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Israelische Armee | Ex-Sprecher: "So etwas gab es noch nie"


Ex-Sprecher der israelischen Armee
"So etwas gab es noch nie"

  • David Schafbuch
InterviewVon David Schafbuch

Aktualisiert am 08.10.2023Lesedauer: 5 Min.
Interview
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Aufnahmen zeigen, wie die Hamas in israelisches Gebiet eindringt. (Quelle: t-online)

Arye Shalicar wuchs in Berlin auf, wanderte später nach Israel aus und wurde Sprecher der israelischen Armee. Wie hat er die jüngsten Angriffe aus dem Gazastreifen erlebt?

Der heutige Samstag ist in Israel eigentlich ein hoher Feiertag. Doch statt in Ruhe das Fest Simchat Tora begehen zu können, wurde das Land von einem großangelegten Angriff aus dem Gazastreifen überrascht: Tausende Raketen wurden innerhalb weniger Stunden abgefeuert, die Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad drangen mit Truppen in das Land ein. "Wir befinden uns im Krieg", sagte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Morgen. Die jüngsten Ereignisse lesen Sie in unserem Newsblog.

Arye Shalicar ist mit dem israelischen Militär vertraut. Der Sohn persisch-jüdischer Eltern wuchs in Berlin auf, diente nach seinem Schulabschluss bei der Bundeswehr und wanderte später nach Israel aus, wo er zwischen 2009 und 2016 Pressesprecher der israelischen Armee (IDF) war. t-online erreicht ihn telefonisch am Tag des großen Angriffes aus dem Gazastreifen in der Nähe von Tel Aviv.

t-online: Herr Shalicar, die Hamas und der Islamische Dschihad haben am Samstag eine Offensive gegen Israel gestartet. Viele Medien sprechen von einem Überraschungsangriff, wie überrascht waren Sie?

Arye Shalicar: Ich hatte nicht erwartet, dass ich mich heute in einer Art Kriegssituation befinden werde. Es sind ja nicht nur Tausende Raketen innerhalb von wenigen Stunden eingeschlagen. Einige Dutzend Terroristen sind auch auf Pickup-Trucks in Israel eingedrungen und haben teilweise ganze Dörfer in ihre Gewalt gebracht. Menschen wurden ermordet, misshandelt und entführt. Das ist schon sehr gruselig. So etwas gab es noch nie – zumindest nicht, seit sich Israel 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen hat. Deshalb war ich einerseits sehr überrascht.

Und andererseits?

Man weiß natürlich, dass es früher oder später wieder zu einer Konfrontation mit der Hamas und dem Islamischen Dschihad kommen musste. Die Gruppen bereiten sich im Gazastreifen tagtäglich darauf vor.

Waren die Angriffe in Ihrem direkten Umfeld spürbar?

Ein Teil meiner Familie lebt im Süden Israels, der besonders von den Attacken betroffen ist. Gestern noch war ich Aschkelon, das nördlich an den Gazastreifen grenzt. Zum Glück wurde bisher niemand aus meinem engsten Kreis ermordet oder entführt. Aber im entfernteren Kreis gibt es Menschen, die von den Angriffen betroffen waren. Israel ist ein kleines Land. Deshalb kennt man sich und der Terror ist greifbar.

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(Quelle: Uwe Steinert/imago images)

Zur Person

Arye Sharuz Shalicar, geboren 1977, ist ein deutsch-israelischer Schriftsteller und Regierungsbeamter. Als Jugendlicher war er unter anderem in der Berliner Graffiti-Szene aktiv. Nach seinem Abitur und Dienst bei der Bundeswehr wanderte er nach Israel aus. Von 2009 bis 2016 war er Sprecher der israelischen Armee und ist noch bis heute Reservist. Seit 2017 ist er Abteilungsleiter mit Sitz im Büro des israelischen Ministerpräsidenten. Sein autobiografischer Roman "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude" wurde 2021 verfilmt.

Die Terroristen sollen über Land, See und aus der Luft angegriffen haben. Videos zeigen, wie manche von ihnen mit Gleitschirmen nach Israel gekommen sind. Wie ist es möglich, dass ein Land, in dem die Sicherheit eine so zentrale Rolle spielt, über so viele Wege angegriffen werden kann?

Die israelische Armee weiß, wer diese Gruppen sind und was sie vorhaben. Deshalb werden Hamas, der Islamische Dschihad, aber auch das Mullahregime im Iran und die Hisbollah im Libanon immer beobachtet. Aber es hat wohl die entscheidende Information gefehlt, dass an einem hohen Feiertag zugeschlagen wird – fast genau so wie vor 50 Jahren, als der Jom-Kippur-Krieg ausbrach. Das ist kein Zufall. Ich glaube, wir müssen in Israel jetzt unsere Hausaufgaben machen.

Das heißt, die israelischen Geheimdienste haben versagt?

Absolut. Die Aufklärung der Luftwaffe, der Militär- und Inlandsgeheimdienst und viele andere Einheiten haben den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als diese Organisationen zu beobachten. Für die Terroristen ist der heutige Tag deshalb ein Sieg. Aber auf lange Sicht wird es in Israel wieder ruhiger sein. Die Palästinenser werden dagegen weiter leiden, weil sie immer wieder auf Konflikt, Krieg und Terror setzen.

Auch die viel beachtete israelische Raketenabwehr konnte offenbar heute nicht helfen. Wie kann das sein?

Man kann nicht mehrere tausend Raketen abfangen, die innerhalb weniger Stunden abgefeuert werden. Der Iron Dome fängt aber auch nur die Geschosse ab, die auf sehr dicht besiedelte Gebiete zielen. Außerdem hilft die Raketenabwehr nichts, wenn Terroreinheiten auf Pickup-Trucks in Israel eindringen. Dagegen bräuchte man einen stabilen Zaun und dahinter viele Sicherheitskräfte. Beides war nicht vorhanden. Im Endeffekt wird Israel diese Gruppen besiegen können. Aber der heutige Tag hat eine Wunde gerissen – und diese Wunde ist tief.

Es gibt verschiedene Berichte über Geiselnahmen. Was könnte das Kalkül dahinter sein?

Wir wissen nicht, wie viele der Aufnahmen echt sind. Aber wir kennen dieses Vorgehen aus der Vergangenheit: 2011 wurden mehr als 1.000 palästinensische Häftlinge gegen einen israelischen Soldaten eingetauscht. Die Hamas hielt ihn insgesamt fünf Jahre gefangen.

Das israelische Militär geht jetzt im Gegenzug mit Luftschlägen auf den Gazastreifen vor. Kritiker werfen Israel dann häufig vor, man würde der Hamas alles mit der gleichen Brutalität zurückzahlen.

Die Raketen aus dem Gazastreifen haben kein anderes Ziel als Menschen zu ermorden und Schaden anzurichten. Die israelische Luftwaffe versucht dagegen, gezielt Terroristen oder Einrichtungen, die von ihnen genutzt werden, anzugreifen. Solche Ziele hat der Militärgeheimdienst jahrelang gesammelt, um in einer solchen Situation dagegen vorzugehen. Aber ich gehe stark davon aus, dass es nicht bei Luftschlägen bleiben wird.

Was kommt dann: ein Einsatz von Bodentruppen?

Das könnte eine Option sein. Möglich wären auch gezielte Angriffe auf die Köpfe der Terrorgruppen oder sie vollständig zu zerstören. Das Problem ist nur: Was passiert dann? Die Menschen im Gazastreifen sind die Führung der Hamas und des Islamischen Dschihad gewohnt. Dieses Regime zu beenden ist sehr schwierig.

Es heißt häufig, dass die Hamas auf der Liste der Feinde Israels nicht der größte Name ist: Der Fokus liegt vor allem auf dem Iran und auf der Hisbollah. Wurde die Hamas unterschätzt?

Man muss sich das wie ein Dreieck vorstellen: Gaza mit Hamas und Islamischen Dschihad auf der einen Seite, die Hisbollah im Libanon und das iranische Regime auf den anderen beiden Seiten. Die Spitze dieses Dreiecks liegt in Teheran: Der Iran bildet die Elitetruppen von Hamas, Islamischen Dschihad und Hisbollah aus. Auch das meiste Geld kommt von dort. Der Chef der Hisbollah sprach schon lange davon, israelische Orte zu besetzen und Menschen zu entführen. Exakt das ist heute eingetreten – nur waren andere Terrorgruppen am Werk. Das zeigt, wie eng diese Gruppen verbunden sind.

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Das israelische Militär hat bereits Reservisten eingezogen. In den vergangenen Monaten hatten mehr als zehntausend von ihnen angekündigt, wegen Reformen an der Justiz den Dienst zu verweigern. Wie haben Sie als Reservist die Debatte wahrgenommen?

Das ist im Moment überhaupt kein Thema. Politiker aus dem sehr linken Spektrum hatten die Regierung zuletzt hart kritisiert. Heute habe ich einige von ihnen in Uniform gesehen. Wenn von außen der Terror kommt, steht Israel zusammen – und das ist auch richtig so. Der Konflikt um die Justiz wird erst wieder aufflammen, wenn es um Israel herum ruhiger wird.

Wie gehen Sie damit um, bald möglicherweise wieder im Militär aktiv zu sein?

Ich wäre dann wieder als Sprecher des Militärs tätig, aber bei den letzten Konflikten mit der Hamas war ich selbst im Gazastreifen unterwegs. Es wäre gelogen, wenn ich sage, ich habe keine Angst. Krieg ist eine sehr unschöne Situation. Ich möchte leben. Deshalb habe ich manchmal ein mulmiges Gefühl. Andererseits erfüllt es mich, die Uniform zu tragen und Israel zu dienen – und dieses Gefühl überwiegt.

Herr Shalicar, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Arye Shalicar
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