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"Gleichgültigkeit und Desinteresse": Die Wahrheit über Nichtwähler


Die Wahrheit über Nichtwähler
"Gleichgültigkeit und Desinteresse"

t-online, Das Interview führte Christian Kreutzer

22.09.2013Lesedauer: 6 Min.
Politikverdrossen? Von wegen. Nichtwähler haben vor allem kein Interesse, sagt Robert Vehrkamp von der Bertelsmann-Stiftung.Vergrößern des BildesPolitikverdrossen? Von wegen. Nichtwähler haben vor allem kein Interesse, sagt Robert Vehrkamp von der Bertelsmann-Stiftung. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)
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Politikverdrossenheit oder Gleichgültigkeit - warum geht rund jeder Vierte nicht zur Wahl? t-online.de sprach mit Robert Vehrkamp. Der Wahlforscher leitet das Programm „Zukunft der Demokratie“ bei der Bertelsmann-Stiftung. „Wählen ist keine Bürgerpflicht mehr", so Vehrkamp. "Weil vor allem die sozial Schwächeren immer weniger wählen, vertieft sich die soziale Spaltung unserer Demokratie."

t-online.de: Herr Vehrkamp, haben Sie selbst schon mal ganz bewusst auf das Wählen verzichtet?

Vehrkamp: Nein, nie. Für mich ist das Wählen eine demokratische Bürgerpflicht. Der Wahltag ist für mich ein Feiertag der Demokratie. Der Urnengang ist für mich immer wieder etwas ganz Besonderes.

Sind denn Nichtwähler Leute, die ganz bewusst entscheiden: Ich verzichte auf’s Wählen?

Nein. Nach unserer Erkenntnis ist es genau umgekehrt: Nichtwähler sind typischerweise Menschen, die sich wenig für Politik interessieren und Wählen nicht mehr als eine Bürgerpflicht ansehen. Für die meisten Nichtwähler ist es schlicht nicht mehr so wichtig, ob sie an der Wahl teilnehmen. In ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld spielt die Frage, ob man wählen geht, keine große Rolle mehr. Dass sich hinter der Wahlenthaltung eine bewusste politische Protesthaltung - oder sogar eine Protestpartei von Nichtwählern - verbirgt, ist ein Mythos.

Die Medien zeichnen aber gern das Bild vom politikverdrossenen Bürger, der die Politiker beim besten Willen nicht mehr versteht. Auch viele Nichtwähler argumentieren so. Was ist davon zu halten?

Das Bild ist verzerrt, weil wir gleichzeitig mit der abnehmenden Wahlbeteiligung feststellen, dass die allgemeine Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland nach wie vor sehr hoch ist. Mehr als 85 Prozent der Menschen sagen, dass sie insgesamt mit der Demokratie durchaus zufrieden sind. Nach unserer Erkenntnis ist es eher so, dass politische Gleichgültigkeit und Desinteresse bei Nichtwählern der Hauptgrund dafür ist, dass sie nicht wählen. Jedenfalls ist das bei den Nichtwählern so, die ich als typisch für die Gesamtheit der mehr als 18 Millionen Nichtwähler der vergangenen Bundestagswahl ansehe. Die bekennenden Intellektuellen unter den Nichtwählern sind von ihren persönlichen Merkmalen und auch mit Blick auf ihre hochpolitischen Begründungen für ihre Wahlverweigerung sehr untypische Nichtwähler.

Sind die Politiker schuld?

Ich finde wir sollten uns das nicht so einfach machen und immer alles auf die Politik, die Parteien und die Politiker abschieben. Natürlich haben die eine große Mitverantwortung. Im Grundgesetz steht ja, dass die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken sollen. Aber das Nichtwähler-Phänomen allein der Politik zuzuschreiben – da würden wir der Politik Unrecht tun. Wir alle, auch und gerade die Medien, sollten sehr genau darauf achten wie über unsere Parteien, unsere Politiker und unsere Demokratie berichtet und gesprochen wird. Sonst produzieren wir das Problem einer zunehmend pauschalen Parteien- und Politikverdrossenheit ein Stück weit selber, das wir später beklagen. Natürlich gibt es Unzufriedenheit mit den Parteien. Am Sonntag werden aber 38 verschiedene Parteien mit sehr unterschiedlichen Angeboten auf dem Wahlzettel stehen. Da sollte eigentlich jeder ein Angebot finden, das seiner eigenen Meinung zumindest im Prinzip entspricht.

Wer sind denn „die“ Nichtwähler und wo leben sie?

Das große Problem der sinkenden Wahlbeteiligung ist: Sie vollzieht sich nicht gleichmäßig, sondern es sind ganz bestimmte Gruppen unserer Gesellschaft, die nicht mehr wählen: die sozial Schwächeren, die Bildungsverlierer, diejenigen, die in Wohnquartieren wohnen, wo es eine hohe Arbeitslosigkeit gibt, also in sozialen Brennpunkten. Wir haben heute in fast jeder Großstadt Brennpunktviertel, wo die Wahlbeteiligung unter 50, 40 oder sogar unter 30 Prozent liegt. Dagegen haben Sie andere, bürgerliche Wohngebiete, wo die Wahlbeteiligung nach wie vor bei 80 bis 90 Prozent liegt. Folge dieser sozialen Spaltung der Wähler ist natürlich eine zunehmende politische Ungleichheit. Darin sehen wir auch das größte Problem der insgesamt sinkenden Wahlbeteiligung: Deutschland ist eine zunehmend sozial gespaltene Demokratie!

Hätten die sozial schwachen Wähler nicht gerade allen Grund zu wählen?

Das dramatische an dieser Entwicklung ist ja, dass gerade diese Schichten, die nicht wählen gehen, die selben sind, die, historisch gesehen, das Allgemeine Wahlrecht erkämpft und genutzt haben, um ihre Interessen durchzusetzen. Ihre soziale und gesellschaftliche Emanzipation hat sich die Arbeiterschaft mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts erkämpft. Heute verzichten die Unterprivilegierten auf ihr Wahlrecht, also gerade diejenigen, die allen Grund hätten, sich an der Wahl zu beteiligen.

Warum ist das so?

Ein Erklärungsansatz, sagt, dass die allgemeine Ungleichheit zugenommen hat. Und die – das stellen wir auch im internationalen OECD-Ländervergleich fest - schadet der Demokratie. Ein anderer Ansatz sagt, dass es einen Wertewandel in der Gesellschaft insgesamt gibt, der aber vor allem die unteren Schichten betrifft. Das geht in Richtung einer abnehmenden Verbindlichkeit von Institutionen, zunehmender Individualisierung und auch nachlassender Pflichtbegriffe. Wir haben festgestellt, dass die Wahlteilnahme vor allem von Jüngeren und sozial Schwachen nicht mehr als Bürgerpflicht gesehen wird. Wahrscheinlich gibt es beide Tendenzen und sie verstärken sich gegenseitig: eine zunehmende soziale Ungleichheit, die die soziale Spaltung der Demokratie antreibt, aber gleichzeitig - und vor allem in diesen Schichten – den beschriebenen Wertewandel.

Was bedeutet das für die Zukunft unserer Demokratie?

Ich glaube, dahinter verbirgt sich eine große Herausforderung für unsere Demokratie. Natürlich ist es glücklicherweise so, dass unsere demokratischen Institutionen auch bei einer Wahlbeteiligung von 50 Prozent formal funktionieren. Der Bundestag wird sich konstituieren, wir werden eine legal gewählte und entscheidungsfähige Regierung haben, egal wie hoch die Wahlbeteiligung ist. Aber die Demokratie verliert natürlich ein Stück weit an innerer Legitimität und Repräsentanz, wenn Sie heute einen Wahlkreis schon mit 15 oder 20 Prozent der Direktwahlstimmen gewinnen können, und das ist in einigen Wahlkreisen so. 2009 sind die Kreise mit dem geringsten Direktwahlergebnis im Schnitt mit nur 19,4 Prozent aller Wahlberechtigten gewonnen worden. Das sind dann natürlich Direktmandate, die nur sehr wenige Wähler wirklich repräsentieren. Die sind natürlich legitim gewählt, aber ihre Vertretungsrolle und damit ihre innere Legitimität ist sehr viel schwächer geworden.

Das heißt, die Leute wählen nicht, weil sie sich nicht repräsentiert fühlen und fühlen sich dann nicht repräsentiert, weil sie nicht gewählt haben. Das klingt nach einem Teufelskreis.

Genau, das ist ein Teufelskreis. Weil dann natürlich das Argument kommt: Die machen da, was sie wollen und ich komme nicht mehr vor. Man muss aber auch klar sagen: Ein Nichtwähler kann sich nicht nachträglich darüber beschweren, wenn seine Interessen in der Politik nicht mehr vertreten werden. Nichtwählen heißt automatisch, das Gewicht der Stimme von anderen, die andere Interessen haben, zu stärken. Das ist tatsächlich ein Teufelskreis.

Wie kommt man da heraus?

Da gibt es kein Patentrezept. Das ist ein langfristiger Trend, der auch nur langfristig zu brechen ist. Ich glaube ein wichtiger Punkt ist, dass wir ganz früh - schon in der Schule - an der praktischen Demokratieerziehung ansetzen müssen. Wir stellen ja fest, dass Erst- und Zweitwähler im Durchschnitt noch weniger wählen, als alle anderen.

Gibt es da auch soziale Unterschiede, die sich in der Wahlteilnahme zeigen?

Sehr große Unterschiede sogar, vor allem, was das Interesse an Politik angeht. Es ist ja nicht so, dass die Jugend sich insgesamt nicht mehr für Politik interessiert. Wir haben auch bei den Jüngeren eine zunehmende soziale Spaltung zwischen den meist gut gebildeten Jüngeren die sich stark für Politik interessieren und auch sehr stark engagieren – und auf der anderen Seite einen größer werdenden Teil, der sich völlig ausklinkt und immer weniger teilnimmt.

Manche Forscher behaupten ja, Nichtwählen sei ein gutes Zeichen. Nach dem Motto: Alles bestens, kein Bedarf.

Ich glaube, das ist ein bisschen zu selbstzufrieden. Ich sehe darin, dass sich bestimmte Teile ausklinken, schon sozialen Sprengstoff. Ich finde, wir sollten alles tun und es nicht nur auf die Politiker abschieben, da wieder eine größere politische Gleichheit herzustellen.

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Wären Volksentscheide eine Lösung?

Das wird häufig behauptet. Volksentscheide können sicher einen Beitrag dazu leisten, zu aktivieren. Wir stellen aber fest, dass die soziale Selektivität bei Volksentscheiden noch höher ist, als bei allgemeinen Wahlen. Das wird häufig übersehen. Menschen, die nicht wählen gehen, die gehen auch meist nicht zu Demonstrationen oder in Bürgerinitiativen und die nehmen im Zweifelsfall auch nicht an einem Volksentscheid teil. Es gibt viele gute Gründe für mehr direkte Demokratie, aber die sozialen Unterschiede bei der Beteiligung werden wir damit nicht lösen.

Was sagt uns die enorm gestiegene Zahl von Briefwählern?

Dass die Art und Weise, wie wir in Deutschland Wahlen organisieren vielleicht nicht mehr ganz den Lebens- und Mobilitätsbedürfnissen der Menschen entspricht, vor allem nicht denen der Erst- und Jungwähler. Ich inszeniere meinen Urnengang im Wahllokal sehr gerne, aber viele junge Menschen spricht das nicht mehr an, die würden gerne auf anderen Wegen ihre Stimme abgeben. Vielleicht sollten wir hier etwas innovativer und mutiger werden, um das Wählen auch für jüngere Menschen wieder attraktiver zu machen.

Im internationalen Vergleich stehen wir ja gar nicht schlecht da: Im übrigen Mitteleuropa und den USA pendelt die Wahlbeteiligung um 60 Prozent, bei uns um 70.

Richtig, aber die USA sind für mich in diese Hinsicht auch kein Vorbild. Bei uns haben Anfang der 70er Jahren mehr als 90 Prozent der Wahlberechtigten gewählt. Und es gab auch kaum soziale Unterschiede bei der Wahlbeteiligung. Gerade diese Schere ist aber in den vergangenen 20 Jahren enorm aufgegangen.

Das heißt, wenn man bei Wahlbeteiligung und Demokratie in die Zukunft schauen will, muss man sich vor allem die Entwicklung der sozialen Unterschiede ansehen?

Jedenfalls ist die Frage der sozialen Homogenität eine ganz wichtige Determinante. Das sehen wir beispielhaft an skandinavischen Ländern wie Dänemark und Schweden, die mit einer sehr hohen Wahlbeteiligung…

…bis zu 90 Prozent…

…sehr viel besser dastehen. Die haben aber auch bessere Werte bei der sozialen Homogenität und beim gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deshalb sage ich ja auch: Wir dürfen das nicht nur bei den Parteien abladen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

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