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Diese Wahl ist ein Erdbeben - Kommentar zur Bundestagwahl


Dieses Ergebnis ist eine große Chance

Ein Leitartikel von Florian Harms

Aktualisiert am 27.12.2017Lesedauer: 6 Min.
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Bundestagswahl 2017: Diese Wahl ist ein Erdbeben - und eine ChanceVergrößern des Bildes
Quelle: Reuters-bilder

Die Union abgewatscht, die SPD abgestürzt, AfD und FDP siegreich: Das Ergebnis der Bundestagswahl erschüttert die Republik – und bietet zugleich eine große Chance.

Das Wahlergebnis rüttelt die Republik durch, und die Gründe für Absturz hier und Triumph dort werden nun tagelang in Kommentaren und Talkshows analysiert. Einige Erkenntnisse lassen sich aber schon jetzt ziehen:

CDU/CSU: Abgewatscht, aber nicht umgehauen

Das Wahlergebnis ist eine Klatsche für die Union und für Angela Merkel persönlich. Die Flüchtlingskrise war die größte Herausforderung in ihrer Regierungszeit, und Millionen Menschen nehmen es der Kanzlerin übel, dass sie ihren Kurs dabei nicht glaubhaft, transparent und schlüssig vermitteln konnte. Diese Bundestagswahl war auch eine Abstimmung über die Politik des Jahres 2015, als Hunderttausende Menschen aus Syrien, Nordafrika und Asien ins Land kamen. Mit ihrer Politik überforderte Angela Merkel ihre Koalitionspartner, die Behörden und die Bürger. Viele Menschen hatten den Eindruck: Diese Kanzlerin kümmert sich mehr um Flüchtlinge, griechische Schulden und den Krieg in der Ukraine als um die Probleme der Deutschen, und heute hat Merkel die Quittung dafür bekommen: Unter ihr fährt die Union das schlechteste Ergebnis bei einer Bundestagswahl seit 1949 ein.

Trotzdem: Von allen Parteien hat die Union die meisten Stimmen erhalten, und als Spitzenkandidatin hat Merkel den Regierungsauftrag. Sie hat die Verantwortung, nun eine stabile Bundesregierung zu bilden. Nach dem Rückzug der SPD bleibt ihr dabei als einzige Option ein schwarz-gelb-grünes Bündnis, das in Wahrheit ein schwarz-schwarz-gelb-grünes Bündnis ist. Weder die CSU noch die FDP noch die Grünen werden es Merkel leicht machen. Es werden schwierige Sondierungsgespräche, schwierige Koalitionsverhandlungen, und – sofern ihr die Regierungsbildung gelingt – ein schwieriges Kabinett.

Zugleich liegt darin eine große Chance: Mit Hilfe der Grünen kann sich Merkel wieder zur Klimakanzlerin aufschwingen und sich der wichtigsten Aufgabe unserer Zeit widmen, dem Kampf gegen den Klimawandel. Mit Hilfe der FDP kann sie Deutschland endlich fit für die Digitalisierung machen, und mit beiden sowie der CSU kann sie das Chaos der Bildungspolitik beenden und das unsinnige Kooperationsverbot aushebeln. Für jede dieser Mammutaufgaben wird sie Engelsgeduld, Moderationskunst und Durchsetzungsvermögen benötigen. Aber wer Wladimir Putin zu Kompromissen gezwungen, mit den griechischen Schuldenweltmeistern verhandelt und Horst Seehofers monatelange Attacken ertragen hat, der kann auch das schaffen.

SPD: Katastrophe mit Ansage

Martin Schulz ist die tragische Figur dieser Wahl. Er hat sich im Wahlkampf abgerackert, tingelte unverdrossen durchs Land, schonte sich nicht. Am Ende hat es alles nichts geholfen, sein mantraartig wiederholtes Ziel, Bundeskanzler zu werden, hat er krachend verfehlt, das schlechteste SPD-Ergebnis aller Zeiten eingefahren – und die Schuld liegt nicht nur bei ihm. Erstens ist er, anders als Sigmar Gabriel, in den Orts- und Landesverbänden der Partei kaum verwurzelt. Zweitens machte er den fatalen Fehler, nach seinem Höhenflug zu Beginn des Jahres, im NRW-Wahlkampf von der Bildfläche zu verschwinden. Erst auf dem Dortmunder Parteitag Ende Juni begann er ernsthaft, seine Kontrahentin Angela Merkel zu attackieren. Das war viel zu spät, das war ein Fehler, und er weiß das. Drittens gelang es ihm nicht, den Ruch der Großen Koalition loszuwerden: Er konnte den Bürgern einfach nicht schlüssig erklären, warum mit ihm im Kanzleramt alles anders werden sollte, als es seine Partei jahrelang mitgetragen hatte. Hinzu kam viertens eine erschreckend schlecht organisierte Kampagne.

Was die SPD jetzt braucht, ist mehr als eine Wartung. Sie braucht einen kompletten Neuanfang: inhaltlich, personell und vor allem organisatorisch. Es würde ihr guttun, nach dem Wundenlecken dem Beispiel der FDP zu folgen und sich einen Neustart zu verordnen. Das geht nur außerhalb der Regierung, deshalb ist es richtig, dass die Parteispitze sofort entschieden hat, in die Opposition zu gehen. Von dort kann sie vielleicht in vier Jahren gestärkt zurückkommen.

AfD: Triumph des Protests

Der Erfolg der AfD ist Ausdruck einer diffusen Angst und eines tief sitzenden Frusts in Teilen der deutschen Bevölkerung. Interessanterweise ist es nicht ein Unbehagen über soziale Missstände wie Billiglöhne, Zweiklassenmedizin oder überteuerte Wohnungen. Sondern ein Unbehagen über scheinbare kulturelle Veränderung, über Menschen aus Arabien und Afrika, die mit ihren Sitten, Moralvorstellungen, ja, ihrer bloßen Existenz angeblich die deutsche Gesellschaft gefährden. Wer so denkt, sieht in der Globalisierung einen Feind. Wer so denkt, will nicht sehen, dass unser Wohlstand auch auf dem Elend anderer Länder fußt und dass unser stabiles, friedliches, rechtsstaatliches System uns moralisch dazu verpflichtet, uns auch für jene zu engagieren, die nicht das Glück hatten, in einem Land wie der Bundesrepublik geboren worden zu sein.

Das bedeutet nicht, dass Deutschland jeden aufnehmen muss, der an unsere Tür klopft. Aber es verpflichtet die neue Bundesregierung dazu, das Thema Migration endlich professionell und engagiert anzupacken: mit einem modernen Einwanderungsrecht, mit einer schnelleren Integration von Flüchtlingen mit Bleiberecht, wozu auch eine rasche Arbeitserlaubnis gehört. Und mit einem Entwicklungsplan für Afrika, der seinen Namen verdient. Die Herkunftsländer wie Gambia, Guinea, Somalia zu stabilisieren und dabei zu helfen, dass Menschen in ihrer Heimat statt in Europa ihre Zukunftschance sehen, zählt zu den Schlüsselaufgaben deutscher Politik der nächsten vier Jahre.

Dabei gilt es kühlen Kopf zu bewahren. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten sitzt nun mit der AfD wieder eine Partei im Bundestag, die Rassisten, Nationalisten, Rechtsradikale in ihren Reihen hat. Da sind wilde Debatten zu erwarten. Der erste Kommentar von Alexander Gauland am Sonntagabend lässt Düsteres erwarten: "Wir werden sie jagen", drohte er der neuen Regierung an. "Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen." Das ist Rhetorik, die an die dunkelsten Zeiten Deutschlands erinnert.

Umso wichtiger, dass die etablierten Parteien sich nicht dazu hinreißen lassen, die verbalen Provokationen der AfD mit Beschimpfungen auf demselben Niveau zu erwidern. Die AfD pauschal als "Nazis" zu brandmarken, ist Unfug und stärkt sie nur. Alle Parteien von der Linken bis zur CSU sind jetzt gefordert: Es gilt, dem Populismus, den Halbwahrheiten und der Angstmache von AfD-Funktionären gute Politik entgegenzusetzen: differenzierte Argumente, transparente Kommunikation mit den Bürgern, vorausschauende Gesetze – und der demokratische Schulterschluss als rote Linie, sollten einzelne AfD-Abgeordnete sich im Parlament zu rassistischer Hetze versteigen.

Linke: Stabil dank klarem Profil

Die andere Protestpartei neben der AfD ist die Linke – und sie hat davon profitiert. Zwar ist sie durch ihre Beteiligung an mehreren Landesregierungen in den Augen vieler Menschen längst Teil des politischen Establishments geworden. Das klare Wahlprogramm, die Beschränkung auf soziale Themen für wenig Privilegierte und die profilierten Spitzenkandidaten Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch haben aber gereicht, um genügend Wähler davon zu überzeugen, dass die Linke die richtigen Antworten auf eine globalisierte Welt hat. In den letzten vier Jahren hat die Partei eine bewundernswerte Oppositionspolitik gemacht und mit ihren kleinen Anfragen die Große Koalition so manches Mal gezwungen, versteckte Fakten auf den Tisch zu legen. In dieser Form ist die Linke eine Bereicherung für den Bundestag.

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FDP: Furioses Comeback

Und die FDP? Ist neben der AfD der einzige strahlende Gewinner dieser Wahl. Ihren triumphalen Wiedereinzug in den Bundestag hat sie in erster Linie Christian Lindner zu verdanken. Er hat vier Jahre lang geackert und die Partei neu aufgestellt. Nach dem Desaster von 2013 bewahrte er die Partei durch unzählige Besuche in Ortsverbänden vor der Auflösung und schloss die Reihen. Er verpasste ihr ein modernes und auf liberale Kernanliegen fokussiertes Programm, motivierte durch glänzende Reden im NRW-Landtag und auf Parteitagen die wiedererstarkende Basis, stellte die politischen Gegner – und überzeugte schließlich durch eine personalisierte, augenzwinkernde Kampagne viele Wähler. Sein Feldzug war erfolgreich, und die Genugtuung darüber wird ihm in den kommenden Monaten anzumerken sein.

Jetzt kommt allerdings schon die nächste Herausforderung: Lindner muss im Bundestag mit einer Truppe bestehen, die wenig bundespolitische Erfahrung hat. Das muss nicht nur ein Nachteil sein, es kann auch den Charme des Neuen haben.

Grüne: Gerade noch gerettet

Den Charme des Neuen hatten die Grünen in diesem Wahlkampf definitiv nicht. Zwar kämpften sich die Spitzenkandidaten Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt unermüdlich durch die Wochen, aber es gelang ihnen kaum, die grünen Herzensthemen unters Volk zu bringen. Die Grünen sind im Kern nach wie vor eine ökologische Partei – aber das Thema Umweltschutz und Kampf gegen den Klimawandel hatte in Zeiten von Flüchtlingskrise, Trump und Brexit keine Konjunktur. Özdemir spürte das und setzte, je länger der Wahlkampf dauerte, immer stärker auf die Themen Integration, Türkei und Europa. Das tat er voller Verve, eloquent und überzeugend. Deshalb hat es die Partei zu einem großen Teil ihm zu verdanken, dass sie nicht abstürzte, sondern im Gegenteil sogar noch einen knappen Prozentpunkt hinzugewann. In einer Jamaika-Koalition können die Grünen nun beweisen, dass sie das Regieren seit der Abwahl von Rot-Grün 2005 nicht verlernt haben. Und Cem Özdemir wäre sicher ein sehr guter Integrationsminister.

Ausblick: Eine historische Chance

Und wie geht es nach diesem turbulenten Wahlabend weiter? Die Große Koalition hat routinierte Arbeit geleistet, aber sie hat das Land auch ein Stück weit eingeschläfert. Noch mal vier Jahre Mehltau wären verheerend gewesen. Besondere Zeiten erfordern besondere Bündnisse. FDP und Grüne, die sich im Wahlkampf schier die Augen ausgekratzt haben, müssen sich jetzt zusammenraufen. Und die Union muss das Kunststück vollbringen, die zum Teil gegensätzlichen Positionen der beiden kleinen Parteien zu vereinen und ein Jamaika-Bündnis zu schmieden. Mit dieser Leistung könnte Angela Merkel tatsächlich in die Geschichtsbücher eingehen.

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