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Schärfere Gesetze für Kindesmissbrauch: Sprengt endlich das Schweigekartell!


Sexueller Kindesmissbrauch
Sprengt endlich das Schweigekartell!

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

02.07.2020Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Ein Mädchen weint (Symbolfoto): Es fällt schwer, sich mit dem Thema Kindesmissbrauch auseinanderzusetzen. Doch wir sind es den Opfern schuldig.Vergrößern des Bildes
Ein Mädchen weint (Symbolfoto): Es fällt schwer, sich mit dem Thema Kindesmissbrauch auseinanderzusetzen. Doch wir sind es den Opfern schuldig. (Quelle: Montage: t-online.de/imago-images-bilder)

Justizministerin Lambrecht hat schärfere Gesetze gegen sexuellen Missbrauch von Kindern erarbeitet. Doch das reicht längst nicht. Denn es ist schwer, überhaupt von Kinderschändung zu erfahren. Und genau das ist das Problem.

Es gibt wenig öffentliche Themen, die mich emotional überfordern und bei denen ich Ekel, Widerwillen, Wut und Trauer zugleich empfinde, kurz meine Gefühle ins Chaos abgleiten. Seit Längerem überlege ich, etwas über die jüngsten Fälle von Kindesmissbrauch in Münster, Bergisch Gladbach, Berlin, Lüchte niederzuschreiben, um meine Haltung gegen diese abscheuliche Gewalt öffentlich kund zu tun. Aber jeder Gedanke daran erzeugt eine innere Abwehrhaltung, und so gehen mir die Sätze nur schwer von der Hand.

Ähnlich verstörende Emotionen wie bei der sexualisierten Gewalt gegen Kinder kenne ich nur vom Tod geliebter Menschen, die durch grausame Umstände wie Krieg und Gewalt zu Tode kamen oder erst nach langem Leiden gestorben sind. Für eine gewisse Zeit ist man nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen und auszusprechen. Zu tief sitzt der Schmerz. Zu stark ist der Wunsch nach Verdrängung.

Das Strafrecht soll verschärft werden – endlich

Bei den Informationen zu "Kindesmissbrauch" (Was für ein unpassendes Wort, als könne man Kinder ansonsten korrekt gebrauchen?!) ist es ähnlich. Eigentlich will ich die Informationen dazu gar nicht lesen und erfassen. Lieber aus den Augen, aus dem Sinn. Das ist besser für mein Gemüt. Dann habe ich es doch getan, weil man sich einfach stärker damit auseinandersetzen muss, wie entsetzlich schutzlos so viele unserer Kinder Pädophilen und Kriminellen ausgesetzt sind, um das Leid unserer noch wehrlosen Zukunft zu stoppen. Und das müssen wir endlich, endlich schaffen.

Die EU will gemeinsam gegen "Kindesmissbrauch" vorgehen. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hat gestern eine Verschärfung der Strafgesetze angekündigt , nachdem sie sich unverständlicher Weise zunächst geweigert hatte und weiterhin von "Vergehen" statt von "Verbrechen" ausgehen wollte. Die Gesetzesverschärfungen sind richtig. Doch sie reichen bei weitem nicht aus, um diese Geißel unserer Gesellschaft in den Griff zu kriegen.

Die Zahl der polizeilichen Ermittler und Ermittlerinnen wurde bereits vielerorts erhöht und sie muss weiter ausgebaut werden. Doch auch das reicht nicht aus. Letztlich hängt es an uns allen und an der Frage: Wieso hören immer noch zu viele Menschen weg oder wenden ihren Blick angewidert ab, wenn Kindern solch Schreckliches angetan wird?

Mir wird schlecht, wenn ich lese, seit Beginn der Corona-Krise habe sich die Nachfrage nach Material zu sexuellem Kindesmissbrauch laut der zuständigen EU-Innenkommissarin Ylva Johansson in einigen Mitgliedsländern um bis zu 30 Prozent erhöht. Unfassbar grausam ist es, begreifen zu müssen, dass die Ermittler im Missbrauchskomplex von Bergisch Gladbach auf insgesamt mehr als 30.000 Spuren (!) gestoßen sind, die zu Verdächtigen führen können.

Was bitte ist das für eine monströse Zahl? Über WhatsApp und andere Dienste sollen sie über ihre Untaten gesprochen, sich gegenseitig motiviert und sogar Tipps gegeben haben, mit welchen Mitteln sich Kinder am besten ruhigstellen ließen, damit sie sie vergewaltigen und sexuell misshandeln können. Niemand hat davon etwas mitbekommen? Niemand hat die Polizei eingeschaltet? Wie kann das sein? Was ist das für eine Gesellschaft, in der wir leben? Sexueller Missbrauch sei für ihn wie Mord, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Und genauso ist es. "Kindesmissbrauch" ist wie ein Mord an absolut unschuldigen, kleinen Seelen. Ihr unbeschwertes Leben wird ihnen auf schlimmste Art und Weise genommen.

Der gesellschaftliche Druck muss erhöht werden

Keine noch so schlimme Krankheit, keine noch so schlimmen Erfahrungen in der eigenen Kindheit können es rechtfertigen, einem arglosen Wesen so etwas anzutun. Potenzielle Täter, die pädophiles Verlangen auch nur ansatzweise spüren und Erregung bei "Kinderpornographie" empfinden (Noch so ein unpassendes Wort, als gebe es legitime Sexualität mit Kindern, die man zur Schau stellen könne!), müssen sich in Therapie begeben. Es gibt Wege, dies heimlich zu tun.

Auf diejenigen, die selbst zum Verbrechen schreiten und/oder sich an verbrecherischen Missbrauchsdarstellungen ergötzen, muss indessen neben dem strafrechtlichen der gesellschaftliche Druck deutlich erhöht werden. Das bedeutet, wir müssen unser Schweigekartell sprengen. Wir müssen uns über sexualisierte Gewalt gegen Kinder informieren und uns darüber austauschen – privat und in der Öffentlichkeit.


Auch in meinem Umfeld schütteln viele den Kopf, zeigen rigides Unverständnis und schweigen dann. Und verdrängen. Schwere Straftaten blenden sie am liebsten aus wie einen beängstigenden Skandinavien-Krimi nach einem Filmabend, weil sie sich weigern wollen, in solch einer Realität zu leben. Man will es nicht wahrhaben, dass so etwas im eigenen Umfeld ebenfalls passieren könnte. Mit dieser Sprachlosigkeit muss Schluss sein.

40 Kinder werden Opfer – jeden Tag

Statistisch gesehen wurden im Jahre 2018 40 Kinder am Tag (!) Opfer sexueller Gewalt. Die Dunkelziffer dürfte noch viel höher sein. Die Autorin Ursula Schele formuliert, dass im Schnitt ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse Missbrauchsopfer sind. Hinzu kommen die Berichte über Netzwerke, die jahrelang unbemerkt agieren konnten und Personen, die von Jugendämtern Pflegekinder zugesprochen bekamen. Das Netzwerk der Unterstützer, der Leugner, der Mitwissenden und der Unwissenden ist riesig, auch das in den Behörden und Institutionen.

In einem Missbrauchsskandal in Berlin konnte der inzwischen verstorbene Fritz H. als Pflegevater jahrzehntelang Kindern sexuelle Gewalt antun und sich daran befriedigen. Niemand hinderte ihn. Niemand bemerkte angeblich irgendwas. Nichts war Grund genug, um ihm die Kinder zu entziehen.

Zwei der Opfer, "Marco" und "Sven", klagen derzeit gegen das Land Berlin. Eine Hildesheimer Forschungsgruppe stellte auf Grundlage ihrer Aussagen weitere Untersuchungen zu den Straftaten an und verfasste ein Gutachten. Über ein Jahr untersuchten sie Akten, die der Senatsbildungsverwaltung schon immer vorgelegen hatten.

Es kann nicht sein, dass niemand etwas weiß

Das sind unerträgliche Zustände, die nach sehr viel mehr Aufmerksamkeit und Aufklärung schreien, und einen zu der furchtbaren Erkenntnis leiten: Es muss Menschen geben, die davon wissen und schweigen. Es kann nicht sein, dass so viele Kinder täglich missbraucht werden und niemand etwas davon geahnt oder gewusst hat.

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Wie oft erinnern sich Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Jugendamts-Mitarbeiter nachher, dass sich ein Kind ja wirklich plötzlich komisch verhalten habe – sehr in sich gekehrt oder besonders aggressiv –, dass schulische Leistungen nachließen oder es oft verängstigt und völlig übermüdet gewesen sei? Wie oft liest man von Müttern und Vätern, Brüdern und Schwestern, Eltern und Freunden der Täter und auch der Täterinnen, die später bereuen, nichts gesagt und getan zu haben? Wie oft hört man Menschen im Nachhinein sagen, sie hätten schon immer geahnt, dass er oder sie komisch im Beisein von Kindern gewesen sei?

Alle sollten sich angesprochen fühlen

Nicht nur die Strafen für Täterinnen und Täter müssen verschärft werden, auch eine nachgewiesene Mitwisserschaft hart zu bestrafen, ist unerlässlich. Dazu ist es allerdings erforderlich, die Strukturen auszubauen oder zu schaffen, in denen man anonym Verdachtsfälle zur Anzeige bringen kann. Gleichzeitig müssen diese Strukturen Mechanismen beinhalten, die Menschen vor falschen Verdächtigungen schützen – auch das gibt es bekanntlich.

So wie öffentlicher Druck nötig war, um Ministerin Lambrecht zum Handeln zu bewegen, ist öffentlicher Druck nötig, um einen Mentalitätswandel in der Gesellschaft zu forcieren. Diesen Druck können wir nur ausüben, wenn wir den Mut und die Kraft aufbringen, uns dem Thema zu stellen und die erschütternden Verbrechen vor unserer Nase offen und laut anzusprechen. Die inzwischen regelmäßige und hartnäckige Thematisierung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder in den Medien sorgt bereits für die dafür nötige Verunsicherung.

Auch mich hat sie gezwungen, sich – wieder einmal – mit dem Thema auseinanderzusetzen. Denn wie jeder fürsorgliche Mensch will ich nicht, dass Kinder Kontakt zu vorbestraften Sexualstraftätern haben oder auch nur von solchen Menschen beobachtet werden. Das Thema "Kindesmissbrauch" massiv an die Öffentlichkeit zu zerren, kann somit ein wichtiger Schritt sein: Alle Journalistinnen und Journalisten, Politikerinnen und Politiker, Behörden, Vereine, Schulen sollten sich hier angesprochen fühlen.

Ähnlich wie wir es inzwischen aus der Antirassismusarbeit kennen, sollten wir dabei Betroffene sprechen lassen (wenn sie können und mögen). Wir sollten ihnen mehr zuhören und fragen, wie wir als Gesellschaft besser reagieren können. Worauf wir achten sollten und wie wir Opfer sexueller Gewalt besser auffangen und unterstützen. "Marco" und "Sven" beschreiben ihren vielleicht wichtigsten Rat so: "Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter."

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