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Grüner rechnet mit Kampagne von Annalena Baerbock ab: “Wir haben es verkackt”


Nach Bundestagswahl
Abrechnung mit Baerbock-Kampagne: "Haben es verkackt"

  • Daniel Mützel
Von Daniel Mützel

Aktualisiert am 29.09.2021Lesedauer: 4 Min.
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Grünen-Geschäftsführer in der Kritik: Hier spricht Michael Kellner über eine mögliche Regierungskoalition. (Quelle: t-online)

Ein Grünen-Politiker holt zum Rundumschlag aus: In seinem Blog rügt er die verpatzte Wahlkampagne und "offensichtliche Schwächen" von Kanzlerkandidatin Baerbock. Kurz darauf löscht er seinen Post.

Schon der Titel macht klar, dass Mathis Weselmann kein Blatt mehr vor den Mund nehmen will: "Wir haben es verkackt", schreibt der niedersächsische Grünen-Politiker und Landesvorstand am Montagabend auf seiner Webseite.

Angesichts des enttäuschenden Wahlergebnisses von 14,8 Prozent fordert Weselmann seine Partei auf, nicht einfach zur Tagesordnung überzugehen, sondern nüchtern die Fehler im Wahlkampf zu analysieren. Man sei "deutlich" hinter dem zurückgeblieben, was möglich gewesen wäre – und angesichts der historischen Herausforderungen durch den Klimawandel auch erforderlich.

Zielmarke sei der Korridor zwischen 20 und 25 Prozent gewesen. "Ich bin stinksauer. Wir hatten es in der Hand", so Weselmann in dem mittlerweile gelöschten Blogpost, der t-online vorliegt.

Eine Kandidatin mit "offensichtlichen Schwächen"

Bislang hielten sich die Grünen mit offener Kritik an Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock zurück. Mit Weselmann wagt sich nun erstmals ein Grünen-Politiker aus der Deckung.

Für den niedersächsischen Landesvorstand fängt eine "schonungslose Analyse" beim Offensichtlichen an: der Kanzlerkandidatin. Deren "offensichtliche Schwächen": jung, ohne Exekutiverfahrung und "mit Wahlerfolgen vor allem in der eigenen Partei". Baerbock zu nominieren sei eine "mutige Entscheidung" gewesen, schreibt der Wahlkampfstratege, der 2020 die Kampagne des Hannoveraner Oberbürgermeisters Belit Onay leitete. Heißt: Die Baerbock-Nominierung war ein Risiko.

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Allerdings eines, mit dem eine professionelle Kampagne hätten umgehen müssen, sagt Weselmann. Doch habe man kaum daran gearbeitet, "die Kandidatin als Führungspersönlichkeit zu profilieren". Baerbocks zentrales Manko – die fehlende Regierungserfahrung – hätte mit einer geschickteren Vermarktung kompensiert werden können.

"Der reine Wahnsinn"

Weselmann geht nicht nur mit Baerbock ins Gericht. Alle bekommen ihr Fett weg, vor allem die Kampagnenführung: So sei die Kanzlerkandidaten-Frage "viel zu spät" entschieden worden, was zeittechnisch "der reine Wahnsinn" gewesen sei. Hinzu kamen mangelnde Vorbereitungszeit, handwerkliche Fehler, eine schwache Plakatkampagne, unklare Botschaften, und nicht zuletzt die grüne Erzählung von Aufbruch und Erneuerung, die ihr zentrales Versprechen nicht einlösen konnte: breite Teile der gesellschaftlichen Mitte anzusprechen.

Weselmanns Rundumschlag kommt für viele Grüne ungelegen. Gerade jetzt, wo es aus Sicht der Partei darum gehen sollte, geschlossen in die Sondierungsgespräche zu gehen, um möglichst viele grüne Herzensthemen durchzusetzen, droht Weselmanns Querschläger die Partei in Unruhe zu versetzen.

"Man muss es ja nicht veröffentlichen"

Entsprechend seien die Reaktionen gewesen, berichtet der Politiker auf Anfrage. "Ich habe mehrere Nachrichten erhalten, die mich auf interne Prozesse verwiesen, um solche Fragen zu klären. Daraufhin habe ich den Beitrag und den entsprechenden Twitter-Post gelöscht."

Unter dem nun entfernten Twitter-Beitrag meldete sich etwa die frisch gewählte Bundestagsabgeordnete aus NRW, Sara Nanni, sie schrieb: "Man kann das ja aufschreiben (und es nicht veröffentlichen.) :)."

Weselmann sagt, er habe sich über die Reaktionen gewundert. Er habe einen hohen Anspruch an die parteiinterne Fehlerkultur. Doch viele scheinen derzeit vor allem über Koalitionen reden zu wollen.

Rollentausch: Habeck vor Baerbock?

Ob andere Weselmanns Beispiel folgen oder bis zum Ende der Koalitionsverhandlungen stillhalten, bleibt abzuwarten. Bis Weihnachten soll eine neue Regierung stehen – fast drei Monate, in denen kritisiert, geklagt und zerredet werden kann. In der Partei hofft man, dass die im Wahlkampf eingeübte Parteidisziplin so lange hält, bis der Koalitionsvertrag steht.

Vermutlich werden sich gerade diejenigen zurückhalten – und das nach unten durchgeben –, die sich jetzt den nächsten Karriereschritt versprechen: etwa einen Platz im Sondierungsteam, einen Posten in einem Ministerium oder im bald zu wählenden neuen Bundesvorstand. Wer riskiert schon eine dicke Lippe, wenn eine Stelle als parlamentarischer Staatssekretär winkt?

Der angeblich geplante Rollentausch zwischen Baerbock und ihrem Co-Parteichef Robert Habeck ist indes wohl kein tragfähiges Instrument, um eine Revolte zu verhindern. Demnach soll Habeck statt Baerbock in einer möglichen Regierung den Vizekanzler stellen, da Letztere "ihre Chance gehabt habe", berichtete die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Schon jetzt wird der Vorschlag in Grünen-Kreisen kontrovers diskutiert. Anstatt die Partei, vor allem: enttäuschte Habeck-Fans, zu befrieden, provoziert er Kontroversen und Nebenschauplätze.

"Die Frage ist völlig irrelevant"

In der Partei scheut man zudem eine Sexismusdebatte, die bei einem solchen Szenario drohen könnte: eine Frau abzusägen oder zu deklassieren, die das beste Wahlergebnis der Parteigeschichte eingefahren hat, um einem Mann – der ebenso seine Schwächen hat –, den Vortritt zu lassen, könnte leicht als frauenfeindliche Kampagne interpretiert werden.

Ein solcher Rollentausch würde außerdem bei vielen grünen Politikerinnen, etwa in der Bundestagsfraktion, bei denen Baerbock großen Rückhalt genießt, auf massiven Widerstand stoßen. Am Dienstagnachmittag versuchte Habeck, die Spekulationen zu beenden: "Die Frage, wer Vizekanzler wird, ist völlig irrelevant."

Damit sind die grundsätzlichen Fragen jedoch nicht geklärt, das Rumoren nicht auf Dauer befriedet. Vielleicht wird sich die Grünen-Spitze irgendwann genötigt sehen, aufkeimende Kritik von sich weg- und auf ein legitimes Ziel hinzuleiten. Als solches böte sich aus Sicht mancher Grüner Michael Kellner an: Als Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfmanager war er verantwortlich für die Kampagne und damit auch für viele Patzer, die der Partei am Ende Stimmen kosteten.

Für Wahlkampfchef Kellner wird es ungemütlich

Kellner gilt als angeschossen. Noch am Wahlabend warf der grüne NRW-Landtagsabgeordnete Horst Becker dem Bundesgeschäftsführer gravierende Fehler im Wahlkampf vor. Kellner trage "die Verantwortung dafür, dass für die Grünen nicht mehr möglich war", so Becker.

Aus Parteikreisen ist zu hören, dass es für Kellner bald ungemütlich werden könnte. Zudem habe der Wahlkampfchef nach dem Fraktionsvorsitz im Bundestag greifen wollen, was "erstaunlich" sei angesichts der vielen Kampagnenfehler sowie der Tatsache, dass es zwei verdiente Amtsinhaber – Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt – gebe.

Auch der niedersächsische Landesvorstand Weselmann geht Kellner direkt an: "Ich fordere ihn auf, Verantwortung zu übernehmen. Nicht im Sinne eines Rückzugs, sondern einer Aufarbeitung der Fehler im Wahlkampf. Das ist nun seine Aufgabe." Aber das solle nicht erst kurz vor Weihnachten oder gar danach geschehen, schiebt Weselmann nach. "Ich werde kein Ultimatum geben, aber zwei Monate kann man nicht ins Land gehen lassen." Es klingt wie eine sanfte Drohung.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Nachrichtenagentur dpa
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