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Vor Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen: Möglicherweise waren wir naiv


Vor Wahlen in Ostdeutschland
Möglicherweise waren wir naiv

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 29.08.2019Lesedauer: 6 Min.
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Kurz vor der Wahl in Brandenburg weht eine DDR-Flagge vom Balkon eines Plattenbaus in Frankfurt (Oder).Vergrößern des Bildes
Kurz vor der Wahl in Brandenburg weht eine DDR-Flagge vom Balkon eines Plattenbaus in Frankfurt (Oder). (Quelle: dpa)

In Sachsen und Brandenburg wird gewählt, ganz Deutschland blickt besorgt gen Osten. Doch wir überwinden das Ost-West-Denken nicht, indem wir diesen Teil des Landes auf Rassismus reduzieren.

Durch die Landtagswahlen am Sonntag blickt die Bundesrepublik verstärkt auf Sachsen und Brandenburg. Man kann öfters Menschen aus den Regionen zuhören, die ehrlich und unaufgeregt ihre Sichtweisen schildern. Ich selbst habe nie im östlichen Teil unseres Landes gelebt. Meine Aufenthalte waren beschränkt auf private Besuche oder öffentliche Auftritte. Leider verbinde ich durch Letztere auch einige unschöne Erinnerungen mit dem Osten Deutschlands – es wurde gegen mich demonstriert, mir schlug offene Ablehnung entgegen, ich erhielt böse, teils kriminelle Anfeindungen von dort, nur weil ich Muslimin und aus Sicht mancher keine Deutsche bin.

Dennoch spüre ich mehr und mehr eine emotionale Verbundenheit mit den Menschen in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Und das hängt ironischer Weise exakt mit den vielen Pauschalurteilen über sie zusammen.

Denn diese Ressentiments und deren Reproduktion sind gefährlich für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Möchten wir die Teilung auch in den Köpfen überwinden, dürfen wir einen Teil Deutschlands nicht auf Rechtspopulismus reduzieren. Stattdessen müssen wir den Menschen zuhören, ihre Lebensleistung und ihr Leid anerkennen – allerdings ohne Rassismus zu legitimieren.

Diffamierende Sprache

Es fängt bereits mit der Begriffswahl an: Wie lange wollen wir eigentlich noch von den "neuen Bundesländern" reden? Wir gehen auf 30 Jahre Wiedervereinigung zu. Mit dieser Wortwahl wird immerfort Andersartigkeit suggeriert und bewusst oder unbewusst eine Stigmatisierung befeuert.

Das gilt auch für die demonstrative Benennung "Ostdeutschlands" mit Betonung auf "Ost". Der Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje meinte auf "Zeit Online", niemand würde davon sprechen, dass "der Westen" wählt, wenn es mal in Hessen, Rheinland-Pfalz und NRW gleichzeitig Landtagswahlen geben würde, indes lese man dieser Tage überall: "Der Osten wählt". Hillje erklärt das unter anderem damit, dass der mediale Blick ein Fremdblick sei, da die wichtigsten Redaktionen allesamt im Westen sitzen.

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Doch damit nicht genug. Selbst die pejorative Bezeichnung "Ossi" erfährt wieder neuen Auftrieb. Die aktuelle Ausgabe des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" titelt: "So isser, der Ossi" und zeigt dabei den schwarz-rot-goldenen Schlapphut des Dresdner "Hutbürgers". Mal wieder "Der Spiegel" mag man denken, der in den vergangenen Jahrzehnten schon so oft diffamierende Titel aufgelegt hat – ich denke da natürlich an "Gettos in Deutschland: Eine Million Türken" sowie die zugehörige Titelgeschichte "Die Türken kommen – rette sich, wer kann" oder an "Mekka Deutschland – Die stille Islamisierung"…

Kein Interesse seitens der Politik

Möglicherweise war es naiv oder unaufmerksam, aber ich nahm an, das Wessi-Ossi-Denken der 90er-Jahre sei längst passé; insgeheim setze ich darauf, dass das zumindest für meine Altersgruppe und die jüngeren Generationen gilt. Jedenfalls frage ich mich, wenn ich jemanden kennen lerne, längst nicht mehr, aus welchem Teil Deutschlands die Person kommt.

Wer in Sachsen oder Brandenburg lebt, ist mit Abwanderung konfrontiert. Jüngere Menschen kehren ländlichen Räumen den Rücken und ziehen in die Städte, die Älteren bleiben zurück. Und die Werbung lehrt uns: Relevant ist vor allem die Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen. Das sehen viele Politiker ähnlich, weshalb sie kein Interesse an Orten wie dem Landkreis Prignitz oder dem Erzgebirgskreis haben. Dort wird nicht investiert. Nicht in Verkehr. Nicht in kulturelle Infrastruktur. Nicht in Gesundheitsversorgung. Nicht in Arbeitsplätze.

Viele Gemeinden haben seit Jahren keine Spitzenpolitiker mehr gesehen. Das höchste der Gefühle ist die Einführung von Apps anstelle von Sprechstunden beim Arzt oder Einkaufen im Supermarkt. Solche Anwendungen sind nicht nur ungewohnt, kompliziert und störanfällig, sofern überhaupt ein Mobilempfang gegeben ist, sondern sie sind vor allem eines: unpersönlich. Ohne Menschlichkeit lässt sich eine Gesellschaft nicht gestalten. Die Fixierung auf Effektivität und Wirtschaftlichkeit mag Homo oeconomicus zufrieden stellen, Otto Normalverbraucher gewiss nicht.

"Dann wähle ich eben rechts"

Öffentliche Aufmerksamkeit bekommen die sogenannten abgehängten Regionen meist nur, wenn es um Rassismus geht. Wer kannte im Westen schon Freital, Heidenau oder Köthen, bevor es dort zu rechtsextremen Exzessen kam?

Am Sonntag werden Rechtspopulisten Erfolge einfahren, so viel ist klar. Ob sie so groß ausfallen, wie von ihnen gewünscht, bleibt abzuwarten. Doch wie dem auch sei, rund drei Viertel respektive 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger werden an diesem Sonntag nicht rechtspopulistisch wählen, die Grüne dürften ihre Ergebnisse mutmaßlich verdoppeln. Doch diese breite Mehrheit der Menschen wird schon am Wahlabend weniger Aufmerksamkeit bekommen, als es ihnen in Relation zustehen müsste.

Wie müssen sich da erst Menschen fühlen, die an Ort und Stelle tagtäglich den Kampf gegen rechts führen? Eine Lehrerin berichtete kürzlich in einer ZDF-Reportage eindrücklich ihr Bemühen um Widerstand gegen Rechtspopulisten und zugleich ihren Frust angesichts der andauernden Vorurteile über "den Osten". Ihre Schilderungen gipfelten in der Aussage, manchmal überfalle sie ein Gedanke, der sie selbst erschrecke: "Wenn uns sowieso alle für rechts halten, dann wähle ich eben rechts. Ihr könnt mich mal."
Solche Trotzreaktionen sind das Ergebnis von Ausgrenzungs- und Diffamierungsprozessen, die aus vielen anderen Kontexten bekannt sind.

Die verlorene Generation

Auch wenn das keine Rechtfertigung dafür sein kann, tatsächlich sein Kreuz bei Rechtsradikalen zu machen, ist dieses Verhalten auf emotionaler Ebene durchaus nachvollziehbar. Es zeigt zweierlei: Erstens sind tatsächlich nicht alle Rechtswähler überzeugt von völkischen, rassistischen und rechtsextremen Gedanken. Zweitens müssen die Parteien, die die Stimmen der 75-Prozent-Mehrheit auf sich vereinen, mehr tun in Sachsen oder Brandenburg. Ihre Politikerinnen und Politiker müssen präsenter sein. Auffällig ist an dieser Stelle übrigens das Engagement des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer. Ob als Grillmeister oder auf Podiumsdiskussionen – der 44-jährige CDU-Politiker scheint hier seit Längerem schon einiges richtig zu machen.


Kretschmer hört zu, wenn Menschen klagen, man würde sie nicht ernst nehmen, verspotten, zu Unrecht als Nazis beschimpfen oder man würde ihre Lebensleistungen nicht anerkennen. Man muss sich das vorstellen: Plötzlich wird einem die komplette Basis unter den Füßen weggezogen. Als die DDR unterging, fielen nicht nur die schlimmen Seiten einer Diktatur, sondern auch die schönen des Alltagslebens. Jüngere können sich leichter drauf einstellen, Senioren kann es egal sein. Aber was macht jemand, der voll im Berufsleben stand, seine Lebenserfahrungen und das Gelernte gerade voll ausspielen könnte, und dann wird nicht nur der eigene Betrieb einfach dicht gemacht, sondern auch gleich alle anderen in der Umgebung? Zu alt zum Umschulen, zu jung für die Rente. Die Familie steht mitten im Leben, ein Umzug kaum realisierbar. Es ist hier eine Art verlorene Generation entstanden, und gerade die Jahrgänge um 1960/1970 herum sind es, die derzeit so lautstark aufbegehren.

Eine Geschichte von Kränkungen

Nicht einmal die unglaubliche Leistung ihrer friedlichen Revolution wird ausreichend gewürdigt. Es war ja weniger eine Vereinigung, als eine Absorption der DDR durch die Bundesrepublik. Nicht das mutige Aufbegehren der DDR-Bürgerinnen und Bürger, das gut und gerne in einem Massaker wie auf dem Platz des Himmlischen Friedens nur vier Monate zuvor hätte enden können, wird offiziell gewürdigt, sondern der Verwaltungsakt des Inkrafttretens des Einigungsvertrags am 3. Oktober 1990. Wer außer den Betroffenen selbst erinnert sich noch an die brisanten Tage im Oktober 1989 zwischen Hoffen und Bangen, ob die Nationale Volksarmee still hält oder nicht?

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Die Erzählungen der Ostdeutschen erinnern mich an Erzählungen von Gastarbeitern in der BRD. In Bergwerken, Eisen- und Stahlhütten, bei der Müllabfuhr trugen sie maßgeblich zum wirtschaftlichen Wohlstand Deutschlands bei, doch in ihrer Lebensleistung fühlen sie sich nicht wertgeschätzt – im Gegenteil: ihre Geschichte ist an vielen Stellen eine Geschichte der Kränkungen.


Man möge mich nicht nicht falsch verstehen, es geht mir weder darum, Verständnis für Rassisten zu schaffen, noch Larmoyanz zu legitimieren. Jeder sollte sich nach seinen Möglichkeiten zunächst an die eigenen Nase fassen, Realitäten akzeptieren und einen angemessenen Umgang damit für sich suchen. Aber wir anderen können den Menschen zu erkennen geben, dass wir ihren Frust und ihr Leid verstanden haben und die Ungerechtigkeiten ihnen gegenüber ausdrücklich anerkennen.

Egal, wie die Wahlen am Sonntag ausgehen, wenn die Aufmerksamkeit für die Menschen in Sachsen, Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern den Prozess des besseren Verstehens vorantreibt, dann haben wir vieles erreicht.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr neues Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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