen. In der Region Tschernihiw wurden zum Beispiel zahlreiche Männer missbraucht. Die gehen nicht zur Polizei, weil sie sich schämen. Auch viele betroffene Frauen fühlen sich nach einer Vergewaltigung gedemütigt. Die EU-Menschenrechtskommissarin Dunja Mijatović erzählte mir, dass Missbrauchsopfer im Bosnienkrieg in den 1990er Jahren teilweise erst 30 Jahre später zu den Behörden gehen.

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Für die Überlebenden kann es retraumatisierend sein, wenn ihre Geschichte medial breitgetreten wird.

Ich habe nie etwas ohne die ausdrückliche Zustimmung der Opfer gesagt. Sie waren es, die mich baten, die Welt über die Gräueltaten der russischen Armee zu informieren. Mir ging es darum, Politiker, Meinungsführer und Regierungen anderer Länder dazu zu bewegen, der Ukraine die Waffen und Hilfen zu liefern, die sie dringend benötigt. In diesem Moment findet ein Genozid an den Ukrainern statt. Wir brauchen die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, uns Waffen zu liefern und Sanktionen gegen Russland zu verhängen.

Haben Sie aus Ihrer Sicht damit Erfolg gehabt?

Im April hielt ich zum Beispiel eine Rede im italienischen Parlament, wo ich den Abgeordneten auch sehr grausame Fälle von sexuellem Missbrauch geschildert habe. Glauben Sie, da war einer dabei, der währenddessen auf sein Handy geschaut hat? Kein einziger. Hinterher hat Italien die richtige Entscheidung hinsichtlich neuer Waffenlieferungen getroffen.

Ich hatte 67 internationale Treffen und sprach Dutzende Male vor Parlamenten anderer Staaten. Das ist mein Beitrag dazu, dass die internationale Gemeinschaft uns jetzt mit Militärhilfen unterstützt.

Finden Sie es angemessen, Fälle schwerster Vergewaltigungen als politisches Druckmittel zu benutzen?

Ich habe nur ausgesprochen, was mir die Opfer mitgeteilt haben und wofür sie mir ihre Zustimmung gegeben haben. Ich habe an keiner Stelle gelogen oder übertrieben. Sicher, die Darstellung der Fälle war brutal. Aber wie sagte Machiavelli, der Zweck heiligt die Mittel.

In Butscha sollen russische Soldaten rund 25 Mädchen und Frauen in einen Keller gesperrt und über Wochen vergewaltigt haben. Mädchen sollten "kaputtgemacht" werden, sodass sie keine ukrainischen Kinder mehr gebären könnten. Der Bericht stammt von Ihnen, er machte weltweit Schlagzeilen. Laut Aussagen der Staatsanwaltschaft der Region Kiew zu t-online konnten keine Beweise dafür gefunden werden. Gab es diesen Keller?

Ja, laut meinen Informationen gab es ihn. Das waren die ersten Nachrichten, die ich von Betroffenen erhalten hatte. Die Mädchen schrieben mir auf Facebook und fragten nach Hilfe.

Auf Facebook? Wurden Sie da nicht skeptisch?

Natürlich, Facebook-Accounts sind natürlich schwer zu verifizieren. Aber die Darstellungen waren glaubhaft. Einige der Mädchen sind jetzt schwanger. Als die Geschichte in den Medien auftauchte, verschwanden viele der Opfer. Manche sind in Deutschland, Polen oder Rumänien. Sie warteten nicht in Butscha auf die Ermittler.

Im Mai berichteten Sie von einer anderen schauerlichen Tat: Zweijährige Zwillinge in der Region Cherson sollen vor den Augen ihrer Mutter vergewaltigt worden sein. Sie sollen an Knochenbrüchen und Blutverlust gestorben sein. Laut einem Artikel in der "Ukrainska Pravda" ermittelte die Polizei in dem Fall, fand aber keine Opfer.

Es gibt definitiv ein Problem bei den ukrainischen Strafverfolgungsbehörden. Sie machen ihren Job nicht richtig. Entweder finden Ermittler keine Beweise oder können sie konkreten Straftaten nicht zuordnen. Die Behörden sind einerseits überlastet: Auf einen Ermittler kommen etwa 200 Kriegsverbrechen.

Andererseits herrscht auch eine Kultur der Nachlässigkeit. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Am 8. April habe ich von einer Person Informationen über Straftaten erhalten, die rund 40 Kinder betrafen. Es ging um sexuelle Belästigung und Vergewaltigung. Einen Tag später habe ich diesen Fall an die Generalstaatsanwaltschaft weitergeleitet. Bis zu meinem letzten Tag im Amt am 31. Mai erhielt ich keine Antwort. Was ist da los? Auch der Internationale Strafgerichtshof wird schon ungeduldig mit den ukrainischen Ermittlern.

Die Strafverfolgungsbehörden nahmen den Fall aus Cherson und die nicht gefundenen Opfer zum Anlass, Sie zu verhören. Man warf Ihnen vor, Vergewaltigungen erfunden zu haben. Haben Sie?

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Nein, ich habe nichts erfunden. Nur eine kranke Person würde das tun. Der Artikel in der "Ukrainska Pravda" war beschämend, eine bezahlte Intrige. Meine politischen Gegner brauchten einen Grund, um meine Entlassung zu rechtfertigen. Ja, ich wurde verhört, aber als Zeugin. Ermittler der Generalstaatsanwaltschaft haben mich am 30. Mai befragt. Ich habe meine Unterlagen übergeben und die Fälle, die wir gesammelt hatten. Danach habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Es gibt keine Ermittlungen gegen mich, keine weiteren Verhöre.

Aber das Parlament hat Sie einen Tag später gefeuert.

Das war politisch motiviert, wie ich bereits erklärt habe.

Sonya Lukashova, die den Artikel recherchiert hat, enthüllte auch, dass Ihre Informationen meist von Ihrer Tochter kamen. Sie arbeitete bei einer Hotline, die Opfern psychologische Hilfe anbot. Lukashova schreibt, in Ihrer Vernehmung hätten Sie gestanden, von neuen Fällen "beim Tee" erfahren zu haben.

Es ist richtig, meine Informationen stammen von den Mitarbeitern der Hotline, unter anderem von meiner Tochter. Natürlich saß ich als Ombudsfrau nicht selbst am Telefon. Das Hilfstelefon, um das es geht, stand zudem unter dem Schirm von Unicef, das für das
Personal verantwortlich war und technische Unterstützung bereitstellte. Das Büro der Ombudsfrau hatte eine separate Hotline.

Eine bekannte ukrainische Website, der Kontakte in ukrainische Sicherheitskreise nachgesagt werden, hat Lukashova als russische Agentin diffamiert. Die Journalistin erhält sogar Morddrohungen.

Damit habe ich nichts zu tun. Ich bin seit Langem im Geschäft und gegen solche politischen Angriffe geimpft. Ich kenne die Person nicht und sie hat mich auch nicht kontaktiert.

Kritik an der Unicef-Hotline regte sich auch aufgrund der mangelnden Dokumentation: Es war unklar, wer anrief, worum genau es ging, an welche Ärzte die Betroffenen weitergeleitet wurden oder ob die Polizei eingeschaltet wurde.

Viele der Anrufer wollten anonym bleiben. Die Fälle, die dokumentiert werden konnten, wurden dokumentiert. Wenn Betroffene sich an die Polizei wenden wollten, wurde ihnen natürlich geholfen.

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Schon bei der Zahl der Anrufe wird es mysteriös: Offiziell gab es 1.040, die Hälfte davon zu sexuellem Missbrauch. Aber als die Polizei die Telefonprotokolle überprüfte, kam sie nur auf 92.

Ich weiß nicht, wie die Polizei auf die Zahl kommt. Die Hotline hatte mehrere Mitarbeiter. Es kamen über 1.000 Anrufe zwischen dem 1. April und dem 15. Mai, etwa auch von Menschen, die Suizid begehen wollten. Wir reden hier von fast 400 Betroffenen, 100 davon Kinder.

Noch mal: Nicht alle wollten eine Straftat melden oder wünschten, dass ihr Fall dokumentiert wird. Viele Menschen riefen an, weil sie psychologische Hilfe brauchten. Andere wollten, dass ihre Geschichten erzählt werden, damit Russland bestraft wird. Das war das Ziel. Darum habe ich öffentlich darüber gesprochen. Verstehen Sie?

Ihre Kritiker entgegnen, dass die Verbreitung ungeprüfter Informationen eher schadet als nützt, auch wenn das mit den besten Absichten geschieht.

Wenn die internationale Gemeinschaft nicht reagiert, wird die sexuelle Gewalt gegen unser Volk weitergehen. Es ist bekannt, dass Vergewaltigungen von den Russen als Waffe eingesetzt werden. Was glauben Sie, was in den temporär besetzten Gebieten geschieht? Sie missbrauchen Frauen und Männer, um sie zu demütigen, damit sie keinen Widerstand leisten. Auch bei den ukrainischen Soldaten in russischer Gefangenschaft kommt es immer wieder zu Vergewaltigungen und Folter. Ihre Würde soll vernichtet werden.

Was haben Sie jetzt vor?

Abwarten, wie die Klage gegen meine Entlassung ausgeht. Mit oder ohne Amt setze ich meine Arbeit fort. Ich habe die NGO Ukrainisches Zentrum für den Schutz von Menschenrechten gegründet und werde weiterhin alles tun, um ukrainische Bürger zu schützen.

Frau Denisowa, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Ljudmyla Denisowa
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