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Die USA und ihre Sünden: Eine Wahrheit, die wehtut


Eine Wahrheit, die wehtut
Die Sünden der USA

MeinungEine Kolumne von Fabian Reinbold, Washington

06.06.2021Lesedauer: 6 Min.
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US-Präsident Joe Biden besucht zum Jahrestag des Massakers die Stadt Tulsa.Vergrößern des Bildes
US-Präsident Joe Biden besucht zum Jahrestag des Massakers die Stadt Tulsa. (Quelle: Carlos Barria/reuters)

Macht sich Amerika doch noch ehrlich? Eine mächtige Bewegung zerrt die Folgen der amerikanischen Ursünde an die Öffentlichkeit. Doch das passt so gar nicht zum Selbstbild der USA.

Die Woche in Washington stand im Zeichen eines düsteren Jahrestages. Das Massaker von Tulsa jährte sich zum hundertsten Mal. Tagelang große Dokumentation auf allen Kanälen, Festveranstaltungen, der Präsident war vor Ort.

Tulsa? Kannten Sie gar nicht? Haben Sie in diesen Tagen zum ersten Mal gehört? Dann geht es Ihnen wie den allermeisten Amerikanern.

Das größte Massaker eines Mobs weißer Amerikaner an ihren schwarzen Mitbürgern ist aus dem kollektiven Gedächtnis der Amerikaner ausradiert worden. Ebenso wie aus der allgemeinen Geschichtsschreibung.

Ich selbst habe einst US-Geschichte studiert, viele Semester lang und an einem hervorragenden Institut, aber vom Massaker von Tulsa hatte ich, wenn ich mich richtig erinnere, dabei nie gehört.

Erst vor anderthalb Jahren habe ich mich damit beschäftigt, ausgelöst durch die so abgefahrene wie hervorragende HBO-Serie Watchmen, die die Geschichte des Massakers in eine alte Comic-Superhelden-Welt einbettet (auch falls das ebenso wenig Ihr Genre ist wie meins: Empfehlung!). Tom Hanks, der Hollywoodstar und Hobbyhistoriker, schrieb in der "New York Times", er habe erst durch einen Artikel vor einem Jahr überhaupt von dem Vorfall erfahren.

Die Erkenntniswege der Herren Hanks und Reinbold sind typisch: Seit einigen Jahren ist es die Unterhaltungsindustrie, die den Amerikanern die zugekleisterte Geschichte rassistisch geprägter Gewalt ins Bewusstsein spült. Und nach dem Tod George Floyds gab es in den Medien plötzlich viel Raum für solche Ereignisse aus der Vergangenheit.

Jede Nation hat ihre Schwierigkeiten, mit den dunklen Seiten der Vergangenheit umzugehen. In den USA fällt das Problem aus zwei Gründen etwas dramatischer aus. Zum einen hat die Ursünde der Sklaverei und ihr Nachbeben die Nation bis heute geprägt. Wer mit offenen Augen durch das Land geht, kann das nicht übersehen. Zum anderen sehen viele Amerikaner ihr Land als Ausnahmeerscheinung, als Kraft des Guten, als "greatest country on earth". Da passen Ereignisse wie in Tulsa schlecht ins Selbstbild.

Dort geschah, in aller Kürze, folgendes: Afroamerikaner hatten im Zuge des Ölbooms in Oklahoma Anfang des 20. Jahrhunderts ein Geschäfts- und Wohnviertel mit enormem Wohlstand aufgebaut, man sprach von der "Schwarzen Wall Street". Es war ein seltener Ort, an denen der American Dream auch für Schwarze Realität schien. Missgunst und Hass entluden sich, als ein Schwarzer verdächtigt wurde, eine weiße Frau belästigt zu haben. Ein Mob aus Weißen plünderte das Viertel, brannte Häuser, Geschäfte und gar das Krankenhaus nieder, tötete nach neuen Schätzungen dreihundert Schwarze. (Hier habe ich die Vorfälle etwas ausführlicher beschrieben.) Das ist die historische Wahrheit.

Die Probleme legten sich die Vereinigten Staaten bekanntlich selbst in die Wiege. Der wunderbare Satz der Unabhängigkeitserklärung, es sei offenkundig, "dass alle Menschen gleich geschaffen" worden seien und bestimmte unveräußerliche Rechte genössen, "darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glück" stammte von Thomas Jefferson, der diese Gleichheit seinen Sklaven versagte und dank ihrer Arbeit auf seiner Plantage Monticello ein sehr reicher Mann wurde.

Im National Museum of African American History and Culture sieht man Jefferson deshalb vor einer Wand mit den Namen vieler seiner insgesamt 609 Sklaven. Das Museum der Schwarzen ist ein wichtiger Ort für dieses Thema. Seit fünf Jahren steht es mitten auf Washingtons National Mall und präsentiert dort manche unangenehme Wahrheit wie die über Tulsa.

Ich sprach nach dem Besuch den Kurator des Museums. Er hatte vor der Öffnung des Museums viele Befragungen durchgeführt, wie sie dieser Geschichte gerecht werden könnten. "Das Thema Nummer eins, über das die Leute etwas erfahren wollten, war Sklaverei", sagte Paul Gardullo am Telefon. "Und das Thema Nummer eins, worüber sie nichts mehr hören wollten, war ebenfalls Sklaverei." Das fasst Amerikas Dilemma mit seiner Vergangenheit gut zusammen.

Gardullo hatte vor ein paar Jahren bereits eine kleine Ecke im Museum dem Tulsa-Massaker gewidmet. Der Umgang damit ist für ihn ein Sinnbild. "In Amerika haben wir diesen breiten Impuls zu unterdrücken, zu umschiffen und zu vergessen. Das ist keine Stärke unseres Landes."

Selbst vor Ort in Tulsa, so Gardullo, hätte man das Thema einfach totgeschwiegen. Generationen hätten nicht gewusst, was in ihrer Stadt passiert sei, falls sie es nicht in der Familie mitgeteilt bekommen hätten. Stoff im Geschichtsunterricht ist es erst seit 2020.

Das dunkle Herz des Museums liegt im Keller, wo Beton dominiert und die Wege eng sind: Dass sich Beklemmung einstellt, ist gewünscht. Die Frage der Sklaverei war die wichtigste der jungen Nation, ständig wurde darum gefeilscht, zwischendrin wurden Sklaven mal zu drei Fünfteln gezählt, um bei Wahlen ihren Herren mehr Einfluss zu verschaffen.

Dann war die Sklaverei nach dem Bürgerkrieg offiziell vorbei. Jetzt entwickelte man insbesondere im Süden großen Erfindungsreichtum, wie man die befreiten Sklaven als Bürger zweiter Klasse kleinhalten konnte. Man erfand Wissenstests im Wahllokal, um die Stimmabgabe zu verhindern. Man trennte alle nur denkbaren Einrichtungen von Schulen bis Toiletten nach Weiß und Schwarz. Immer wieder wurden auch Männer gelyncht, um einzelne abseits von Recht und Gesetz zu bestrafen und die Gesamtheit einzuschüchtern.

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Womit wir wieder bei Tulsa wären. Tulsa war wegen der "Schwarzen Wall Street", der vielen Toten und der enormen Zerstörung besonders, aber zeigte die gleiche Logik wie viele andere Gewaltausbrüche.

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Der Ursprung war typisch, weil wie so oft der Auslöser ein Vorwurf war, ein Schwarzer habe eine weiße Frau belästigt, und sich daraufhin ein Lynchmob formierte, um Selbstjustiz zu üben. Der Zeitpunkt war typisch, weil damals in den 1920ern der Ku Klux Klan den Höhepunkt seiner Macht erlebte und etwa immer wieder feierlich über die Prachtstraßen Washingtons zog. Auch die Folgen waren typisch: Keines der Opfer wurde entschädigt, keiner der Täter behelligt.

Entgegengestellt hatten sich dem weißen Mob übrigens schwarze Weltkriegsveteranen. Sie hatten in Europa gekämpft, um die "Welt sicher für die Demokratie" zu machen, wie es der damalige Präsident Wilson ausgedrückt hatte. Nur ihre eigene Demokratie daheim war für sie nicht sicher.

Nach der Sklavenbefreiung saßen im Jahr 1875 immerhin acht Schwarze im US-Kongress. Dann ließen sich Mächtige alles mögliche einfallen, um das Recht zu wählen und gewählt zu werden, kräftig zu beschneiden. Acht Schwarze im US-Kongress gab es dann erst wieder nach der Bürgerrechtsbewegung und neuen Wahlgesetzen 1969, fast hundert Jahre später.

Damals saßen viele, die mit aller Kraft verhindern wollten, dass die Schwarzen gleichberechtigte Bürger werden, in den Reihen der Südstaaten-Demokraten. Heute sitzen sie unter den Republikanern. Gerade fallen ihnen in zahlreichen Bundesstaaten wieder alle möglichen Regeln ein, um bestimmten Gruppen das Wählen etwas schwerer zu machen. Alles im Sinne der "Wahlsicherheit" versteht sich.

Auf jeden Wandel in der Rassismus-Frage folgen Kräfte, die ihn zurückdrängen wollen. Auch das ist eine amerikanische Wahrheit.

Auf die Sklavenbefreiung in den 1860ern folgte im Süden jahrzehntelang immer wieder Terror wie in Tulsa. Nach der Bürgerrechtsbewegung und den Wahlgesetzen der 1960er gab es bald auch wieder Gesetze, die Schwarzen das Wählen erschwerten oder ihnen höhere Gefängnisstrafen aufdrückten als Weißen. Nach Barack Obama kam Donald Trump.

Jetzt erleben wir eine scheinbar übermächtige Bewegung, die lange im Unsichtbaren gehaltene Teile der amerikanischen Wirklichkeit in den Vordergrund rückt. Man kommt in den Medien, in der Politik oder in der Unterhaltung nicht mehr an ihr vorbei. Die Nation, in der Weiße bald nicht mehr die Mehrheit stellen, ändert sich. Viele in diesen Tagen sind sich sicher: A change has come.

Doch die Gegenbewegung ist auch nicht zu überhören. Während im linksliberalen National Public Radio kein Tag mehr vergeht, an dem es nicht um strukturellen Rassismus geht, gibt es bei Fox News Tag für Tag das Gegenprogramm: Wir lassen uns doch nicht vom ständigen Gerede über Rassismus unsere stolze Geschichte kaputt machen, heißt es da.

Es ist der Streit darüber, was Amerika in Wahrheit für eine Nation war, ist und sein möchte. Er war immer schon da und er wird bleiben.

Museumskurator Gardullo verabschiedete sich von mir zumindest mit diesen Worten: "Wir haben noch einen langen Weg vor uns."

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