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Streit um AKW-Frage vor Wahlen in Niedersachsen: Sauer im Regen


AKW-Zank vor der Niedersachsenwahl
Sauer im Regen


08.10.2022Lesedauer: 7 Min.
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Demonstranten in Lingen: "Der Wendehals der Grünen ist erschreckend."Vergrößern des Bildes
Demonstranten in Lingen: "Der Wendehals der Grünen ist erschreckend." (Quelle: Lando Derouaux )

Niedersachsen wählt im Schatten der Energiekrise einen neuen Landtag. Besuch in Lingen, wo Parteien um die Bürger buhlen – und die Anti-AKW-Bewegung um ihr Vermächtnis kämpft.

Ein Tag Anfang Oktober. Eine graue Wolkendecke drückt sich auf das Emsland. Der Zug jagt durch weites, plattes Land, das irgendwo am Horizont ins Watt übergeht. Die Strecke führt über abgeerntete Äcker vorbei an kleinen Ortschaften, viel roter Backstein. Vor der Stadt Lingen verlangsamt sich die Fahrt. Die Sicht wird frei auf ein Politikum: das Kernkraftwerk Emsland, das alle hier nur KKE nennen.

Aus seinem Kühlturm quillt weißer Dampf in den wolkenverhangenen Himmel. Dicke Hochspannungsleitungen führen von dem Komplex weg, hohe Masten tragen den Strom in die Ferne.

In Lingen in Niedersachsen kommt gerade einiges zusammen, was Deutschland umtreibt. Eine Energiekostenkrise hat die Republik gepackt, losgetreten durch Putins Überfall auf die Ukraine. Die Preise für Öl, Gas und Strom sind in die Höhe geschnellt. Bis tief in die Nacht ringen Politiker darum, was sie der Energiekrise entgegensetzen, die an den Nerven der Deutschen nagt und an alten Gewissheiten. Wie dem Atomausstieg.

Der steht laut Gesetz für den Jahreswechsel an. Wirtschaftsminister Robert Habeck – ein Grüner – verkündete vergangene Woche aber, zwei der drei noch aktiven Kernkraftwerke "wohl" über das Jahresende hinaus weiter zu betreiben. Zuvor hatte ein Stresstest der deutschen Netzbetreiber sogar nahegelegt, alle verbleibenden Anlagen am Netz zu lassen. Seitdem geht in Deutschland das Schreckgespenst eines Blackouts um.

Angst vorm Dunkeln

In Lingen ist all das von Relevanz: Zwar soll das KKE vermutlich nicht mit in den Streckbetrieb – eine hochumstrittene Entscheidung. Doch in der Stadt befindet sich eine Brennelementefabrik, in der Uran für Reaktoren in ganz Europa aufbereitet wird. Obendrein wird in Niedersachsen am Sonntag gewählt.

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Es ist die erste Landtagswahl im Energiekrisenherbst, die Parteien sind in der AKW-Frage zerworfen. Und Habecks Ankündigung ist für die Anti-Atomkraft-Bewegung ein Beben auf den letzten Metern. In Lingen trommelt sie zum Protest.

"Gorleben? Dabei gewesen! Menschenkette!"

Eine Stunde bevor ihre Kundgebung offiziell startet, flattern über den Ständen des Marktplatzes ein paar gelben Flaggen durch die Luft, darauf zu sehen: das bekannte rote Logo von "Atomkraft, nein danke". Die erste Gruppe Atomkraftgegner ist da. Gerade hat sich die Sonne durch die Wolken gekämpft. Die Demonstranten setzen sich vor eine Bäckerei. Erst mal Kaffee.

Die Truppe umfasst vier Männer und zwei Frauen um die 65. Seit Jahrzehnten schon demonstrieren sie gegen die Kernenergie. "Ich bin nicht sicher, ob hier jemand dabei ist, der vor Brockdorf nicht schon nass geworden ist", sagt einer der älteren Männer. "Ich bin seit 37 Jahren dabei", sagt eine der Frauen und erzählt von ihren Schlachten. "Wackersdorf? Dabei gewesen. Gorleben? Dabei gewesen! Menschenkette!"

Jetzt fürchten sie den jähen Verlust dessen, wofür sie ein halbes Leben auf die Straße gegangen sind – so kurz vor dem Ziel. Der Ausstieg vom Ausstieg steht zur Debatte, trotz Fukushima, trotz Merkels Energiewende vor knapp zehn Jahren.

"Der Wendehals der Grünen ist erschreckend"

"Es ist schon ziemlich niederschmetternd", sagt einer der Männer. Er habe gehofft, dass nach der Wahl eine Wende einkehren würde. Eine "Kultur des Aufhörens". Stattdessen habe sich das Wirtschaftsministerium auf eine falsche Diskussion eingelassen. Denn: Nicht das Netz oder das Stromangebot seien das Problem, das der Stresstest aufgeworfen habe; es sei der Verbrauch, der dem Stresstest zugrunde gelegt wurde. "Soll mir keiner erzählen, dass man die paar Prozente im Energiemix nicht einsparen kann."

Das Wirtschaftsministerium würde einen Eindruck à la "es klappt doch" vermitteln. "Es muss aber klar werden, dass wir über unsere Verhältnisse leben." Die Gruppe ist über die Partei, die einst ihrer eigenen Bewegung entschlüpfte, empört: "Der Wendehals der Grünen ist erschreckend", sagen sie.

Robert Habeck musste eine heilige Kuh schlachten

Es ist ironisch, dass mit Habeck ausgerechnet ein Politpromi der Ökopartei das Wirtschaftsministerium führt, das jetzt den Atomausstieg hinauszögert.

Bei ihm knirschen die Zähne derzeit gewaltig, das wurde zuletzt auch am Tag der Deutschen Einheit in Hannover klar. Er selbst sei kein Energieminister geworden, um Atom- oder Kohlekraftwerke wieder ans Netz zu bringen – im Gegenteil. "Man muss aber mit der Not des Tages umgehen können", erklärte Habeck. "Ich sage es deutlich: Die Atomkraft ist das Problem – nicht die Lösung."

Und doch musste er schweren Herzens die heilige Kuh seiner Partei schlachten. Der Opposition und dem liberalen Koalitionspartner geht der Schritt derweil nicht weit genug. Kurz vor der Wahl fragen sich in Niedersachsen einige: Wenn die "Not des Tages" so groß ist: Warum läuft das AKW in Lingen dann nicht ebenfalls weiter?

Offiziell erklärt man das im Wirtschaftsministerium mit Sicherheitsaspekten. In Reaktion auf den Stresstest Anfang September schrieb die Bundesregierung, im norddeutschen Raum habe man "andere, weniger risikoreiche Instrumente" als die Kernkraft zur Hand. Zum Beispiel könnten schwimmende Ölkraftwerke, sogenannte "Power-Barges", vor Deutschlands Küste Anker werfen und im Bedarfsfall Strom liefern. Ölverbrennung ist eine der umweltschädlichsten Methoden im Geschäft.

"Natürlich: Als Grüner sind CO2 Emissionen immer zu vermeiden"

Jeremy Zgrzebski bewirbt sich für die Grünen auf ein Landtagsmandat und versucht all das in einer Lingener Fußgängerzone zu erklären. "Natürlich: Als Grüner sind CO2-Emmissionen immer zu vermeiden", sagt er. Es gehe da aber um die Versorgungssicherheit in einem Extremfall, für eine Volkswirtschaft wie Deutschland sei das im Bedarfsfall notwendig. "Die Emissionen müssen dann aber natürlich kompensiert werden."

Ein paar Schritte weiter, am Stand der FDP: Zur Verstärkung ist auch der Bundestagsabgeordnete Jens Beek in Lingen auf den Beinen. Schwimmende Ölkraftwerke? Beeck findet das "grundfalsch" – zumal die nicht einmal die nötigen Mengen Strom liefern könnten. Außerdem gebe es auf der ganzen Welt gar nicht genug, normalerweise kämen sie nach Katastrophenfällen zum Einsatz, etwa vor Haiti. Sie im Bedarfsfall vor deutschen Küsten auffahren zu lassen, bezeichnet Beeck deswegen als "unsolidarisch" gegenüber den Entwicklungsländern.

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Geht es nach Beeck, bleibt das KKE Lingen einfach am Netz. Es sei eine der "verlässlichsten" Anlagen Europas. Zwar verstehe er, dass Habeck auch Sicherheitsbedenken habe – dazu sei er als Wirtschaftsminister auch verpflichtet. Andererseits: "Habeck ist auch für die Preise verantwortlich."

"Wir sind nicht in der Lage zu verzichten"

Keine 20 Meter weiter pflichtet ihm Christian Fühner von der CDU bei. "Es gibt bei dieser Wahl nur ein Thema: die steigenden Preise." Er könne den Impuls der Grünen nachvollziehen, so wenig Atomkraft wie möglich im Strommix zu halten. Aber: "Die Argumente zählen nicht, weil wir in einer Ausnahmesituation sind."

Er könne sich vorstellen, dass die Diskussion um das Kraftwerk nach der Wahl noch einmal losgehe. "Das AKW in Lingen ist im Energiemix zwar nicht der große Baustein", das gebe er ja zu. "Aber wir sind nicht in der Lage zu verzichten."

Eine Kerbe, in die auch CDU-Chef Friedrich Merz schlägt. Höchste Priorität bei einem Angebotsschock hätte es sein müssen, das Angebot zu erhöhen. "Im Sommer Brennstäbe bestellen. Und dann: Volle Kraft laufen lassen", sagte er im Gespräch mit t-online. "Das, was jetzt kommt, ist weiße Salbe. Die grüne Basis hat die Feder geführt."

Merz sagt: Lingen in der Krise vom Netz zu nehmen, sei reine Parteitaktik. "Ohne die Niedersachsenwahl hätte die Entscheidung anders ausgesehen." Die Grünen-Spitzenkandidatin Julia Willie Hamburg widerspricht: "Der Unterschied von Lingen zu den beiden Atomkraftwerken in Süddeutschland ist, dass wir in Niedersachsen Strom aus erneuerbaren Energien haben", sagte sie der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung".

Trotzdem dürfte Habeck durchaus vor dem Grünen-Landesverband in Niedersachsen gezittert haben. Die Antihaltung beim Thema Kernkraft ist Gründungsmythos der Partei.

Auch Merz sieht das so. Auf die Frage, ob der Streckbetrieb auch in Lingen noch einmal auf den Tisch kommt, lächelt er, sagt süffisant: "Ich denke, ja."

Thermoskannen, Strickmützen, Wanderstöcke

In Lingen zieht ein Gewitter auf. Es kracht und donnert, Regen peitscht Passanten und Protestler hinaus aus der Fußgängerzone. Vor dem Bahnhof versammeln sich einige der Atomkraftgegner – 200 sind es, höchstens. Viel silbergraues Haar, dazu Thermoskannen, Strickmützen, Wanderstöcke.

Ein alter Mann steht im Regen. Er hat ein Transparent auf seine Jacke gepinnt. "Sackgasse Kernenergie", steht darauf. Etwas abseits zittert ein nasser Hund zwischen den Beinen seiner Halterin. Zwei entspannt wirkende Polizisten flankieren den Protest gemächlich mit ihren E-Bikes.

Wirklich laut ist die Demo nicht. Im Halbkreis stehen die Teilnehmer um einen Verstärker. Fast wirkt es, als wollten sie sich selbst auf den neuesten Stand bringen: Die Beiträge ähneln Referaten in der Mittelstufe, es sind faktenbasierte Reden mit vielen Jahreszahlen. Eine Schülerin trägt ein Gedicht vor. Dann setzt sich der Tross in Bewegung, vorweg rumpeln vermeintliche Atommüll-Fässer durch die Einkaufsstraßen.

"Irgendwann ist auch mal gut mit Protest"

Haben sie im Wahlkampf noch Menschen auf ihrer Seite, deren größte Sorge jetzt die Stromrechnung ist, das teure Gas, steigende Lebensmittelpreise?

Herbert, 65, ein untersetzter Mann mit Hörgerät, geht in Richtung seiner Wohnung im Zentrum von Lingen. Er sieht die Demonstration, bleibt stehen. "Eigentlich finde ich das in Ordnung", sagt er. "In der Krise geht so was aber nicht."

Er meint, das KKE, in dessen Schatten er lebt, hätte ruhig noch zwei Jahre weiterlaufen können. "Irgendwann ist auch mal gut mit Protest. Jetzt geht es um den kleinen Mann." Er habe sich schon Kerzen und eine Wolldecke gekauft.

Auf dem Marktplatz kommt der Protestzug zum Stehen. Kaffee und Kuchen wird ausgeteilt, auf einer kleinen Treppe stimmt ein Mann mit Gitarre Songs an. "Ziehn wir gemeinsam alle hier an einem Strang – dann macht uns auch mit Drohgebärden keiner bang."

Am Rand haben die beiden Fahrradpolizisten wieder Stellung bezogen. Der eine schaut den anderen an. "Das Lied hab ich 1985 schon gehört."

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